Zu Christoph Heins Roman „Glückskind mit Vater“

Wo Verbrechen ehrenhaft werden

Von Rüdiger Bernhardt

Christoph Hein

Glückskind mit Vater

Berlin, Suhrkamp Verlag 2016,

527 S., 22,95 Euro

Die Literaturkritik sucht lange nach dem „Wenderoman“. Nun gibt es ein wichtiges Ergebnis, Christoph Heins umfangreichen Roman „Glückskind mit Vater“. Hein verzichtet allerdings auf den Begriff „Wende“, der die Zeit um 1989 nicht trifft. Der parteilose Lehrer und Protagonist des Buches, Konstantin Boggosch, der Erzähler des Romans, nennt die Zeit vor 1989 nach seinem Blumenverkäufer „die andere Zeit“ (13, 17).

Christoph Hein

Christoph Hein

( wikicommons)

Hein beschreibt, dass es keinen Wenderoman geben kann: Die gesellschaftspolitischen Veränderungen von 1989/90 waren das Ergebnis einer deutschen Entwicklung, die im Faschismus einen Ursprung hatte, beeinflusst von internationalen Beziehungen und letztlich weiter zurückreichend. Der Bildungsroman des Konstantin Boggosch wird zum Familienroman der Familien Müller und Boggosch, dieser zum deutschen Gesellschaftsroman seit Ende des Kaiserreichs. In der Biografie eines Einzelnen spiegeln sich deutsche und andere Entwicklungen des 20. Jahrhunderts.

Es ist ein spannender Roman, ein Abenteuerroman, ein Schelmenroman, gut lesbar dazu, kurz: Es ist ein außerordentlich gelungener Roman. Aber solche Bewertungen sollten sich nicht vor seinen größten Wert stellen: Es ist ein Roman über die Gegenwart faschistischer Verbrechen, ein Roman, der nicht nur daran erinnert, sondern ihr Weiterleben aufdeckt, warnt und heutiges Denken dieser Art entlarvt.

Boggosch, der zuerst Müller hieß, wurde kurz nach Kriegsende 1945 geboren. Ein Brief vom Finanzamt löst 2012 Erinnerungen aus, warum Kons­tantin nun Boggosch und nicht mehr Müller heißt. Verfolgt wird in drei Vierteln des Romans Konstantins Entwicklung von 1945 bis zum Studium 1962, ein Viertel gehört der Zeit bis 2012.

Im Herbst 1989 wählen ihn Lehrer und Schüler zum Direktor, seine familiären Belastungen scheinen endgültig vorbei. Aber nach 17 Monaten wird er abgelöst: Zwar sei seine Wahl „ein revolutionärer Akt in den Wendewirren“ (491) gewesen, erklärt ihm der neue Schulrat, aber die Wahl entspreche nicht dem deutschen Beamtenrecht, „Recht muss Recht bleiben“ (491). Deshalb werde er durch jenen ehemaligen Vorgesetzten Konstantins ersetzt, der vor Jahren in die Bundesrepublik geflohen war. Die einem Schelmenroman eigenen ironisch-satirischen Akzente werden hier unüberbietbar zur Groteske zugespitzt.

Konstantin schlägt das riesige Erbe aus, das nach 1989 auf ihn käme, ist es doch erneut der verbrecherische Vater, der im Erbe wirksam würde. Sein Bruder, mit dem er keine Beziehung mehr hat, wird einflussreichster Mensch der Stadt und herrscht wie einst sein Vater. Konstantin muss sich am Ende einer Tumoroperation unterziehen. Er hat seinen Vater überwunden, nur in nächtlichen Träumen erscheint er.

Der Roman nimmt die verdrängte Frage auf, wie antifaschistische Haltungen nach ihrer grundlegenden Bedeutung 1945 allmählich in purem Formalismus erstarrten, in dessen Schatten sich alte Gedanken und Haltungen reproduzieren konnten bzw. latent erhalten blieben. Die Brüder repräsentieren diesen Unterschied: Während Konstantin sein Leben auf die Überwindung seines Vaters und seiner Vergangenheit ausgelegt hat und deswegen zahlreiche Schwierigkeiten bekommt, aber seinem Vorsatz bis hin zum Verzicht auf das väterliche Erbe treu bleibt, tritt sein Bruder, der ein Abbild des verbrecherischen Vaters wird, aus Karrieregründen in die SED ein. Konstantin sieht an der Entwicklung seines Bruders, wie antifaschistische Prinzipien zu erstarrenden Dogmen verkommen und letztlich sogar die Reproduktion der alten Verhältnisse ermöglichen.

