Von Siegfried Alt, Berlin

Wichtiger als ein Dutzend Programme

Siegfried Alt

Als ich 1992 das erste Mal in China war, fuhren die meisten Chinesen Fahrrad – durch Pekings Straßen floss ein Strom von Radfahrern. Schon 1996 hatte dann das Auto die Stadt erobert, Wolkenkratzer waren entstanden.

Meine Reise von Kanton nach Kunming mit dem Schiff und der Eisenbahn dauerte drei Tage. Im Zug musste ich sechs Stunden stehen. Heute fährt man mit dem Hochgeschwindigkeitszug die 1.200-Kilometer-Strecke bequem in einigen Stunden.

Früher waren Nähmaschine und Fahrrad die ersehnten Konsumgüter, heute ist es die Eigentumswohnung.

China hat in drei Jahrzehnten gewaltige Veränderungen durchgemacht. Haben sich diese Veränderungen zugunsten der Kapitalisten oder zugunsten der Arbeiter vollzogen?

Drache - Wichtiger als ein Dutzend Programme - China-Debatte - Hintergrund

Wolfram Elsner plädiert in UZ vom 3. November für mehr Zahlen. Aus dem Wust an verfügbaren Daten zu China nutze ich die der deutschen Außenwirtschaftsagentur „German Trade and Invest“ (GTAI). Die GTAI untersteht letztlich dem deutschen Wirtschaftsministerium.

„Zweistellige Lohnerhöhungen erfolgen seit der Pandemie nicht mehr. Mit Lohnsteigerungen von 6,7 Prozent im Jahr 2022 und voraussichtlich 6 Prozent im Jahr 2023 steigen die Gehälter deutlich stärker an als die Konsumentenpreise und das Bruttoinlandsprodukt. (…) Landesweit erhöhten sich die durchschnittlichen Bruttomonatslöhne nach Angaben des nationalen Statistik-amtes NBS (National Bureau of Statistics) 2022 gegenüber dem Vorjahr um nominal 6,7 Prozent und inflationsbereinigt um 4,7 Prozent. Damit stieg der durchschnittliche Monatslohn auf umgerechnet 1.413 US-Dollar.“
Dabei unterscheiden sich die in den Regionen gezahlten Durchschnittslöhne: In der Hochlohnregion Tianjin an der Küste östlich von Peking liegt der Durchschnittslohn bei 1.606 US-Dollar, in der Niedriglohnregion Liaoning an der koreanischen Grenze beträgt er 1.148 Dollar. Am höchsten ist er in der Hauptstadt mit 2.667 Dollar.

In Dalian, einer Stadt in Liaoning, verdient eine Geschäftsführerin etwa 1.500 Dollar, ein Ingenieur 1.125 Dollar, eine Programmiererin 1.874 Dollar, eine Sekretärin mit Fremdsprachenkenntnissen 1.400 Dollar.

Auch in der Produktion wird nicht wenig verdient: Ein angelernter Arbeiter erhält 1.172 Dollar, ein Arbeiter mit mehrjähriger Berufsausbildung 1.358 Dollar, ein Vorarbeiter 1.509 Dollar. In diesen Löhnen sind noch keine Boni oder Zulagen enthalten.

„Am höchsten fallen die Löhne in den Megastädten Peking, Shanghai und Shenzhen aus, wo das Lohnniveau deutlich über dem Landesmittel liegt. Die durchschnittlichen Gesamtgehaltskosten für einen Beschäftigten (Bruttomonatslohn plus Lohnnebenkosten und Boni) bei einem deutschen Unternehmen stiegen 2022 um 3,8 Prozent auf monatlich 4.151 Dollar im Vergleich zum Vorjahr.“ Hört man hier einen besorgten Ton mitschwingen?

„China hat seit 2004 ein Mindestlohnsystem etabliert, der Mindestlohn wird regelmäßig angepasst. (…) Der Höchstwert 2023 beträgt in Shanghai umgerechnet 400 Dollar pro Monat.“

Zum Bruttogrundgehalt kommen weitere Lohnbestandteile, vor allem Sozialabgaben:

„Das chinesische Sozialversicherungssystem ist komplex; die Höhe und Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer variiert nach Regionen erheblich. Grundlage ist das ‚Social Insurance Law‘ vom 1. Juli 2011. Dabei wird nach den fünf Komponenten Kranken-, Arbeitslosen-, Mutterschafts-, Arbeitsunfall- und Rentenversicherung unterschieden.“

Bis in die 1990er Jahre gab es das Danwei-System, das die Menschen gegen die Notfälle des Lebens absicherte. Auch auf dem Land fiel die soziale Absicherung durch die Produktionsgruppe weg. Beide wurden über Bord geworfen, weil sie wie ein Klotz am Bein die Betriebe hinderten, sich zu entwickeln. Tatsächlich war die Situation danach nicht einfach – Publikationen, die die prekären Zustände in den 2010er Jahren beschreiben, werden daher gerne von China-Kritikern zitiert. Allerdings ging die Entwicklung rapide weiter und spielt den Kritikern nicht mehr in die Hände: Ein neues Sozialversicherungssystem wurde etabliert, das die oben genannten Komponenten enthält. Heute sind die meisten Menschen darin integriert. Übrigens können Arbeiterinnen mit 50 Jahren, Angestellte mit 55 und Männer mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen. Welch wünschenswerte Zustände! Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt jetzt 78,8 Jahre und steigt weiter an. Sie betrug 1980 nur 64,4 Jahre.

