Wie ein Wirtschaftshistoriker und früherer Kommunist erklären kann, dass wir in der besten aller Welten leben

Utopischer Kapitalismus

„Der Kapitalismus ist und war von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen“ – das ist die Bilanz und das Versprechen, die Werner Plumpe aus der Geschichte des Kapitalismus ableitet. Plumpe, Professor an der Frankfurter Universität, gehört zu den Einflussreichen unter den deutschen Wirtschaftshistorikern. 2019 legte er mit „Das kalte Herz“ eine dem Anspruch nach umfassende Geschichte des Kapitalismus vor – und zeigt auf 800 Seiten, welche Voraussetzungen nötig sind, um behaupten zu können, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. In Plumpes Darstellung erscheint der Kapitalismus von seinen schmutzigen Seiten gesäubert und die marxistische Kritik als ideologische Phantasie.

Engels‘ rhetorischer Trick

Von Kapitalismus will Plumpe ab dem Punkt in der Geschichte sprechen, an dem sich die kapitalintensive Massenproduktion durchgesetzt hat. Für die Massenproduktion sei die Nachfrage vermögender Haushalte zu gering – „der Kern und die Bedingung der kapitalistischen Massenproduktion ist die Nachfrage der nichtvermögenden Menschen“. Um das nachzuweisen, setzt er Schwerpunkte: „Zum Beispiel erfährt man viel über Angestellte und Konsum, aber wenig über Lohnarbeit, Abhängigkeitsverhältnisse und Arbeiterproteste“, schreibt Jürgen Kocka in seiner Rezension.

Natürlich weiß Plumpe, dass der Aufstieg des Kapitalismus mit „rasch zunehmende(r) soziale(r) Ungleichheit“ einherging. Das (mit Piketty) als „soziale(n) Skandal“ zu sehen lehnt er (mit Keynes) ab: Schließlich seien die „tatsächlich in wenigen Händen konzentrierten industriellen Gewinne“ nicht konsumiert, sondern investiert worden – und damit „produktiv“ verwendet. Das läuft darauf hinaus: Wenn Profite akkumuliert werden, um mehr Profite zu machen, ist es legitim, dass einige wenige den Reichtum und die Arbeit der ganzen Gesellschaft kommandieren.

Für das Massenelend, das es in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaften immer wieder gegeben hat, gibt Plumpe jeweils unterschiedliche Ursachen an. Man dürfe nicht vereinfachen – dieses Elend auf den Kapitalismus zurückzuführen, geschehe „vor allem durch den schon von Engels genutzten rhetorischen Trick, in der Tat unhaltbare soziale Zustände wie die der irischen Arbeiterslums von Manchester einfach der ‚kapitalistischen Gesellschaft‘ als typisch zu unterstellen“.

Die Ursache des Elends im Kapitalismus zu sehen, ist für Plumpe deshalb nur ein „rhetorischer Trick“, weil der Kapitalismus eben kein System oder eine Gesellschaftsordnung sei, sondern nur eine „Art des Wirtschaftens“: Kapitalintensive Produktion, von privaten Unternehmern organisiert, von Märkten vermittelt. Die Ökonomie als Basis, die Produktionsweise als das, was alle gesellschaftlichen Verhältnisse prägt? Für Plumpe leidet Marx‘ Analyse des Kapitalismus unter ihrer „geschichtsphilosophischen Aufladung“. Aber auch Plumpes Erzählung ist geschichtsphilosophisch aufgeladen: Mit Niklas Luhmann geht er davon aus, dass Politik und Wirtschaft voneinander eigenständige Funktionsbereiche der Gesellschaft sind, die sich nach je eigenen Regeln und Maßstäben verändern.

Von Schmutz gesäubert

Mit diesen Begriffen als Grundlage kann Plumpe die Geschichte so erzählen, dass der Kapitalismus als von Schmutz gesäubertes Zukunftsversprechen erscheint.