Dennoch ist Konstantin ein Glückskind: Er wurde von seiner Mutter so genannt, weil ihre Schwangerschaft verhinderte, dass sie als Frau eines Kriegsverbrechers abgeführt wurde (47), vier französische Widerstandskämpfer, die seine Freunde wurden, betrachteten ihn als ihren „Glücksfall“ (242). Auch sonst hat er Glück; immer finden sich Menschen, die ihm helfen. Selbst den Ausschluss vom Wehrdienst wegen des verbrecherischen Vaters sehen die meisten als Glück. Er sieht sich als Glückskind, als ihm die Tür zum anfangs ungeliebten Lehrerstudium geöffnet wird und er erkennt, er ist „ein geborener Pädagoge“ (422).

Konstantins Schicksal ist die Folge eines ungelösten deutschen und europäischen Problems: „Wer waren dann die Nazis, wenn alle dagegen waren?“; alle waren angeblich in der Résistance oder im Widerstandskampf (217). Der Roman bringt es auf den Punkt: Der Faschismus „lebt und wird wiederkommen, und vielleicht schneller als wir es uns in den schlimmsten Albträumen vorstellen können. Und bei seinem nächsten Auftritt erscheint er vielleicht in Nadelstreifen.“ (204) Konstantins Vater tritt in den Albträumen des Sohnes, auf Fotos und in Erinnerungen „in seinem eleganten Gesellschaftsanzug“ (204) mit Nadelstreifen auf, bereits im eröffnenden Angsttraum: Es ist der Sommer-Gesellschaftsanzug der SS, der zu einem oft zitierten Attribut des Vaters wird.

Hein fügt wie in einem Panorama historische Vorgänge ein, die im Familiengeschehen politische Entwicklungen spiegeln. Bei Boggosch laufen zwei Traditionslinien zusammen: die großbürgerliche Herkunft der Mutter, zum anderen der erfolgreiche Vater, der Kapitalist Gerhard Müller, Besitzer der Vulcano-Werke, der späteren Buna-Werke (59), Freund von Gebhard Himmler, dem älteren Bruder von Heinrich Himmler usw. Dazu kommen historische Rückgriffe bis zum Ende des Ersten Weltkriegs – Konstantins Großvater sollte in den Adelsstand erhoben werden, lehnte das aber ab; dieser Großvater wurde Staatssekretär bei Adam Stegerwald (1874–1945, Zentrum, später Mitbegründer der CSU und Gewerkschaftler) (48). Ein anderer Rückgriff nennt Spartakusaufstand und Weimarer Republik – der Onkel eines Freundes von Konstantin war Adjutant des Generals von Lüttwitz (102), der den Spartakusaufstand niederschlug und den Kapp-Putsch ini­tiierte. Ein anderer Sohn eines Vaters wird ein Verbündeter Konstantins: Der Kreisschulrat Fritz Berger, der Konstantin um seiner Vergangenheit und Parteilosigkeit willen zum Schuldirektor machen möchte, ist der Sohn eines Kampfgruppenführers von Max Hoelz (434), dem revolutionären Kämpfer im Vogtland während der mitteldeutschen Kämpfe von 1920/21. Es geht um Faschismus und Nationalismus, um Verbrechen und Mord im Namen der Politik, dargestellt an einem deutschen Beispiel; in Umrissen erscheinen die Klassenstrukturen.

Faschistisches blieb nach 1945 im Westen erhalten, bis hin zur Witwenrente für Kriegsverbrecher (86), die Konstantins Mutter ablehnt; ihr Schwager hatte ihr diese Rente ausgehandelt, nachdem ein deutsches Gericht die Hinrichtung des Vaters für ungesetzlich und diesen zum ehrenhaften deutschen Offizier erklärt hatte.