Hier noch ein besonderes Schmankerl: „Arbeitgeber sind verpflichtet, Beiträge zur Wohnbaurücklage (Housing Fund) zu entrichten, die in China eine große Bedeutung besitzt. Das Geld können Arbeitnehmer verwenden, um Wohneigentum zu erwerben.“

„Weitere Zuwendungen sind üblich, etwa Zuschüsse zu privaten Kranken- und Lebensversicherungen, variable Boni, Leistungsprämien, Überstundenvergütung, Kinderzulagen oder Verpflegungs- und Fahrtkostenzuschüsse. Immer wichtiger werden zusätzlich Gesellschaftsanteile. Ferner werden Zulagen etwa zum chinesischen Neujahrs- oder Mittherbstfest sowie ein 13. oder sogar 14. Monatsgehalt gewährt. Weitere Halteprämien zur Mitarbeiterbindung sind möglich.“

Man sieht: Für die Arbeiterklasse wird gesorgt, ob der Kapitalist will oder nicht.

Um die Lohnentwicklung umfassender beurteilen zu können, müssen drei Aspekte hinzugezogen werden: das historische Lohnniveau, die Kaufkraft und die zukünftige Entwicklung.

Der Lohn lag vor der Reform und Öffnung noch unter 200 Yuan pro Monat. Im vorigen Jahr waren es 9.502 Yuan. Der Lohn ist in drei Jahrzehnten um 4.751 Prozent gestiegen – und zwar kontinuierlich und in gleichmäßigen Proportionen. Die Steigerungsrate der Löhne verläuft in etwa kongruent mit der des Bruttosozialprodukts.

Hinzu kommt, dass die Kaufkraft des Yuan in China eine ganz andre ist als die des Euro bei uns. Die Waren des täglichen Lebens sowie Mieten, Energie und Verkehr sind dort billiger. Für den Durchschnittslohn kann sich der chinesische Arbeiter mehr kaufen als der deutsche.

Über die zukünftige Entwicklung liest man beim US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Fogel schon 2010 Erstaunliches: „Im Jahr 2040 wird die chinesische Wirtschaft 123 Billionen Dollar erreichen, fast das Dreifache der Wirtschaftsleistung des gesamten Erdballs im Jahr 2000. Chinas Pro-Kopf-Einkommen wird 85.000 Dollar betragen, mehr als das Doppelte der Prognose für die Europäische Union. (…) Der durchschnittliche chinesische Großstadtbewohner wird mit anderen Worten doppelt so viel zum Leben haben wie der durchschnittliche Franzose, wenn sich China aus einem armen Land im Jahr 2000 in ein superreiches Land 2040 verwandelt haben wird.“ Mag dieses Wirtschaftswachstum auch geringer ausfallen – trotzdem wird der Lebensstandard in China den in den heutigen kapitalistischen Zentren weit übertreffen.

Man muss sich klarmachen, dass hinter dem, was hier im Gewand von Zahlen daherkommt, über 1,4 Milliarden Menschen stehen. Ihr Leben hat sich seit Generationen erstmals in Richtung Wohlstand bewegt. Das halte ich für – um mit Karl Marx zu sprechen – „wichtiger als ein Dutzend Programme“.

Mein Resümee:

1. Die verschiedenen Entwicklungstempi zugrunde gelegt – das langsamere der „voll sozialistischen“ Periode von 1953 bis 1978 und das schnelle der Mischwirtschaft nach 1978 –, ist der Teil des mit den Kapitalisten geteilten Mehrprodukts, den die Arbeiterklasse heute erhält, größer als das ungeteilte Mehrprodukt, welches das „voll sozialistische“ System hervorgebracht hätte. Das ist der Springpunkt.

2. Die Entwicklung löst den von der Partei definierten Hauptwiderspruch mit allen Mitteln und so schnell es geht: den zwischen den zurückgebliebenen Produktivkräften und den Bedürfnissen der Menschen nach einem besseren Leben. Zum Verständnis Chinas muss man sich die zentrale Bedeutung dieses Hauptwiderspruchs, dem sich alles unterordnet, bewusst machen. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist dagegen in China im nationalen Rahmen ein Nebenwiderspruch. Es kann durchaus sein, dass er es bleibt und sich irgendwann auflöst.


UZ-Debatte beendet
Mit dieser Ausgabe beenden wir die UZ-Debatte zur Vorbereitung der China-Konferenz der DKP. Wir danken allen Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern für ihre Beiträge, insbesondere auch denjenigen, die es auf Grund des wenigen Platzes für die Debatte nicht ins Blatt geschafft haben.
Über die China-Konferenz, die am vergangenen Sonntag in Frankfurt am Main statt gefunden hat, werden wir in der kommenden Ausgabe ausführlich berichten. Der Parteivorstand wird die Konferenz sowie die Debatte Anfang kommenden Jahres auswerten und Schlussfolgerungen ziehen.


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"Wichtiger als ein Dutzend Programme", UZ vom 1. Dezember 2023



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