Der deutsche Kapitalismus in den Umbrüchen der Weltwirtschaft

Vor turbulenten Zeiten

Peter Wahl

Die aktuelle Ausgabe von „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“ beschäftigt sich mit der Krise des imperialistischen Systems, die seit 2008 schwelt. Unter der Überschrift „Transformationskrise“ widmet sich das Heft den unterschiedlichen Erscheinungen dieser Krise und ihrer Wechselverhältnisse. Wir drucken hier einen Auszug aus dem Beitrag von Peter Wahl ab, der sich mit den strategischen Herausforderungen für Kapital und Arbeit beschäftigt, die unter dem Stichwort „Klimawandel“ zusammengefasst werden. Wir danken Autor und Redaktion der „Z.“ für die Genehmigung zur Nutzung des Beitrags. Die komplette Version des Artikels mit Quellen ist abrufbar unter www.unsere-zeit.de.

Viele Exponenten des deutschen Kapitalismus in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit scheinen begriffen zu haben, dass sich die herrschende Produktionsweise das eigene Grab schaufelt, wenn es mit business as usual weitergeht. Das sagt noch nichts über praktische Konsequenzen, geschweige denn, dass das System als solches infrage gestellt würde. Denn selbstverständlich geht es dabei primär um seine Rettung, um die Hoffnung auf einen grünen Kapitalismus. Aber nach Jahrzehnten mit bloßer Rhetorik, Ankündigungen, halbherzigen Reformen und vermurkster Energiewende scheint jetzt doch eine neue Dynamik in Gang zu kommen.

Eine deutlich erhöhte Dynamik wird in der Klimapolitik sichtbar. Im Zentrum der Umbaupläne steht die Dekarbonisierung, das heißt die Ersetzung der fossilen Energiebasis durch erneuerbare Energien. Der jüngste Vorschlag der EU-Kommission „Fit for 55“ sieht vor, den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Noch handelt es sich um Vorschläge, die in der Brüsseler Abstimmungsmühle wieder mehr oder minder stark verwässert werden. Dennoch wird der Druck deutlich erhöht.

Gleichzeitig wird staatliche Industriepolitik wiederentdeckt, nachdem sie jahrzehntelang als Tabu galt. Es öffnen sich die Schleusen für staatliche Subventionen, als ob es nie eine „Schwarze Null“ gegeben hätte. Von Kaufprämien für E-Autos bis zum European Green Deal, der bis 2027 insgesamt 1,8 Billionen Euro für die Energiewende vorsieht. Insbesondere die Lobby der energieintensiven Branchen (Stahl, Zement) fordert zusätzliche Unterstützung, sei es in Form von direkten Subventionen, steuerlichen Entlastungen oder protektionistische Maßnahmen, wie etwa eine CO2-Ausgleichssteuer an den EU-Zollgrenzen.

Letztlich liegt der neuen Dynamik die Tatsache zugrunde, dass sich mit der Dekarbonisierung schon jetzt in einigen Branchen Profit erzielen lässt. Und dort, wo dies noch nicht der Fall ist, soll der Staat dafür sorgen, dass es perspektivisch möglich wird. Typisch dafür die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm, die in der Wertschöpfungskette für Wasserstoff auch für die deutsche Industrie Chancen sieht „vor allem dort, wo zukünftig Schlüsselkomponenten produziert werden – beginnend mit dem Bau von Elektrolyseanlagen. Hier sind deutsche Unternehmen gut aufgestellt.“ Der „European Green Deal“ der EU sieht vor, bis 2050 eine Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen. Bis 2024 soll zunächst eine Million Tonnen produziert werden, bis 2030 soll mit der zehnfachen Menge der Hochlauf zur Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden. Für den Bau der Elektrolyseanlagen wird dazu mit Investitionen in Höhe von 24 bis 42 Milliarden Euro gerechnet.
Deutschland ist nach China und den USA der weltweit drittgrößte Pkw-Hersteller. Die Autoindustrie ist der größte Industriezweig. Zusammen mit der Zuliefererindustrie erwirtschaftet sie mit etwa 830.000 Beschäftigten (2019) ungefähr zehn Prozent des deutschen BIPs. Die Exportquote beträgt 74,7 Prozent. Mit anderen Worten: Die Branche ist eine der tragenden Säulen des deutschen Kapitalismus. Dementsprechend groß ist die Herausforderung durch die Dekarbonisierung, in diesem Fall die Ersetzung des Verbrennungsmotors durch elektrischen Antrieb und zum Teil auch durch Wasserstoff (Schwerlastverkehr, Busse). Da China und die USA (Tesla) hier bisher Vorreiter sind, will die EU jetzt aufholen. Galt bisher ein Reduktionsziel von 37 Prozent für die Neuwagenflotte bis 2030, so sollen es jetzt 55 Prozent werden. Ab 2035 sollen nur noch Fahrzeuge mit null Emissionen auf den Markt kommen.

