Besinnen auf Solidargemeinschaft

Von Rainer Perschewski

Rainer Perschewski

Rainer Perschewski

Die Aufregung in der Tarifrunde 2016 unter der Belegschaft war groß, als die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ihren Tarifabschluss verkündete: Sechs Tage mehr Urlaub oder eine Stunde Arbeitszeitverkürzung habe die Gewerkschaft für ihre Mitglieder durchgesetzt. Sofort klingelten die Telefone mit den Nachfragen, ob dieser Tarifabschluss tatsächlich nur für EVG-Mitglieder gelte. Auch in der gerade abgeschlossenen Tarifrunde betonte die EVG, dass sie nur für ihre Mitglieder verhandelt habe, und diese bestimmen, in welche Richtung der Arbeitskampf geht. Das ist das Grundprinzip eines jeden Tarifvertrages. Die getroffenen Regelungen gelten zunächst einmal nur für die Mitglieder der Tarifparteien. Das wird zunehmend nach den Tarifrunden von den Gewerkschaften im Betrieb auch so transportiert. Natürlich hat es seine Gründe, dass die Unternehmen den Tarifvertrag auf alle Beschäftigten anwenden. Der Ärger über die „Trittbrettfahrer“ ist entsprechend. Die Forderung, Vorteilsregelungen explizit nur für Mitglieder zu verhandeln, ist daher verständlich und eine Forderung, die von den Mitgliedern an die Tarifkommissionen herangetragen wurde.

Im Tarifgebiet der EVG existiert seit Dezember 2005 der „Sozial-Sicherungs-Tarifvertrag“, er gilt in Betrieben der Deutschen Bahn AG und inzwischen in zahllosen kleinen Verkehrsunternehmen. In letzteren wurde er – neben den Entgeltverträgen – mehrfach erst nach der Durchführung von Warnstreiks durchgesetzt. Der Tarifvertrag enthält unter anderem Leistungen wie einen Zuschuss für Kita-Gebühren oder Seh- und Hörhilfen, Härtefondsregelungen für in Not geratene Beschäftigte, Mitgliedschaft in der gewerkschaftlichen Unfallkasse (GUV), Gesundheitsvorsorge oder Bildungsförderung. Ein Leistungspaket, welches bei regelmäßiger Inanspruchnahme für viele unterm Strich über den Gewerkschaftsbeitrag liegt. Ein Leistungspaket, welches sich bewusst auf soziale Leistungen stützt. Damit unterstreicht die EVG ihren Anspruch „Wir leben Gemeinschaft“.

In Verbindung mit dem System der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen, die in der EVG auch über eigene Finanzen verfügen und hier zusätzlich gemeinschaftliche Aktivitäten entfalten, sind diese „Vorteilsregelungen“ nichts anderes als die Rückbesinnung auf den Gedanken der Solidargemeinschaft. Durchsetzen kann es die Gewerkschaft, weil sie über die Organisationsmacht verfügt, denn auch diese Regelungen gibt ein Unternehmen nicht freiwillig. Dennoch rennen die Beschäftigten der EVG nicht die Tür ein. Zwar steigt seit einigen Jahren innerbetrieblich der Organisationsgrad, aber im Verhältnis zu den möglichen Leistungen nur mäßig.

Eine interne Befragung von neuen Mitgliedern zeigt auch warum: Der Hauptgrund für den Eintritt sind nicht die speziellen Leistungen, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die der „Ellenbogenmentalität“ etwas entgegensetzt.

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"Besinnen auf Solidargemeinschaft", UZ vom 4. Januar 2019



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