Neben dem historischen bildet sich für den interessierten Leser ein literarisches Geflecht. So soll die Fremdenlegion für Konstantin die Alternative zum Vater werden. Es reicht ein einziges Erlebnis, um das Bild der Legion zusammenbrechen zu lassen, die Legionäre „als Tiere“, als „Mörder, Killer“ (226) zu entlarven. Konstantins Weg in die Fremdenlegion ist ein erzählerisches Hilfsmittel, um zwei Themen einzuführen. Einmal begegnet Konstantin einem Opfer seines Vaters, zum anderen gelangt er nach Marseille. In der Koppelung von Widerstandskämpfer und Marseille bekommt der Roman eine Beziehung zu Anna Seghers‘ Roman „Transit“: Auch der spielt in Marseille und unter Widerständigen gegen den bzw. Opfern des Faschismus.

Konstantins Vater, der hingerichtete Verbrecher, war der Enkel eines bedeutenden Lehrers und Reformpädagogen (456 ff.); Konstantin, Sohn des Verbrechers, wird ein erfolgreicher Pädagoge. Eine solche Abfolge lenkt auf ein Werk, das wie ein Paralleltext wirkt: Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“ (1980). Hier wird der Sohn eines Lehrers und Schuldirektors zum Massenmörder, es ist Heinrich Himmler: Anderschs Aufschrei wurde berühmt: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ Die Familie Himmler erscheint in Heins Roman – der Bruder Heinrich Himmlers Gebhard ist ein Freund des „Vaters“ (52). Der Roman ordnet die individualisiert erscheinenden Verbrechen des Vaters, die ein bundesdeutsches Gericht für patriotisch erklärte, der faschistischen Herrschaft zu.

Heins Roman gestaltet umfassend am Familienschicksal, dass in Deutschland der Faschismus trotz der humanistischen Traditionen nie besiegt worden und auf eine gefährliche Weise gegenwärtig ist, indem er sich mit den Kostümen heutiger politischer Verhältnisse schmückt. In einer literarischen Beziehung wird das Thema ästhetisch problematisiert: Der Roman bietet sich als Parallele zu Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ an. Beide Romane werden als Rückblende von ihren literarischen Haupt- und Titelgestalten erzählt. Die Ähnlichkeit mit Felix Krull wird durch die Betonung des „Glückskinder“ verstärkt, denn „Felix“ ist der Glückliche, das Glückskind. Beide Väter haben Fabrikimperien aufgebaut, Krull eine Champagnerfabrik, Müller ein chemisches Werk. Beide lebten in Kleinstädten und beider Söhne gehen nach Frankreich, um ihre Ziele zu verwirklichen. Beide Väter sterben, als die Helden sehr jung oder kurz vor der Geburt sind. Die äußerlichen Bedingungen sind einander ähnlich, die Inhalte werden zum Gegensatz: Wird die Kunst durch Krull zur Travestie, so die Arbeit bei Müller zum Verbrechen. Was der Eine noch als eine heitere Lebensführung beschreiben konnte, ist nach der faschistischen Periode nur als erschütternder Bericht möglich. Die heitere Autobiografie ist für die Darstellung des Faschistischen nicht mehr möglich. Heins Roman „Glückskind mit Vater“ ist eine Zurücknahme des heiteren Schelmenromans der Art Thomas Manns und die Ausbildung eines deutschen Schelmenromans, der das Heitere verloren hat.

Zum Romanrahmen gehört ein schnell und personal erzählter Schluss. Wirre Träume bedrängen Konstantin in der Nacht, bevor er seine Frau von der Kur nach Hause holt. In den Träumen stürzen Bilder übereinander, vom KZ, auf dessen Grund das neue Werk des Bruders gebaut wurde, von der Kälte der Müllers und dem Triumph des Bruders: Die Vergangenheit ist Gegenwart.

Nach dem Wahlerfolg der AfD erklärte Hein in einem Interview (19./20. März 2016): „Wir wissen etwas genauer, in welchem Land wir leben.“ Beschrieben lag dieses Land bereits in diesem großen Roman Heins vor.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Wo Verbrechen ehrenhaft werden", UZ vom 29. April 2016



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