Die führenden Konzerne sind zwar mit etwas Verspätung, aber jetzt doch massiv dabei zu reagieren. Grundlegend geändert wird dabei allerdings nur die Antriebsart der Autos. Am System des Individualverkehrs ändert sich nichts, auch nicht bei den Typen. Geländewagen und SUVs wird es weiterhin geben, nur eben mit elektrischem Antrieb.

Volkswagen plant, mit Investitionen von bis zu 35 Milliarden Euro seine Position als weltweit größter Autokonzern zu verteidigen und will zum globalen Anführer für E-Mobilität werden: „Die Batteriezelle rückt bei VW ins Zentrum von Entwicklung und Produktion, sie wird das, was bisher der Verbrennungsmotor war“, kündigte Konzernchef Diess an. Auch Opel (in französischer Hand) will ab 2028 keine Benziner mehr vom Band rollen lassen.

Daimler hat beschlossen, in den kommenden zehn Jahren 40 Milliarden Euro in E-Autos zu investieren. Parallel dazu sollen die Ausgaben für die Verbrenner bis 2026 um 80 Prozent reduziert werden. Vorstandschef Källenius erklärte, von „Electric first“ würde jetzt auf „Electric only“ umgeschaltet. Denn „die ganze Welt ist aufgewacht. Wir müssen alle unser Verhalten ändern in Richtung einer CO2-neutralen Welt.“ Teil des Investitionspakets ist auch der Bau von acht Batteriefabriken mit Kapazitäten von zusammen mehr als 200 Gigawattstunden, darunter vier in Europa, drei in Asien und eine in den USA.

Nicht ganz so stürmisch will BMW vorgehen, aber immerhin soll ab 2025 der Absatz von E-Autos um jährlich 50 Prozent gesteigert werden. Außerdem will man das „grünste Auto der Welt“ bauen. Gemeint ist damit eine hohe Recyclingquote für möglichst alle Komponenten und eine Rücknahmegarantie. Auch beteiligt sich BMW am Ausbau der Ladeinfrastruktur, die bisher eine Achillesferse des E-Autos ist.

Daher macht die Autolobby enormen Druck auf die Politik, die Infrastruktur mit Ladestationen im Höchsttempo auszubauen und dafür zu sorgen, dass der steigende Strombedarf für all die neuen E-Autos gedeckt werden kann. Wie bei allen technologischen Durchbrüchen ist der Markt allein nicht in der Lage, die Transformation zu organisieren. Der deutsche Kapitalismus auf dem Weg in einen STAMOKAP 2.0?

Klar ist auch, dass der Umbau nicht ohne Verwerfungen beim Faktor Arbeit vonstattengehen wird. Eine Gemeinschaftsstudie von Uni Saarbrücken, TH Aachen, Roland Berger und anderen für das Bundeswirtschaftsministerium prognostiziert, dass bis 2040 in der Herstellung, im Handel und anderen daran hängenden Bereichen (Werkstätten, Tankstellen etc.) bis zu 300.000 Stellen gefährdet sind. Das entspricht fast einem Drittel der Beschäftigten.

