Massenentlassungen bei den Lieferdiensten Gorillas und Getir

Angestellte geliefert

Der Lebensmittel-Sofortlieferdienst Getir plant, 14 Prozent seiner Beschäftigten zu feuern. Die in Istanbul beheimatete Firma beschäftigt 32.000 Menschen in neun Ländern, darunter Deutschland. 4.480 Angestellte dürften also ihren Job verlieren.

Getir gilt als „Pionier“ der Lieferdienste, die ihre „Rider“ genannten Fahrradkuriere Lebensmittel und Getränke in Großstädten ausfahren lassen. Die Branche ist für miserable Arbeitsbedingungen bekannt. Oft müssen Rider eigene Arbeitsmittel mitbringen, verdienen nicht einmal Mindestlohn und bekommen nur zeitlich befristete Verträge (UZ vom 25. Juni und 2. Juli 2021). Die Radfahrten bei Wind und Wetter durch großstädtischen Autoverkehr sind gefährlich. Das Berliner Landesamt für Gesundheitsschutz, Arbeitsschutz und technische Sicherheit hat bei diesen Lieferdiensten immer wieder gravierende Verstöße gegen Arbeits- und Gesundheitsschutz festgestellt. Wehren sich die Beschäftigten, gibt es kalten Gegenwind: Die Lieferdienste gehen hart gegen gewerkschaftliche Organisierung und Betriebsratsgründungen vor.
Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie expandierten die Lieferdienste rasant. Das schnelle Wachstum scheint jetzt vorbei zu sein. Getirs Konkurrent Gorillas kündigte Ende Mai der Hälfte seiner Verwaltungsangestellten in der Berliner Zentrale. 300 Beschäftigte mussten ihren Hut nehmen. Gorillas 14.000 Rider sollen von den Stellenstreichungen nicht betroffen sein. Das Unternehmen kündigte aber an, sich auf seine fünf Kernmärkte in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Britannien und den USA konzentrieren zu wollen. In diesen Ländern erwirtschaftet Gorillas 90 Prozent seiner Umsätze. Aus Italien, Spanien, Dänemark und Belgien will sich Gorillas wohl zurückziehen.

Das auf Kosten der Rider gemachte Geschäft ist bis jetzt kaum profitabel. Nur 25 der 230 Warenlager von Gorillas werfen Profit ab. Die Firma verliert im Moment ungefähr 60 Millionen Dollar pro Monat. Firmenchef Kağan Sümer braucht Geld von Investoren. „Seit Oktober haben wir unser Geschäft verdreifacht und die Effizienz verneunfacht. Aber mit Blick auf die Kapitalmärkte im Moment müssen wir weitere Schritte unternehmen.“ Im Oktober letzten Jahres hatte Gorillas rund 860 Millionen Euro Risikokapital eingeworben. Bei Getir waren es zuletzt rund 700 Millionen Euro. Bei Flink stieg die Supermarktkette REWE ein.

Die wenigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen bei den Lieferdiensten haben sich die Beschäftigten hartnäckig erkämpft. Das Gorillas Workers Collective etwa hatte innerhalb des letzten Jahres mehrere verbandsfreie Streiks in Berlin organisiert. Dort gibt es jetzt einen Betriebsrat. Der allerdings sei weder über die Massenkündigungen informiert gewesen noch dazu angehört worden. Ob der Betriebsrat zuständig ist, ist nicht klar. Gorillas hatte während der Betriebsratsgründung das operative Geschäft ausgegliedert und ein Franchise-Modell angekündigt, nach dem jedes Warenlager als eigener Betrieb gelten soll.

Besonders frech: Kağan Sümer gab den gefeuerten Mitarbeitern den Rat, „Frustration zu kanalisieren“ und „euer eigenes, neues Vermächtnis zu schaffen“. Er selbst nämlich habe Gorillas gegründet, nachdem er frustriert über eine Entlassung war.

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"Angestellte geliefert", UZ vom 10. Juni 2022



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