Deutschland, Sommer 1918

Vor einer revolutionären Krise

Von UZ

Im Sommer 1918 nahmen auch im deutschen Kaiserreich die Aktionen gegen den Krieg, gegen Unterdrückung und das Hungerregime wieder größere Ausmaße an. Immer mehr zeichnete sich ab, dass eine neue, eine revolutionäre Situation entstand.

Ende Januar, Anfang Februar war es der kaiserlichen Regierung mit Hilfe des Militärs und der rechten Führer der Mehrheitssozialdemokraten noch gelungen, einen großen Massenstreik (Januarstreiks) abzuwürgen. Die Herrschenden hatten auf die Streiks, die sich von Berlin auf das ganze Kaiserreich ausweiteten, mit Gewalt reagiert: Der Belagerungszustand wurde verhängt, es gab Massenverhaftungen, Kriegsgerichte verhängten harte Strafen. Täglich wurden 500 bis 600 Arbeiter zum Militärdienst einberufen. Verhaftungen linker USPD-Politiker, von Mitgliedern der Spartakusgruppe. darunter Leo Jogiches, Leiter der illegalen Organisation der Spartakusgruppe, und anderer folgten. Nicht wenige führend am Streik beteiligte Funktionäre wurden zu Zuchthaus, Gefängnis und Festungshaft verurteilt.

Eine gewisse Zeit wurde die politische Arbeit erschwert. Doch bald meldeten sich die Spartakusgruppe und andere Linke wieder zu Wort, orientierten auf den Kampf gegen den Krieg und den Sturz der herrschenden Ordnung. Die nach dem zeitweiligen Rückschlag bald wieder ansteigende Aktivität der revolutionären Kräfte in Deutschland, vornehmlich der Spartakusgruppe und der linken USPD, blieb den Staatsorganen nicht verborgen. Immer wieder finden sich in den staatlichen Akten aus jener Zeit Hinweise auf Gerüchte über geplante Streiks. (Vgl. Heinz Wohlgemuth: Die Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands 1914 bis 1918, Berlin 1967) Als von Kühlmann, Staatssekretär des Äußeren, am 24. Juni 1918 im Reichstag offen erklärte, dass der Krieg noch sehr lange dauern könne, übermittelte der im Zuchthaus eingekerkerte Karl Liebknecht in einem Brief an seine Frau Sophie am 6. Juli 1918: „Ausgehend von der Lage Mitte 1918 – so erwähnte Liebknecht die Wahlrechtsfrage, die Nahrungsnot, den neuen Winterfeldzug, die Kriegslage, die Ostvorgänge –, forderte er energische Aktionen, denn die Zeit werde langsam knapp, und es gelte, alles so schnell wie möglich und mit aller Kraft gegen den Hauptfeind zu tun. Spartakus sollte unter den zu Raub und Mordbrennerei im Osten gepressten Soldaten wie zu den Feldgrauen überall sprechen; besondere Aufmerksamkeit müsse der Arbeiterjugend gewidmet werden. In einem Flugblattentwurf, der in dem Schreiben enthalten ist, fragte Liebknecht: ‚Wozu kämpft ihr noch – wozu leidet ihr noch?’ (…) ‚Jagt eure Peiniger zum Teufel – die Fürsten, Generäle, Ausbeuter u. alles, was dazugehört.’“ (Vgl. H. Wohlgemuth, S. 242) In einem Schreiben des Ministers des Innern an den Reichskanzler vom 24. Juli 1918 wurde richtig betont, dass der linke Flügel der Sozialdemokratie (USPD, Spartakusgruppe und Internationale) den Gedanken einer revolutionären Erhebung nach russischem Muster erwäge.

