Zwei Veröffentlichungen zur Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus

Arbeit + Baumwolle = Kapitalismus

Von Rainer Venzke Aus Marxistische Blätter, Heft 1/2016

Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert

Wien 2014, Promedia Verlag, 208 S., ISBN 978–3-85371–369-3, 17,90 Euro

Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus

Aus dem Amerikanischen von Annabel Zettel und Martin Richter

München 2014, C. H.Beck Verlag, 525 S., ISBN 978–3-406–65921-8, 29,95 Euro (auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich)

So auffällig sich diese beiden Bücher äußerlich und von der Darstellungsweise unterscheiden ergänzen sie sich doch inhaltlich ausgezeichnet und bestätigen auf verschiedenartige Weise ihr jeweiliges Anliegen.

Das bescheiden gestaltete Taschenbuch von Andrea Komlosy entfaltet dabei auf knapp 200 Textseiten den theoretisch weiter gefassten Bereich des Arbeitsbegriffs, während das aufwändig gestaltete und reich illustrierte gebundene Buch Sven Beckerts exemplarisch, aber detailliert und verallgemeinerbar am Produkt Baumwolle die Herausbildung und Veränderung des Kapitalismus darstellt und dabei viele Schlussfolgerungen aus dem erstgenannten Werk bestätigt und teilweise eindrucksvoll empirisch breit untermauert. Die auf den ersten Blick etwas großsprecherischen Untertitel „globalhistorische Perspektive“ bzw. „Geschichte des globalen Kapitalismus“ erweisen sich jedoch nach Lektüre als durchaus angemessen. Dabei gelingt es Beckert besser seinen „globalen“ Anspruch zu erfüllen als Komlosy ihren „globalgeschichtlichen“ was zuvorderst seinem Untersuchungsgegenstand und der immensen empirischen Grundlage geschuldet ist.

Demgegenüber erläutert Komlosy zunächst unterschiedliche Bedeutungsinhalte von Arbeit in historischer, geschlechtsspezifischer und regionaler Hinsicht, letztgenannter Aspekt insbesondere mit dem Ziel, eurozentrische Betrachtungsweisen zu überwinden und eine globalgeschichtliche Perspektive zu erlangen, was gegenstands- und quellenbedingt nicht immer vollständig gelingt. Historisch und regional unterschiedliche Beurteilungsmuster von Arbeit und deren Widerspiegelung in Sprachen gefolgt von jeweils damit zusammenhängenden Definitionen und Begriffskategorien resultieren in der Darstellung von Formen der Arbeitsteilung und Kombination verschiedener Arbeitsverhältnisse. Die jeweilige Bestimmung des Arbeitsbegriffs wird hier in den sozialen und kulturellen Zusammenhang gestellt und es wird deutlich, dass unser aktuelles Verständnis von vertraglich gesicherter bezahlter Lohnarbeit historisch und räumlich eine Ausnahmeerscheinung ist.

Im zweiten Teil stellt die Autorin in sechs Zeitschnitten (1250–1500-1700–1800-1900–2010) die jeweiligen weltwirtschaftlichen Charakteristika in Verbindung mit den politischen Kräfteverhältnissen knapp dar und untersucht auf deren Grundlage alle vorher behandelten Formen von Arbeit vor Ort auf Ebene der Haushalte sowie überregionale und großräumige Verknüpfungen überwiegend von mitteleuropäischen Bedingungen ausgehend. In diesem Ausgangspunkt ist die Begrenztheit des oben angeführten globalgeschichtlichen Anspruchs hauptsächlich begründet. Deutlich wird aber z. B. dass Subsistenzarbeit außerhalb Europas länger eine wesentliche Rolle spielt(e) und die Bedeutungszunahme von Mobilität der Arbeitskräfte und frühen Globalisierungstendenzen zumindest seit Gründung der ersten Handelskompanien Ende des 16. Jahrhunderts.

Abschließend reflektiert Komlosy zusammenfassend langfristige Entwicklungstendenzen der Arbeitsformen: sie weist lineare Entwicklungsvorstellungen zurück, vertritt stattdessen ein Modell der zyklenhaften Entfaltung in dem Individuen und ihre Angehörigen unterschiedliche Arbeitsverhältnisse kombinieren. Dieses Modell quantitativ zu unterfüttern erlaubt das vorhandene statistische Material z. Z. nicht; qualitativ aber lässt sich feststellen, „dass unbezahlte Haus-, Subsistenz- und Sorgearbeit die Erwerbstätigen erhält und die Voraussetzungen dafür schafft, dass in der monetären Ökonomie Wertschöpfung stattfindet.“(190) Weitere Langfristtendenzen sind Monetarisierung, Verselbstständigung von Erwerbsarbeit aus dem Lebenszusammenhang, Ersatz unfreiwilliger durch freie Arbeit, Hausfrauisierung, Proletarisierung (Ersatz selbstständiger durch unselbstständige Arbeit) und zunehmende Formalisierung und Regulierung der Erwerbsarbeit.

