Giulia Caminitos „Das Wasser des Sees ist niemals süß“

Wut ohne Ziel

20 Quadratmeter in einem Keller an Roms Peripherie, ein Hinterhof, von der Mutter unermüdlich von Spritzen und anderen Junkie-Hinterlassenschaften gereinigt, ein querschnittsgelähmter Vater, ein älterer Bruder und die Zwillinge, die in einem Pappkarton schlafen – größer ist die Welt der Protagonistin von Giulia Caminitos Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ nicht. Antonia, ihre Mutter, kann nicht mehr – sie ist am Ende ihrer Kräfte nach fünf Jahren Kampf für eine Sozialwohnung, in der man auch leben kann, für jeden Cent, den sie dann acht Mal umdreht, dem Kampf dafür, ihre Kinder kleiden und ernähren zu können. Die Armut, in der sie leben, ist unfassbar und doch alltäglich in einer Stadt wie Rom, in der schon Mietzahlungen für den finanziellen Ruin ausreichen.

Und so stolpert man in „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ wie in ein Lied von Banda Bassotti. Es ist ein Roman voller gerechtem Zorn, voller nackter Wut, von großer Zärtlichkeit und doch akkurater Beschreibung: „Wir sind unbeweglich am Boden liegengeblieben wie mein Vater, der von einem unzureichend gesicherten Gerüst gefallen ist, auf einer illegalen Baustelle, ohne Vertrag und ohne Versicherung, und von hier unten aus sehen wir zu, wie die anderen sich Ketten mit Edelsteinen um den Hals legen.“

Die Protagonistin und Ich-Erzählerin, deren Name im Buch erst gegen Ende fällt, weil er „Die Glückliche“ bedeutet und so gar nicht zu ihr zu passen scheint, begehrt auf, gegen alles und jeden, aber vor allem gegen ihre Mutter, von der sie sowohl die Armut als auch die roten Haare geerbt hat und für die sie sich schämt. Wegen der Haare, der Armut, aber auch wegen der Verbissenheit, mit der sie ihre Kämpfe führt. „Jedes Leben beginnt mit einer Frau, so auch meins, es ist eine Frau mit rotem Haar, die ein Zimmer betritt, sie trägt ein Leinenkostüm, sie hat es zu dieser Gelegenheit aus dem Schrank hervorgeholt, sie hat es sich auf dem Markt bei der Porta Portese gekauft, an dem guten Stand mit den heruntergesetzten Markenklamotten, nicht an einem von denen mit dem Ramsch, sondern einem mit dem Schild ‚Verschiedene Preise‘. Die Frau ist meine Mutter, und sie hält eine Aktentasche aus schwarzem Leder fest in der linken Hand, sie hat sich die Haare selbst gelegt, hat Lockenwickler und Spray verwendet, den Pony mit der Bürste gebauscht, sie hat grüngelbe Augen und biedere Schuhe mit flachen Absätzen, sie tritt ein, und das Zimmer wird klein.“ So ausstaffiert, verschafft sich Antonia als falsche Anwältin Zugang zu der Frau, die ihren Antrag auf eine Sozialwohnung seit fünf Jahren nicht bearbeitet, und es gelingt ihr – dank ihrer Zähigkeit – eine Wohnung zu ergattern. Nicht in Rom, sondern in Anguillara, einem Ort vor den Toren der Großstadt, direkt an einem See. Fortan fährt die Protagonistin jeden Tag mit dem Zug nach Rom, denn dort besucht sie auf Wunsch ihrer Mutter ein Elitegymnasium. Die Kinder sollen es einmal besser haben.

Giulia Caminito ist in Anguillara aufgewachsen und mit dem Zug nach Rom zur Schule gependelt. Wie ihre Protagonistin ist sie gemobbt worden, hat sich bis zur Uni durchgeschlagen, ihr Promotionsthema ist abgelehnt worden und sie stand ohne Zukunftschancen vor dem Nichts. Und doch sagt die Autorin, die heute zu den erfolgreichsten jungen italienischen Schriftstellern gehört, dass „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ keine Biografie sei, keine Autobiografie, keine Autofiktion. Sie hat Menschen zusammengesetzt, die Dinge erlebt haben, einige davon sie selbst, wie den frühen Krebstod einer Freundin, andere hat sie interviewt, andere haben ihr Aufwachsen begleitet. Herausgekommen sind dabei wunderbare Figuren, die sowohl Tiefe haben als auch symbolisch sind. Wie zum Beispiel Mutter Antonia, mit der die Protagonistin permanent im Streit liegt, etwa wenn: „Antonia sieht, wie ich eine Rose pflücke, die aus einem Maschendrahtzaun hervorlugt, und wir fangen an zu streiten. Was nicht deins ist, darfst du nicht nehmen, schimpft sie. Aber sie war auf der Straße, und die Straße gehört allen, antworte ich. Dann bist du eine noch schlimmere Diebin, was allen gehört, rührt man nicht an.“

Ein entscheidender Unterschied zwischen Autorin und Protagonistin, so Caminito, sei die Gewalt. Denn die Protagonistin wird nicht nur wütend über Armut, entzogene Chancen und den Zustand der Welt, sondern sie wird gewalttätig. Nicht gegen das System, das sie in die wer weiß wievielte Generation Armut zwingt (für die Politik ist ihr großer Bruder zuständig), sondern gegen Menschen. Die, die sie mobben, die, die sie verlassen, die, die ihr wehtun. Die Tragik Gaias, der Glücklichen, liegt darin, dass sie diese Wut nicht in die Bahnen kanalisieren kann, die eine Änderung erzwingen werden. So bleibt ihr nur die Erkenntnis, dass nichts wahr ist von dem Märchen, dass gute Noten einen aus dem Elend befreien können, wenn man immer nur schön brav bleibt.

Es ist eine Lüge, dass der See süß ist. Das Wasser schmeckt nach Benzin.

Giulia Caminito
Das Wasser des Sees ist niemals süß
Wagenbach, 314 Seiten, 26 Euro
Wenige Exemplare unter uzshop.de
Als ePub bei wagenbach.de, 22,99 Euro

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Wut ohne Ziel", UZ vom 28. Juli 2023



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