Noch setzte man im Sommer 1918 auf militärische Erfolge an der Westfront wie auf den Erfolg der Unterdrückungsmaßnahmen. Doch die Unzufriedenheit wuchs. Zunehmend auch in den Mittelschichten und vor allem unter den armen und mittleren Bauern. Die Streikbewegung nahm wieder zu: Im Juni 1918 nahm die Streiks in den schlesischen Bergbau-, Eisenhütten- und Textilbetrieben einen größeren Umfang an. Im oberschlesischen Industriegebiet streikten vom 26. Juni bis 24. Juli deutsche und polnische Arbeiter gemeinsam für die Verbesserung der Lebensbedingungen, die Herabsetzung der Arbeitszeit und für die Beendigung des Krieges. Die Erzwäscherinnen der oberschlesischen Gruben streikten vom 1. Juli bis 7. September, für die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit. Und obgleich die Streiks von Truppen brutal unterdrückt wurden, erreichten die Arbeiter in einer Reihe von Betrieben eine Herabsetzung der Arbeitszeit und einige andere Verbesserungen. Vom 8. bis 11. Juli legten mehr als 15 000 Arbeiter der Textil-, Maschinenbau- und Rüstungsindustrie in Hirschberg, Landeshut und Sagan die Arbeit nieder. „Im Ruhrgebiet kam es vom Juni bis September 1918 zu mehr als 70 Streiks. Am 13. Juli streikten 35000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Maschinenfabrik Thyssen in Mülheim für die Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 53 Stunden. Ihrem Beispiel folgten die Arbeiter mehrerer Werke der Eisen- und Stahlindustrie in Duisburg, Oberhausen, Sterkrade und anderen Orten. Ende Juli und Anfang August streikten etwa 20000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Rüstungsindustrie im Gebiet von Remscheid und Wuppertal. Auch im Ruhrbergbau kam es zu größeren Arbeitsniederlegungen. Allein in Essen brachen vom 12. bis 20. August auf zahlreichen Zechen Streiks aus, an denen zeitweilig 12000 Bergarbeiter beteiligt waren. Ende August streikten etwa 12 500 Arbeiter aus 53 Betrieben in Hagen und Haspe. Im sächsischen Bergbaugebiet streikten vom 24. bis 28. Juli die Arbeiter aller Werke des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers für eine bessere Lebensmittelversorgung, höhere Löhne und die Beendigung des Krieges. Größere Streiks in Betrieben der Kriegsindustrie gab es auch in Berlin, Görlitz, Hamburg, Magdeburg, Mannheim, Saarbrücken, Torgau, Zeitz und anderen Orten. In Berlin und vielen anderen Städten kam es auf Wochenmärkten und vor Lebensmittelgeschäften zu Tumulten und Protestaktionen der Frauen, die sich häufig auch gegen herbeieilende Polizei zur Wehr setzten.“ (Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berin 1966, S. 66/67)

Den Herrschenden blieb, wie erwähnt, im Sommer noch die Hoffnung auf mögliche militärische Erfolge. Nur: Ende September 1918 stand Deutschland unmittelbar vor dem militärischen Zusammenbruch.

Aber es blieb auch noch die Hoffnung auf eine politische Kraft, die unter den Arbeitern und Soldaten über großen Einfluss verfügte: Die Führung der sogenannten Mehrheitssozialdemokraten. Die hatte sich als hilfreich erwiesen, als es darum ging, die Januarstreiks abzuwürgen. Der Aktionsausschuss der revolutionären Obleute, der gemeinsam mit der Spartakusgruppe zu den Januarstreiks aufgerufen hatten, war im Laufe der Streiktage unter Einfluss rechter Sozialdemokraten geraten. Er beschloss am 3. Februar 1918 den Kampf abzubrechen. Ende Mai 1918 legte der Parteivorstand der Mehrheits-SPD einen Entwurf eines Aktionsprogramms der Öffentlichkeit vor. Darin wurde versucht einen sogenannten dritten Weg zur Eroberung der Staatsmacht zu propagieren, eine Gesellschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Ende September 1918 erklärten sich Reichstagsfraktion und Parteiausschuss bereit in eine neue Regierung unter Max von Baden einzutreten. Zur Begründung dieser Entscheidung erklärte der damalige Parteivorsitzende Friedrich Ebert, eine Ablehnung durch die SPD würde bedeuten, das „weitere Schicksal Deutschlands der Partei der Revolution zu überlassen“, aber niemand könnte „doch der Meinung sein, dass solche Zustände wie in Russland bei uns wünschenswert sind. Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen“. („Vorwärts“, 24. September 1918)

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"Vor einer revolutionären Krise", UZ vom 21. September 2018



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