Regierungskommission legt „Potentialanalyse“ zur Krankenhausversorgung vor

Wie viele Tote dürfen es denn sein?

Nora Hachenburg

Als die streikenden Krankenhausbeschäftigten in Nordrhein-Westfalen in der Tarifauseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen die tagtäglichen Missstände in Krankenhäusern öffentlich machten, war die Empörung groß. Politisch Verantwortliche und Arbeitgeber negierten die Schilderung von Fällen, bei denen Patienten aufgrund von Personalnot zu Schaden oder sogar zu Tode gekommen waren. Wenn überhaupt, dann handelt es sich aus ihrer Sicht um Ausnahme- und Einzelfälle. Die Wahrheit über die Zustände in deutschen Krankenhäusern musste geleugnet werden, denn sie gab den Streikenden Rückhalt in der Bevölkerung und in den Medien und machte noch deutlicher, was für Schäden ein kapitalistisches Gesundheitssystem anrichtet.

Im Jahr 2014 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene zwei Zahlen: Circa 40.000 Menschen sterben in deutschen Krankenhäusern jährlich an Hygienemängeln. Und von den rund eine Million im Krankenhaus erworbenen Infektionen pro Jahr sei die Hälfte vermeidbar. Dafür verantwortlich seien die Betreiber, sagte damals Klaus-Dieter Zastrow, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene: „Man kassiert Geld, aber macht keine Hygiene.“ Denn Hygienemaßnahmen benötigen nicht nur die richtigen Materialien, sondern vor allem Personal, das Zeit hat, sie korrekt durchzuführen. Und da im Krankenhaus wenig Personal der beste Weg zu hoher Rendite ist, bleibt die Hygiene auf der Strecke – beziehungsweise 40.000 Patientinnen und Patienten.

Doch auch diese Studie verhallte nach ein wenig Berichterstattung – ungehört von den Verantwortlichen. Auch hier war die Gefahr zu groß, dass eingestanden werden musste, wie marode das hochgelobte Gesundheitssystem in Deutschland ist.

Deutlich mehr Aufmerksamkeit erfährt gerade die vorgestellte Potentialanalyse der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Auf der Daten­ebene beschreibt die Studie, dass „eine potenzielle Reduktion des Versterbens innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall von 4.969 Fällen“ möglich sei. Und bei elf ausgewählten Krebsarten „summiert sich das Potential auf über 20.000 Lebensjahre jährlich“, die die Patientinnen länger leben könnten. Der Trick, diese Zahl in dem gut klingenden Wort „Potential“ auszudrücken, ist durchschaubar. Er maskiert jedoch kaum die dahinter steckende Realität, dass das hier erkannte „Potential“ auf tatsächlich sterbende oder leidende Patientinnen und Patienten verweist. Noch perverser wird es, wenn der Bundesgesundheitsminister diese Studie feiert. Bei der Veröffentlichung erklärt uns Karl Lauterbach, dass die Studie „den Kern der Krankenhausreform“ bestätige: „Qualität rettet Leben. Die Krankenhausreform wird zehntausende Menschenleben retten pro Jahr.“

Zu gut passt diese Studie als Untermauerung seiner geplanten Krankenhausreform, als dass sich Lauterbach mit Pietät oder gar dem Eingestehen völlig verfehlter Gesundheitspolitik seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) aufhalten müsste. Denn trotz aller Propaganda für die von Lauterbach ausgerufene Revolution für den Krankenhausbereich verebbt die Kritik an seinen Reformplänen nicht, mit denen die aktuelle Regierung ein massives Krankenhaussterben einleitet und die wohnortnahe Versorgung für viele Regionen in Deutschland gefährdet. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft geht bei Umsetzung der Reform von 40 Prozent weniger Krankenhäusern in Deutschland aus – ein Kahlschlag, der die Gesundheitsversorgung in Deutschland weiter schwächen wird.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob die Potentiale der Studie überhaupt stimmen, fast vernachlässigbar, weil nicht gegenübergestellt wird, was sich alles verschlechtert und wie viel mehr Tote es gibt durch deutlich längere Anfahrten zu Krankenhäusern und eine Zerschlagung von eingespielten Versorgungsstrukturen gerade im Bereich mittelgroßer Krankenhäuser mit jahrelangen Spezialisierungen.

Das größte Potential für die Menschen wird in der Studie und Lauterbachs Reform jedenfalls ignoriert: Die komplette Abschaffung der DRGs und eine Verstaatlichung des Gesundheitssystems.

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"Wie viele Tote dürfen es denn sein?", UZ vom 30. Juni 2023



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