Beim Bundeskongress in Leipzig geht es um Zukunftsfragen, die naheliegen

ver.di sucht Stärke in der Vielfalt

Von Lars Mörking

Es klingt beliebig wie ein Wahlplakat, das Motto des Bundeskongresses der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di): „Stärke, Vielfalt, Zukunft“. Zumindest an Vielfalt mangelt es ver.di nicht, wie diese Woche in Leipzig deutlich wurde. Über 1 000 Berufsgruppen werden durch die Delegierten vertreten, vom Banken- und Versicherungsgewerbe über den Energiebereich, den Einzel- und Großhandel, Gesundheitswesen, usw. ver.di hat den Anspruch, die Interessen der Ärztin wie des Krankenpflegers zu vertreten und steht dabei in Konkurrenz zu so mancher berufsständischen Organisation, die die Stärke der einzelnen Berufsgruppe der Vielfalt verschieden starker Bereiche vorzieht.

In der Öffentlichkeit wird ver.di bereits als die streikfreudigste unter den DGB-Gewerkschaften wahrgenommen. ver.di-Chef Bsirske untermauerte dies mit Zahlen: 1,5 Millionen Streiktage habe allein ver.di zwischen Januar und Juni 2015 auf der Rechnung. „Noch nie, Kolleginnen und Kollegen, ist unsere Gewerkschaft in einem solchen Ausmaß gefordert gewesen wie 2015“, sagte Bsirske in seinem Rechenschaftsbericht.

ver.di hat es mit einer zunehmenden Aggressivität der „Arbeitgeber“ zu tun – und reagiert darauf mit zunehmender Konfliktbereitschaft. Arbeitskämpfe wie bei der Post zeigen, dass ihnen kein Mittel zu schäbig ist, um Kapitalinteressen durchzusetzen und enorme Gewinnsteigerungen auf Kosten der Beschäftigten durchzusetzen.

Aber gerade in diesen harten Auseinandersetzungen konnte ver.di in diesem Jahr Mitglieder gewinnen: So sind im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste 27 000 neue Mitglieder gewonnen worden, viele im Laufe der Warnstreikwellen und vor allem des durchgängigen, vierwöchigen Streiks. Gerade in diesem Bereich wird es vom weiteren Verlauf der Tarifauseinandersetzung abhängen, wieviele davon in der Gewerkschaft bleiben, sich ggf. auch dauerhaft aktiv einbringen und ob vielleicht sogar neue Kolleginnen und Kollegen dazugewonnen werden können. Schon in der Aussprache zum Rechenschaftsbericht war klar: es gibt ein starkes Bedürfnis nach Auswertung der vergangenen Arbeitskämpfe, die trotz der Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben.

Der Streik bei der Post, der Kampf um Personalbemessung nicht nur am Berliner Uniklinikum Charité und die noch laufende Auseinandersetzung bei den Sozial- und Erziehungsdiensten haben das Bild von ver.di nicht nur nach außen verändert. Auch die eigene Wahrnehmung der ver.di-Mitglieder hat sich verändert. Dies wird Konsequenzen haben, auch und vor allem bei der Frage der innergewerkschaftlichen Demokratie. Die Frage, wer wann und wie darüber entscheidet, wie ein Arbeitskampf geführt und ob ein Verhandlungsergebnis angenommen wird, ist mit Streikdelegiertenkonferenzen und Mitgliederbefragungen bereits auf den Weg zu einer praktischen Antwort gebracht worden.

Da ver.di sich aber mit dem nur alle vier oder fünf Jahre stattfindenden Bundeskongress auch zu Themen wie TTIP, der Finanzierung öffentlicher Daseinsvorsorge, dem Tarifeinheitsgesetz, Personalbemessung, der eigenen Organisationsstruktur, der Mitgliederwerbung positioniert und gleichzeitig auch die Bereiche vertreten sein wollen, die bisher nicht die Stärke haben, Abwehrkämpfe offensiv zu führen oder gar erfolgte negative Entwicklungen wie die abnehmende Tarifbindung umzukehren.

Wie ver.di die existierende Vielfalt der Berufs- und Lohngruppen, der unterschiedlichen Stärken, der festangestellten und befristeten, der stark und schwach organisierten Bereiche, der bei kirchlichen Unternehmen beschäftigten und des riesigen Bereiches Scheinselbsständige und der Zeit- und Leiharbeit nicht nur abbilden, sondern zu einer Stärke im gemeinsamen Kampf für die Interessen aller Beschäftigten machen will, dafür wird es noch keine Antwort auf diesem Kongress geben. Das werden die Kolleginnen und Kollegen in ihren Gewerkschaftsstrukturen und in den anstehenden Tarifauseinandersetzungen immer wieder konkret beantworten müssen, mit tatkräftiger Unterstützung der Delegierten des Bundeskongresses.

Mit der Fortsetzung der Tarifauseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst, für die auf dem Bundeskongress auch eine Fortsetzung der Streiks ab Mitte Oktober angekündigt wurde, stellt sich die Aufgabe der Unterstützung durch die gesamte Gewerkschaft gleich konkret. Eine Gelegenheit, in naher Zukunft Stärke zu zeigen.

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Über den Autor

Lars Mörking (Jahrgang 1977) ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete nach seinem Studium in Peking und war dort Mitarbeiter der Zeitschrift „China heute“.

Mörking arbeitet seit 2011 bei der UZ, zunächst als Redakteur für „Wirtschaft & Soziales“, anschließend als Verantwortlicher für „Internationale Politik“ und zuletzt – bis Anfang 2020 – als Chefredakteur.

 

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"ver.di sucht Stärke in der Vielfalt", UZ vom 25. September 2015



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