Er konzentriert sich auf Westeuropa, insbesondere Deutschland, und Nordamerika, die Ausflüge in andere Weltgegenden bleiben knapp. Schon damit „geraten die dunkelsten Seiten des modernen Kapitalismus aus dem Blick, so der frühneuzeitliche Plantagen-Kapitalismus auf der Basis unfreier Arbeit und die Ausbeutung im globalen Süden heute“, stellt Kocka fest. Die Aufteilung der Welt unter die Großmächte, die Ausbeutung der Kolonien, die wirtschaftlichen Verflechtungen von Peripherie und Zentren kann Plumpe auf wenig mehr als drei Seiten abhandeln. Für die Entwicklung des Kapitalismus seien die Kolonien kaum relevant gewesen, die Ausbeutung der Kolonien lasse sich nicht als „typisch kapitalistisch“ fassen. Die Grausamkeiten der Kolonialherren „waren weniger Folge der Ausdehnung kapitalistischer Verfahrensweisen als vielmehr in der Tat das Ergebnis einer Art imperialistischer Konkurrenz um die Landnahme in Afrika und Reaktion auf Widerstandshandlungen der dortigen Bevölkerung“. Plumpe wendet seine Begriffe konsequent an: Koloniale Expansion ist eine Angelegenheit der Politik, weniger der Wirtschaft. Mehr zu sagen hat er über die neue Kultur des Massenkonsums und die Lebenswelt der Angestellten.

Überhaupt stellt er den imperialistischen Drang zur Expansion eher als eine Frage des Zeitgeistes im frühen 20. Jahrhundert dar. Der Erste Weltkrieg war „letztlich auch ein eminent situatives Ereignis, das keiner inneren Logik, schon gar nicht der Wirtschaft folgte“. Die deutschen Unternehmer hätten kein Interesse an einem Krieg gehabt. Plumpe hält für entscheidend, dass die deutsche Industrie erst nach Kriegsbeginn ihre genauen Forderungen zu den Kriegszielen vorgelegt habe – die Unternehmer hätten den Krieg nicht vorangetrieben, sondern sich mit der neuen Situation arrangiert. Aus dem Funktionsbereich der Politik seien den Unternehmern die Anreize gesetzt worden, die sie erst dazu brachten, am Krieg zu verdienen – nachdem der Krieg sie von ihren Märkten abgeschnitten hatte. Was hätten sie anderes tun sollen, als auf diese Anreize zu reagieren? Für die Dauer des Krieges sei der Kapitalismus „suspendiert“ worden. „Der Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, so schlagend er auf den ersten Blick zu sein scheint, ist bei genauerem Hinsehen also sehr viel komplexer. Im Grunde parasitiert der Krieg den Kapitalismus, dessen Akteure sich über Wasser halten, indem sie die Kriegsproduktion für sich nutzen.“

Nach demselben Muster beschreibt Plumpe das Verhältnis von Nazi-Staat und Kapital: Mit Wirtschaft hatte das nichts zu tun, die Unternehmer konnten nichts dafür. Die Nazis hätten den Kern der kapitalistischen Ordnung „ausgehöhlt“, es handele sich bei der Wirtschaft des deutschen Faschismus „um einen in seinen Handlungsmöglichkeiten politisch restringierten und gesteuerten Kapitalismus sowie um dessen möglichst effiziente Nutzung zugunsten der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft“. Dass das Kapital am Naziterror und am Krieg verdiente, lag für Plumpe daran, „dass der Staat einerseits wesentliche Momente der kapitalistischen Wirtschaftsordnung suspendierte oder in ihrer Bedeutung weitgehend einschränkte, andererseits mit monetären Anreizen Handlungsvarianten begünstigte, die unter regulären Marktbedingungen von den Akteuren nicht oder bestenfalls selten in Betracht gezogen worden wären“. Dass die Dynamik des Kapitalismus selbst zu einer Welt geführt hat, in der weite Teile von wenigen Großmächten beherrscht werden, deren Wettkampf sie in zwei Weltkriege getrieben hat, kann Plumpe mit seinen Begriffen als marxistische Einbildung abtun. Im Gegenteil: Weltweit sei im Zweiten Weltkrieg „die kapitalistische Wirtschaftsordnung in der Tat fast verschwunden“.