Umbau der Lieferketten

Ein gravierendes Problem der Dekarbonisierung sind Veränderungen im Rohstoffbedarf. In dem Maße, wie fossile Brennstoffe an Bedeutung verlieren, wächst der Bedarf an Rohstoffen, die für die neuen Technologien gebraucht werden. Für eine Batterie neuerer Bauart mit einer Leistung von 60 kw/h werden 9 kg Kobalt, 11 kg Lithium und 70 kg Nickel benötigt. Die Länder mit der größten Fördermenge bei Kobalt sind die DR Kongo, China, Kanada, Russland, Brasilien. Bei Nickel sind es Indonesien, Philippinen, Russland, Französisch-Neukaledonien, Kanada, Australien, China. Und bei Lithium sind die mit Abstand wichtigsten Produzenten derzeit: Australien, Chile, China, Argentinien. Hier wird es Gewinner und Verlierer mit entsprechenden Verschiebungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen geben. Einer Studie des Fraunhofer-Instituts zufolge besteht prinzipiell keine Knappheit bei diesen Rohstoffen, dennoch sei kurz- und mittelfristig mit Lieferengpässen zu rechnen. Für die Autoindustrie heißt das jedoch, dass die Lieferketten umgestellt werden müssen. Das kostet Geld und Zeit.

Etwas anders sieht es bei Wasserstoff aus. Für dessen Produktion kommen perspektivisch alle Standorte infrage, wo viel Wind- und Sonnenenergie und andere Erneuerbare für die Produktion zur Verfügung stehen. Transportiert werden kann Wasserstoff in großen Mengen und über weite Distanzen durch Pipelines oder per Tanker.

Als Rahmenbedingungen für eine Umstellung der Rohstoffversorgung sind in jedem Fall zwischenstaatliche Abkommen gefragt. Für Lithium ist bereits eines mit Australien in Vorbereitung.

Man kann deshalb davon ausgehen, dass nicht alle Pläne Wirklichkeit werden und sich zahlreiche Hürden und so manche Fehlschläge einstellen werden. Aber für die überschaubare Zukunft scheint sich eine strategische Weichenstellung für den elektrifizierten Individualverkehr durchzusetzen. Alternativen, die das Verkehrssystem als Ganzes auf Nachhaltigkeit umstellen und das Auto als Verkehrsmittel substanziell zurückdrängen wollen, dürften trotz guter Argumente durch den massiven Vorstoß der Autoindustrie in die Defensive geraten.

Die geopolitische Dimension

Dazu kommen die geopolitischen Aspekte, das heißt Konkurrenz um Zugang zu den Rohstoffquellen und das Eingebundensein der Wirtschaft in die globalen Konflikte, hier insbesondere einen Kalten Krieg 2.0 mit China und Russland. Ausgetragen wird er über Sanktionen, Protektionismus – vor allem in den Bereichen, die Technologieführerschaft tangieren – und die Umgruppierung von Lieferketten, um die Verwundbarkeit der eigenen Wirtschaft zu reduzieren. Es entsteht eine Tendenz zur selektiven, sektoralen Deglobalisierung, wie zum Beispiel die US-Sanktionen gegen Huawei und andere Hightechkonzerne Chinas zeigen. Umgekehrt arbeiten China und Russland an einer Abkopplung vom Dollar als Weltwährung und entwickeln Alternativen zu globalen Infrastrukturen bei Kreditkarten und dem elektronischen Informationssystem des internationalen Finanzsektors SWIFT.