Die Gleichzeitigkeit regional unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse ist Voraussetzung für den jeweiligen Gewinn-Transfer in die Metropolen, wobei in letzter Zeit neue Industriestaaten in die Fußstapfen der alten Kolonialmächte treten. Dabei findet „eine ständige Reproduktion von Ungleichheit (statt). Ein entscheidender Faktor…ist die Aneignung von Mehrwert aus bezahlter Arbeit durch denjenigen, der eine unselbstständige Arbeitskraft beschäftigt. Mit dieser erhält er auch Zugriff auf deren unbezahlt arbeitende Familienangehörige…jede bezahlte gewanderte Arbeitskraft transportiert…die unbezahlte Arbeit vom Ort ihrer Erbringung an den Ort ihrer Aneignung.“(192/3)

USA: Sklaven bei der Baumwollernte

USA: Sklaven bei der Baumwollernte

( unknown/gemeinfrei)

Hier knüpft Sven Beckerts Werk inhaltlich an: Im Eingangskapitel stellt er den über tausendjährigen Aufstieg der Baumwolle zum in jeder Hinsicht globalen Rohstoff dar, gefolgt von der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus in den folgenden sieben Kapiteln. Dabei erweist sich die Herausbildung und Veränderung internationaler Verbindungen seit frühester Zeit als zentrales Moment. Frühe Verlagssysteme und erste Manufakturen wurden seit dem 16. Jahrhundert durch Gewaltanwendung und Handelskompanien der späteren imperialistischen Mächte mit staatsähnlichen Souveränitätsrechten in ihren Mandatsterritorien „ergänzt“. Der zunächst eigenwillig klingende Beckert’sche Begriff „Kriegskapitalismus“ wird hier plausibel begründet insbesondere im Hinblick auf die zentrale Rolle von Sklaverei und Sklavenhandel, nicht nur für den Bedeutungszuwachs der Baumwolle als die Industrialisierung auslösender Rohstoff, sondern auch für den Siegeszug des Kapitalismus überhaupt und die Jahrhunderte währende Vorherrschaft europäischer Mächte. Die im Kriegskapitalismus wirkenden Mechanismen und die des Übergangs zum Industriekapitalismus erklärt der Autor detailliert und ausgesprochen nicht-eurozentrisch auf Grundlage einer beeindruckend breiten Quellenbasis z. T. durchaus ungewöhnlicher Natur; es lohnt sich bei der Lektüre immer wieder ein Blick in den Anmerkungsapparat! Als Nebeneffekt der Lektüre wird mit der Vorstellung der bürgerlichen Sozialwissenschaften, dass Kapitalismus und parlamentarische Demokratie entwicklungsgeschichtlich gewissermaßen Zwillingsschwestern seien, gründlich aufgeräumt.

Der Autor verdeutlicht insbesondere die historisch kontinuierliche Internationalität von Produktion, Verarbeitung und Vertrieb der Baumwolle als Schlüsselrohstoff nicht nur der Frühindustrialisierung in Verbindung mit sich wandelnden kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen und deren unterschiedliche Ausprägungen in verschiedenen Teilen der Welt. Dabei ergeben sich als „Nebenprodukt“ immer wieder anschauliche Beschreibungen regional unterschiedlicher Arbeits- und Lebensbedingungen. Besonderes Gewicht legt Beckert in mehreren Kapiteln auf die USA, den Bürgerkrieg der 1860er Jahre und seine Folgewirkungen für das weltweite Baumwollimperium; in diesem war das Land durch die einzigartige Gleichzeitigkeit von hochentwickelter Industrie und Sklavenhaltung charakterisiert was in der Folgezeit zu substantiellen Veränderungen der Plantagenarbeit führte. Die weltweite Expansion des Kapitalismus im Zeitraum nach dem amerikanischen Bürgerkrieg führte in der gesamten Peripherie zur Durchdringung mit Kapital und Fertigprodukten und in der Folge bezüglich (nicht nur) der Baumwolle dort zur Zerstörung lokaler und regionaler Produktions- und Vertriebsstrukturen gefolgt von der Schaffung von Imperialismus-kompatiblen Monokulturen. In der Folge waren Subsistenzbauern von globalen langfristig sinkenden Preisen existentiell betroffen.

Der begrenzt erfolgreiche Kampf der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Metropolen, die Entkolonialisierung und die zeitweilige Systemkonkurrenz führten schließlich zu einer Situation in der die Baumwollverarbeitung wieder im Niedriglohnbereich des globalen Südens profitabel wurde.

Die räumliche und zeitliche Zusammenführung von politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten und Entwicklungen weltweit und ihre Interpretation im Hinblick auf das sich wandelnde Verhältnis von Kapital und Arbeit, gewaltsamen und friedlichen (besser: weniger gewaltsamen) Durchsetzungsmitteln sind die Stärke dieses Werks. Deutlich wird die zerstörerische und schöpferische Kraft des Kapitalismus in der bisherigen Weltgeschichte wobei die Bezugnahme auf den Rohstoff Baumwolle gut begründet ist, aber dennoch zentrale Schlussfolgerungen verallgemeinerbar sind. Insofern ist der Untertitel „Geschichte des globalen Kapitalismus“ durchaus gerechtfertigt.

Dass Komlosy diesen „globalhistorischen“ Anspruch nicht ganz so konsequent erfüllen kann ist nicht der Autorin sondern in erster Linie ihrem stärker theorielastigen Ansatz in Verbindung mit zwangsläufig häufig schmalerer empirischer Grundlage geschuldet.

Beide Bücher stellen in unterschiedlicher Weise die eine oder andere bestehende Gewissheit der Lesenden in Frage während sie andere wiederum durchaus bestätigen; welche das jeweils sind möge jede/r selbst herausfinden; die parallele Lektüre wird ausdrücklich empfohlen.

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"Arbeit + Baumwolle = Kapitalismus", UZ vom 20. November 2015



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