Sozialismus im Weltallmaßstab: Dietmar Daths „Neptunation“

Unmutterkomplex

Naturgesetze, Alter!“ ist der Alternativtitel des Romans „Neptunation“ von Dietmar Dath. Der Roman, obwohl im Oktober erschienen, ist jetzt schon nicht mehr sein aktuellstes Werk, hat er doch bereits mit „Niegeschichte“ (erschienen bei Matthes & Seitz) eine fast tausendseitige Poetologie der Science-Fiction und mit „Du bist mir gleich“ (Golden Press) jüngst einen weiteren Roman veröffentlicht.

Die Handlung der Space Opera, ohne die barock-szientistischen Bögen, die der FAZ-Redakteur für Film bekanntlich schlägt, ist folgender: Kurz vor Betriebsschluss entsenden die Realsozialisten aus der Sowjetunion und der DDR 1989 eine bemannte Mission ins Weltall. Die Mission gründet unter erschwerten Bedingungen eine Asteroidenkolonie, in der sie auf kleinkarierte Moralismen pfeifen und sich die Körper mittels menschengemachter Technik optimieren. Den „Dysoniki“ ist jedoch nichts Marxistisches fremd und so gibt es auch dort Fraktionsstreit und eine Abspaltung, nämlich den DDR-Anteil der Mission, der gen Neptun in Richtung Rand des Sonnensystems weiterzieht. Knappe dreißig Jahre später macht sich eine bundesdeutsch-chinesische Expedition auf deren Fährte. Ziel: die Entschlüsselung einer Geheimbotschaft und nebenher das Ausloten dessen, was im Titel und in den Köpfen materialistisch denkender Vernunftwesen eigentlich total manifest klingt, der Naturgesetze.

Mit auf der Reise sind nicht nur ein Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan mit Ach und Krach den Angriff extraterrestrischer Messermonster überlebt hat, ein ödipal-verkorkster US-amerikanisch-deutscher Linguist mit fundamentalchristlichem Kindheitstrauma, das wohl letzte monogam lebende Pärchen der westlichen Hemisphäre und Figuren, die bei Dath entweder seit eh und je auftauchen (Cordula Späth) oder noch aus seinem 2017er Roman „Der Schnitt durch die Sonne“ (S. Fischer) bekannt sein könnten.

Dass Dath statt seiner bisher 40 Romane lieber 80 geschrieben hätte, wie er im Gespräch zu „Niegeschichte“ gestand, merkt man auch diesem Werk an. Es ist übervoll mit Ideen, kaum eine natur- und kulturwissenschaftliche Disziplin bleibt unberücksichtigt. Selbst Filmkritik fließt ein, wenn sich an Bord der „Podkayne Fries“ (nach einer Heldin aus einem Robert A.-Heinlein-Roman), dem zivilen Teil der Mission unter Cordula Späth, auf drittel Strecke ein cineastisch-ästhetischer Diskussionszirkel gründet.

Auch politisch zeigt „Neptunation“ nicht nur reale Bezüge, sondern bespricht sie auch, seitenlang dia-, oft auch monologisch. Hat sich Dath noch in „Venus siegt“ ziemlich offensichtlich aus dem Buch von Domenico Losurdo über Josef Stalin bedient, hat Dath in seiner Betrachtung des Charakters der Volksrepublik China das Buch von Losurdo „Der Klassenkampf oder Die Wiederkehr des Verdrängten?“ im Sinn gehabt, eines der letzten Werke des italienischen Philosophen, der „manchmal spinnt und manchmal nicht“, wie es in „Neptunation“ heißt.

Aber auch zur Causa China bleibt die Diskussion darum nicht aus, müssen doch die Kosmobolschewiken der Dysoniki einschätzen, wer sie da auf Durchreise besuchen kommt: „Chinesen. Du weißt, ihre Rolle auf dem Weg des Weltsozialismus ist widersprüchlich. Sie haben durchgehalten, als bei uns der Verrat stattfand, aber sie verfolgen einen eigentümlichen Kurs – erst ganz lange ganz weit nach links, dann ganz lange ganz weit nach rechts, dann der nächste Schwenk. Große Strecken, lange Märsche. Bemerkenswerte Nation.“

Daths Science-Fiction ist auch in „Neptunation“ eine menschenzentrierte. Denn auch wenn es nichts gibt, das sich weniger um uns schert als das unmütterliche Weltall, heißt das gerade durch Erkennen dieser Tatsache nicht, dass Handeln nicht lohnt. Als die Späth-Mission von einem irren linksradikalen Dysonik angegriffen wird und daraufhin Trümmer die „Podkayne Fries“ unweigerlich treffen werden, stellt Späth klar: „Leute in den Rumpf, Leute ins Heck, Leute nach Backbord und Steuerbord, Leute in Reifen, Leute in Korridoren, Leute auf die Brücke und Leute in die Schleusen. Wir können nichts daran ändern, dass wir uns auf der anderen Seite dieser Scheiße nicht alle wiedersehen werden. Wir können nur dafür sorgen, dass wir von jeder Sorte Leute auch danach genug haben, um die Reise fortzusetzen.“

Hier sind Daths Figuren stark, wenn sie zu AnwenderInnen ihrer Ideen werden, wenn aus ihrem Erkennen ihr Handeln entspringt.


Dietmar Dath
Neptunation
Oder: Naturgesetze, Alter!
Fischer Tor, Frankfurt a. M. 2019
699 Seiten, 16,99 Euro
(eBook: 14,99 Euro)

Dietmar Dath
Niegeschichte
Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine
Verlag Matthes & Seitz, 2019, 942 Seiten, geb., 38,- Euro

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Unmutterkomplex", UZ vom 10. Januar 2020



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