Durch Krise zum Licht

Plumpe zeichnet den Kapitalismus als Wirtschaft mit unglaublicher Dynamik, als ständigen Strukturwandel, als „andauernde Revolution“. Diese Dynamik sei zwar zwischenzeitlich von politischen Eingriffen unterbrochen worden und auch in Zukunft bedroht – das Potential der Marktwirtschaft sei jedoch unendlich. Die Tendenz zu Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die bis zur Bildung von Monopolen führt, habe es nur punktuell gegeben, es handele sich um eine unzulässige Verallgemeinerung der Marxisten. Das zeige die Globalisierung: „Weltwirtschaftlich betrachtet, gibt es kaum große Unternehmen.“ Er legt sogar nahe, dass es unmöglich ist, dass Unternehmen eine wirklich marktbeherrschende Stellung einnehmen – denn das Potential der Märkte sei „letztlich gar nicht begrenzt“. Die Überakkumulation von Kapital kann in dieser Sicht nicht dazu führen, die Dynamik des Kapitalismus zu bremsen und seine Krisen zu verschärfen. Über die USA der 1920er Jahre schreibt Plumpe: „Die vor allem binnenwirtschaftlich geprägte US-Wirtschaft zeigte auch, dass es keineswegs imperialistischer Handlungsweisen bedurfte, um die Märkte auszuweiten und neue Marktchancen zu schaffen, damit das vorhandene Kapital profitabel eingesetzt werden konnte. Der Markt, das belegten die USA jetzt in eindringlicher Weise, ist gar nicht begrenzt; er ist endlos erweiterbar, und zwar im eigenen Land.“

Dann kam die Weltwirtschaftskrise von 1929. Einen Hinweis darauf, dass die Dynamik der Kapitalakkumulation durchaus an Grenzen stieß, will Plumpe darin nicht sehen: „Der konjunkturelle Abschwung 1929 war für die kapitalistische Ordnung eine durchaus typische Erscheinung, nicht jedoch ihre Dauer und Tiefe, die in hohem Maße auf die ungelösten Probleme der 1920er Jahre verweist, deren Ursache wiederum nicht in ökonomischen, sondern in politischen Fehlern zu suchen ist.“ Zu den Gründen, dass dieser Abschwung zur bis dahin schärfsten Krise des Kapitalismus werden sollte, zählt Plumpe die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und seiner „durch die Pariser Friedensverträge verschärften Folgen“ – und eine „stark expansive Wirtschafts- und Sozialpolitik“ unter anderem in der Weimarer Republik. „Die Weltwirtschaftskrise war mithin kein Lehrstück über den Kapitalismus“, ihre Schärfe sei vielmehr Ausdruck „der aufgestauten, zumeist politisch verursachten oder politisch nicht bewältigten Probleme“. Der Politikwissenschaftler Michael Krätke sieht bei Plumpe deshalb ein „dogmatisches Herunterspielen der großen und kleinen Krisen in der Geschichte des Kapitalismus“. Und so, wie Plumpe diese Krisen beschreibt, deuten sie eben nicht auf ein mögliches Ende des Kapitalismus, sondern beweisen seine Vitalität.

