Warum ich (trotz allem) für den ver.di-Bundesvorstand kandidiere

Aus der Krise in die Offensive

Orhan Akman

Machen wir uns nichts vor: Wer will, dass unsere Gewerkschaften so bleiben, wie sie sind, will nicht, dass sie bleiben. Daran ändern auch die Erfolgsmeldungen im ersten Quartal 2023 über 70.000 neue Mitglieder in ver.di wenig. Zumal zehntausende von Austritten im selben Zeitraum vom ver.di-Bundesvorstand verschwiegen werden. Wenn wir unsere Gewerkschaften für das erhalten und weiterentwickeln wollen, für das sie vor rund 150 Jahren gegründet worden sind, ist es Zeit für eine schonungslose Bestandsaufnahme. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir uns wieder auf den Charakter der Gewerkschaften als Kampforganisationen der arbeitenden Menschen besinnen, um wieder an Stärke zu gewinnen, oder schweigen wir die Krise weiter tot und bekämpfen nur die Symptome?

Deshalb habe ich vor nunmehr rund einem Jahr angekündigt, für den ver.di-Bundesvorstand zu kandidieren. Mir ist klar, dass ich unbequem bin – aber das habe ich in meiner bisherigen Gewerkschaftsarbeit für meine Aufgabe gehalten. Als gebürtiger Kurde stamme ich aus einer Familie, die einst aus der Türkei nach Deutschland kam, als hierzulande Arbeitskräfte gesucht wurden. Sie riefen „Gastarbeiter“, aber es kamen Menschen – und viele blieben hier. Auch für meine Familie und mich ist Deutschland mittlerweile unsere Heimat geworden. Das lief nicht ohne Widerstände ab, und so habe ich früh gelernt, was es heißt, um Anerkennung zu kämpfen und kollektiv mit den Kolleginnen und Kollegen für seine Rechte einzustehen. In meiner Familie war es selbstverständlich, in der Gewerkschaft zu sein.

Seit über 22 Jahren bin ich inzwischen hauptamtlich für unsere Organisationen tätig. Beim Fleischereimulti Tönnies habe ich damals mit der NGG den ersten Versuch einer Betriebsratsgründung gewagt und organisiert. Nach zwölf Jahren als politischer Gewerkschaftssekretär im ver.di-Bezirk München-Rosenheim habe ich danach mehrere Jahre in Südamerika für unseren internationalen Dachverband UNI Global Union den Aufbau von Gewerkschaften vorangetrieben. Mir ist es wichtig, die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung zu stärken. Deshalb bereitet mir die Lage unserer Organisationen heute große Sorge.

Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass die Gewerkschaften in einer Krise stecken. Wenn wir seit der Gründung von ver.di rund eine Million Mitglieder verloren haben, dann greift es zu kurz, auf konjunkturelle Erscheinungen oder die Pandemie zu verweisen. Wir verlieren zunehmend an Durchsetzungsstärke, gerade in der Tarifpolitik, und könnten schon bald in einen Strudel Richtung Bedeutungslosigkeit geraten, wenn wir nicht schnell das Ruder herumreißen.
Ein Grund dafür ist, dass unseren führenden Köpfen offenkundig die Orientierung abhanden gekommen ist. Geklüngel mit SPD, Grünen und Co. ist kein Ersatz für die Entwicklung unabhängiger und entschlossen vertretener Positionen. Wir verzetteln uns in Abwehrkämpfen und vergessen dabei, wofür wir eigentlich streiten müssten: Gegen die Ausbeutung und für gute Arbeitskonditionen.

ver.di und der DGB haben die jüngsten Angriffe auf das Streikrecht lautstark zurückgewiesen. Das ist richtig und wichtig. Aber warum bleiben wir dabei stehen? Das Streikrecht in Deutschland gehört zu den restriktivsten in Europa – Arbeitskämpfe sind nach der Rechtsprechung der Herrschenden nur dann zulässig, wenn sie im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen geführt werden und die zuständige Gewerkschaft dazu aufruft. Alles, was über diesen engen Rahmen hinausgeht, gilt als „wilder Streik“ und wird als „illegal“ kriminalisiert. Der Streik der Lkw-Fahrer auf der Raststätte Gräfenhausen war nach deutschem Recht ja ebenso nicht legal. Die Arbeitsniederlegungen der „Gorillas-Riders“ in Berlin führten zur Entlassung der Beschäftigten. Proteste gegen Schweinereien der Regierung wie in Frankreich sind in Deutschland als „politische Streiks“ untersagt. Selbst wenn ver.di während der Tarifrunden Streiks mit den Aktionen von „Fridays for Future“ verbindet, wird die Legitimität dieser gemeinsamen Demonstrationen in Zweifel gezogen.

Warum ergreifen wir nicht die Flucht nach vorn und setzen endlich die Beschlüsse mehrerer Gewerkschaftstage – etwa von 2011 und 2019 – um, die den politischen Streik bis hin zum Generalstreik gefordert haben? Bisher haben sich alle Bundesvorstände über diese klaren Willensbekundungen der Mitgliedschaft hinweggesetzt. Warum eigentlich!? Hat etwa der ver.di-Bundesvorstand Angst davor, dass unsere Basis deutlich aktions- und kampffreudiger ist, als er es wahrhaben und vielleicht auch zulassen will?

Nur wenn wir mit neuen, klaren Konzepten an die Öffentlichkeit und zu den Menschen in den Betrieben und Dienststellen gehen, werden wir sie von uns überzeugen können. Wir müssen wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen und mit unserem Fokus auf die Betriebe verlorene Stärke zurückgewinnen. Wir sind gut beraten, unsere Gewerkschaft von den Betrieben sowie Dienststellen und somit aus der Sicht der Mitglieder aus zu denken und aufzustellen. Dazu gehört, dass wir die jüngsten Tarifergebnisse, unter anderem bei der Post und im öffentlichen Dienst, offen diskutieren und kritisch auswerten. Mit einem Schönreden ist niemandem gedient.

Deshalb geht es bei der laufenden Auseinandersetzung nicht um meine Person. Mit den arbeitsrechtlichen Maßnahmen gegen mich – Kündigungen, Versetzungen, Abmahnungen und so weiter – versucht die gegenwärtige ver.di-Spitze vor allem, eine inhaltliche notwendige Diskussion zu verhindern. Während im Fachbereich Handel seit Jahren mehrere Stellen unbesetzt sind – obwohl es Bewerberinnen und Bewerber gab –, soll ich irgendwohin zwangsversetzt werden, anstelle mich meine Arbeit dort weitermachen zu lassen.

Natürlich kostet die Auseinandersetzung Kraft – mich persönlich und viele Kolleginnen und Kollegen auch. Aber ich werde nicht klein beigeben, denn es geht um die Zukunft unserer Gewerkschaft. Deshalb habe ich gegenüber dem Gewerkschaftsrat angekündigt, mich weiterhin auf dem Bundeskongress im September für ein Mandat im Bundesvorstand zu bewerben.

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"Aus der Krise in die Offensive", UZ vom 12. Mai 2023



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