Im Unterschied zum historischen Kalten Krieg ist die Weltwirtschaft heute jedoch um Größenordnungen höher integriert, sodass Friktionen zwischen Geopolitik und ökonomischer Verflechtung sofort schärfer hervortreten. Die deutsche Wirtschaft ist davon in besonders hohem Maße betroffen. Das Tauziehen um Nord Stream 2 ist ein spektakuläres Beispiel dafür. Ökonomisch noch brisanter sind die engen Wirtschaftsbeziehungen zu China. Das Land war 2020 zum fünften Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner, gefolgt mit deutlichem Abstand von den Niederlanden und den USA. Besonders stark ist die Autoindustrie auf dem größten Markt der Welt engagiert. Ein Drittel der Autoexporte geht nach China. Dabei hat sich die rasche Erholung der chinesischen Wirtschaft von Corona geradezu als Rettungsanker für VW-Daimler-BMW & Co. erwiesen. Es ist eine Abhängigkeit entstanden, die zudem höchst asymmetrisch ist. Joe Kaeser, Ex-Chef von Siemens, brachte es auf den Punkt: „China braucht uns nicht, wir brauchen aber China.“ Das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Abhängigkeit und geopolitischer Orientierung wird als Dilemma auf absehbare Zeit großen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Kapitalismus ausüben.

Dieser Widerspruch wirkt sich auch europapolitisch aus. So ist das Investitionsabkommen EU-China, das kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft von Merkel noch mit Hochdruck paraphiert worden war, inzwischen auf Eis gelegt. Das Straßburger Parlament, aber auch einige Mitgliedsstaaten blockieren das Projekt. Nord Stream 2 schließlich hat zu einem offenen Konflikt in der EU geführt, der auch nach der Einigung mit den USA weiter gären dürfte.

371202 Taycan - Vor turbulenten Zeiten - Automobilindustrie, deutscher Imperialismus - Hintergrund
Mit dem Porsche Taycan macht der Kampf gegen den Klimawandel Spaß. Und fix geht es auch – mit bis zu 260 km/h. Mit dem Strom, den das Geschoss auf 100 km offiziell verbraucht, kann die Arbeiterklasse zehn Mal Wäsche waschen. Im ersten Halbjahr 2021 förderte die Bundesregierung den Kauf von E-Autos oder Hybrid-Modellen mit 1,25 Milliarden Euro. (Foto: 2021 Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG)

Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung, ansonsten bekannt für eifrigen Transatlantismus, weder vor dem Druck Trumps noch Bidens kapituliert hat noch dem Konflikt in der EU aus dem Weg gegangen ist. Der entscheidende Grund dafür dürfte sein, dass der Ausstieg aus den fossilen Energien zu einem Anstieg des Strombedarfs führt, der aber realistischerweise vorerst nicht durch Erneuerbare zu decken ist. Gas ist in dieser Situation dann das kleinere Übel, wenn nicht die Netzstabilität aufs Spiel gesetzt und Blackouts riskiert werden sollen. Energiesicherheit gehört nicht nur hierzulande zum Basisbestand staatlicher Aufgaben.

Das Dilemma zwischen ökonomischer Abhängigkeit von China und geopolitischem Druck zu antichinesischer Lagerdisziplin des Westens wird die ohnehin schon bestehenden zentrifugalen Tendenzen in der EU verstärken. Für fundamentale Interessen des Standorts Deutschland wird sich ein zu antichinesischer Kurs Brüssels als Klotz am Bein erweisen. Andererseits kann eine zumindest ökonomisch als Großmacht auftretende EU auch für deutsche Interessen instrumentalisiert werden. Auch dieser Widerspruch wird auf absehbare Zeit die deutsche Wirtschaft belasten. Er wird die Position Berlins in der informellen Machthierarchie der EU schwächen – auch in der Rivalität mit Frankreich um die führende Rolle in der EU und die Ausgestaltung von deren Außenpolitik und Außenwirtschaft.

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"Vor turbulenten Zeiten", UZ vom 17. September 2021



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