Wenn Plumpe den Kapitalismus im Untertitel eine „andauernde Revolution“ nennt, meint er damit auch, dass die immer neuen Umwälzungen der kapitalistischen Wirtschaft unendlich andauern werden, „wobei die Leistungsfähigkeit dieser Art des Wirtschaftens zumindest im Trend dauerhaft zunimmt“. Mit dieser Sicht auf die Geschichte kann er den Kapitalismus als Zukunftsversprechen deuten: „Steigender Wohlstand, steigende Güternachfrage, steigende Produktion und steigende Einkommen: Im wirtschaftlichen Alltag der USA etablierte sich eine Spirale, der prinzipiell kaum Grenzen gesetzt waren.“

Abbitte geleistet

Durch das ganze Buch hindurch bezieht sich Plumpe immer wieder auf die marxistische Analyse und Geschichtsschreibung – allerdings weniger, indem er versucht, sie zu widerlegen. Er verteilt Seitenhiebe in langer Reihe. Der Marxismus ist für ihn erledigt – theoretisch wie biografisch: Plumpe war selbst Marxist. Bis 1989 war er Mitglied der DKP.

Plumpe, Jahrgang 1954, kam Anfang der 1970er Jahre zur SDAJ und später zur DKP. Ihn zog zum einen an, dass er hier, anders als in anderen politischen Gruppen, Arbeiterjugendliche aus den Bergarbeitervierteln kennenlernen konnte. Und zum anderen die theoretische Debatte: „Es ging einerseits um Gesellschaftskritik, andererseits um wissenschaftlichen Sozialismus, also darum, die Gesellschaft zu begreifen und aus diesem und durch dieses Begreifen zu verändern“, schreibt er in einem Beitrag für einen Blog der „FAZ“.

Heute ist er kein Linker mehr. Aber schon damals war er von dem Teil der Linken abgestoßen, der moralisierte statt zu analysieren – sie waren ihm theoretisch zu anspruchslos.

Theoretisch anspruchsvoll blieb er auch nach der Konterrevolution, als es den Anschein hatte, dass der Sozialismus gescheitert sei: Er brach besonders gründlich mit seinen bisherigen Überzeugungen und trat aus der der DKP aus. Nun kam er zu dem Schluss, „dass keine Planwirtschaft bislang das geleistet hatte, was sie auf der Basis der Kritik an der kapitalistischen Anarchie gerade versprochen hatte, eine krisenfreie, ausgeglichene Entwicklung der Produktivkräfte und eine dauernde Verbesserung des Lebensniveaus der Menschen“. Die Ursache liege in „strukturellen Schwächen, die – das wurde mir klar – genau die relativen Stärken einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung spiegelten. Seither kann ich nicht mehr aus grundsätzlichen Überlegungen eine Wirtschaftsordnung kritisieren, zu der es zumindest bislang keine plausible Alternative gibt“.

Der Sieg der Konterrevolution ist die Tatsache, von der Plumpe ausgeht: Wenn der Sozialismus gescheitert ist, kann es nicht überzeugen, dass die Entwicklung des Kapitalismus eben zum Sozialismus drängt.

Blanke Demagogie

Den Utopismus der heutigen Linken kritisiert Plumpe. Er selbst schreibt die Geschichte des Kapitalismus so, dass er seine eigene Utopie vom Kapitalismus produziert, der in einer unaufhörlichen Spirale zum immer Besseren führt. Jürgen Kocka liest aus Plumpes Buch einen „überzogen affirmativen Grundton der Verteidigung“ heraus.

Wenn es keine Alternative gibt, kann Gesellschaftskritik kaum überzeugen. Auch dabei ist Plumpe konsequent: Heute, sagt er, „sympathisiere ich mit der Welt, in der ich lebe, nicht zuletzt, weil sie gerade wegen ihrer marktwirtschaftlich-liberalen Verfassung ganz ordentlich funktioniert und für Änderungen offen ist, weil sie Gestaltungsspielräume schafft und nicht politisch schließt“. Und: „Eine Skandalisierung der Ungleichheit ist deswegen immer noch blanke Demagogie, weil dabei die Bedingungen einer leistungsfähigen Ökonomie entweder bewusst verdeckt oder schlicht ignoriert werden.“

Werner Plumpe 
Das kalte Herz.‘ 
Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution
Rowohlt, 2019, 800 S., 34,- Euro.

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"Utopischer Kapitalismus", UZ vom 29. Januar 2021



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