Lessing rechnet mit seiner Zeit ab und Christoph Hein mit der Gegenwart

Zwei kritische Geister

Christoph Hein ist ein entschiedener Anhänger von Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781), er gehört in sein Panorama der erwählten Geister und wird von ihm als ein Geistesverwandter betrachtet. Zwei Aufklärer als Brüder im Geiste, beide Dichter, Denker, Theatermacher und Kritiker. Insofern wundert es nicht, dass Hein sich Lessing in einer Erzählung nähert. Hein wählt dafür eine besondere Situation: Der auf den Tod kranke Lessing lässt im Gespräch mit seiner Stieftochter Amalia, mit der ihn mehr als väterliche Verantwortung verbindet, sein Leben Revue passieren und erinnert seine Vorhaben, seine Taten und das Erreichte. Von seinen großen und anspruchsvollen Zielen ist zu hören und von den Enttäuschungen, die ihm Mitmenschen und Gesellschaft bereiteten. Im Oktober 1842 schreibt die mittlerweile 81-jährige verwitwete Posträtin Maria Amalia Henneberg, geb. König, an eine Bekannte über ihr Verhältnis zu Lessing, dessen Stieftochter sie war, und seinen Tod 1781. Der Großvater der Briefempfängerin, Alexander Daveson, ein schillernd-zwielichtiger Freund Lessings, war mit Amalia in dessen Todesstunde in Braunschweig anwesend.

Das ist spannend, interessant und in altersweiser Briefstruktur dem Aufklärer Lessing angemessen. Selbst der Ton, in dem Hein diese Amalie schreiben lässt, die mit großem historischem Abstand ein Geständnis über den letzten Lebensabschnitt des Stiefvaters schreibt, ist beeindruckend zeitgemäß und diesem literarischen Genre angemessen. Dabei verschweigt sie das letzte Wort, das er an sie richtet – es gäbe sicher Aufschluss über ihre wirkliche Beziehung, über die es Gerüchte gibt, die aber weiter im Dunkel bleibt. In der Literaturgeschichte findet sich der Ausspruch des Hofmedicus Brückmann, dass Lessing zu Amalie gesagt habe: „Sei ruhig, Malchen.“ Hein zitiert den Weinhändler Johann Hermann Angott, in dessen Haus Lessing starb: „Es ist vollbracht, Malchen.“ Daveson habe dagegen gehört: „Es hat nicht sein sollen, Malchen.“ Er kam damit dem letzten Wort nahe, doch war es vielleicht noch ein wenig anders. Hein lässt Intimeres ahnen, eine von Lessing beabsichtigte Ehe mit der Stieftochter, über die damals in der Öffentlichkeit, später in der Literaturgeschichte gesprochen wurde. Das ist die anregende Handlung der Erzählung. Ihre Absicht geht weit darüber hinaus.

Hein benutzt die Möglichkeit der geborgten Biografie, um über mehr als Lessings Sterben und seinen Tod zu berichten. Heins Beziehung zu Lessing ist von Beginn an von Anerkennung geprägt: Für ihn ist es ein Schriftsteller, der die Forderungen der Zeit erkannte und ohne Rücksicht auf die eigene Befindlichkeit seine literarischen Fähigkeiten für deren Verwirklichung nutzte. Das bedeutete indessen Widerspruch, Verzicht auf Bequemlichkeit, auch auf Wohlstand und Ehre; diese Menschen, so Heins Lessing, „haben die Bequemlichkeit, unmündig zu sein, verworfen und wollen allein den eigenen Verstand, die eigene Erfahrung nutzen“. Doch damit scheitern sie.

Lessings Scharfsinnigkeit und protestantische Klarheit findet sich wieder in Heins geistiger Präzision und pointierter Sachlichkeit. Zu Lessing gehört die Idee der Toleranz, zuerst auf die Religion bezogen: Hein erinnerte schon früher mehrfach an das Beispiel der Ringparabel, erweiterte aber den Begriff in einer Variation von Immanuel Kants Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei: „Toleranz ist der Ausgang des Menschen aus dem beschränkten Egoismus seiner selbst, seiner Gesellschaft, seines Staates, der die für ihn und die Menschheit unaufgebbar scheinenden Werte benennt, um sie in einer den anderen achtenden Haltung zu vertreten und zu verteidigen.“ („Zum Fremdwort Toleranz“, 2004).
Die in der neuen Erzählung gewählte Situation findet sich schon als Andeutung im Essay „Öffentlich arbeiten“ (1982): Lessing resignierte gegenüber einem uninteressierten Publikum und kopierte Bücherlisten, um leben zu können. In Heins Erzählung ist die Ablehnung rigoroser: Unerwünscht waren Amalia die „Schreiber von Tagesanzeigern“, denen „nichts an der Wahrheit“, aber alles an der Sensation lag und die Lessings Andenken „beschmutzen“ wollten. Für Lessing aber war die Wahrheit „die höchste Tugend“, so zitiert ihn Hein. Kritik übte Lessing an den Literatur- und Theaterverhältnissen, über die er im Zusammenhang mit einem Nachspiel zu seinem Theaterstück „Nathan der Weise“ mit dem Titel „Der Derwisch“ (Er habe sein „Testament“ im Kopf „fertig“) nachdachte. Man könne gar nicht „übel genug denken“ von der „deutschen Kunst und Literatur“, sagt er zu seiner Stieftochter und berichtet von enttäuschten Hoffnungen. Auch vom Theater ist Heins Lessings enttäuscht, dort sei nichts zu erfahren „als Dummheiten“, „Unkosten und Verdruss“. Gerüchte kursierten, schließlich die umfassende Absage: Lessing ist überdrüssig der Arbeit, „der Theater, der Zeitungen, der Polemiken. Ich will auf keine Kanzel mehr“.

Man stutzt und fragt, ob das noch Lessing oder schon Hein ist, der über seine unerfreulichen Erfahrungen mit der Presse, besonders im Zusammenhang mit seinem im letzten Jahr erschienenen Text „Gegenlauschangriff“, nachdenkt, der seine erniedrigenden Erlebnisse mit der ihm angetragenen Intendanz am „Deutschen Theater“ in Berlin erinnert – die Details ließen sich mehren. Stück für Stück wird die Lessing-Erzählung zu einer kritischen Bestandsaufnahme des Schriftstellers Christoph Hein über sein literarisches Wirken und seine Laufbahn in der Gegenwart.

In einem anderen Zusammenhang erklärte er schon 1978 einem Interviewpartner, dass das literarische Erbe von Lessing, Goethe und Schiller nur durch Schriftsteller existiere, denn Literatur sei ein „sich in beständiger Auseinandersetzung mit der Gesellschaft befindender Prozess“. Dieser Prozess war für Lessing eine Enttäuschung, ist für Hein immer mehr eine Enttäuschung geworden. Auf eine derartige Enthüllung der kulturpolitischen Wirklichkeit konnte die den herrschenden Verhältnissen dienende Presse kaum anders reagieren als mit Schweigen oder unwürdiger Kritik und das tat sie denn auch.


Christoph Hein: Ein Wort allein für Amalia. Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner. Berlin: Insel Verlag 2020. Insel-Bücherei Nr. 1479,86 Seiten, 14,- Euro

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Zwei kritische Geister", UZ vom 1. Mai 2020



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