Demokratie verstanden

Olaf Scholz hat es oft getan. Er tat es für die Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni, für das Land Baden-Württemberg zum 70. und für die Drogeriekette dm zum 50. Geburtstag. Sogar für die Queen hat er es getan – wenige Monate später war sie tot. Doch bei den russischen Präsidentschaftswahlen war dann Schluss mit lustig. „Der Bundeskanzler hat nicht gratuliert“, durfte die stellvertretende Regierungssprecherin bekanntgeben, um des Kanzlers kalte Schulter in die Welt zu tragen.

Zugleich schlug die Stunde der Sprachkünstlerin Annalena Baerbock: „Die Wahl in Russland war eine Wahl ohne Wahl.“ Im Wahlvorgang zeige sich „das ruchlose Vorgehen Putins gegenüber seinem eigenen Volk“. So etwas kann einem Vorzeigedemokraten wie Wladimir Selenski nicht passieren. Der ukrainische Präsident hatte die Präsidentschaftswahlen im eigenen Land gleich ganz abgeblasen. Nun warf er Putin vor, „eine weitere Wahl simuliert“ zu haben. Sein russischer Amtskollege würde alles tun, „um lebenslang zu regieren“.

Die deutschen Zeitungen hatten auch eigene Interpretationen des Wahlakts zu bieten. Die „Frankfurter Rundschau“ wusste schon Ende letzten Jahres, dass es sich um ein „Referendum für den Kriegskurs des Kremlchefs“ handeln würde. Weder hierzulande noch in der Ukraine wurde bislang über den Kriegskurs abgestimmt. Ein Referendum? Das wollen wir auch!

Bleibt noch die Riege derer, die das Ergebnis schon vor der Wahl kannten, die die Medienmacht der herrschenden Klasse geißelten und vorhersagten, dass nach der Wahl alles anders werde als versprochen. „Willkommen in der bürgerlichen Demokratie!“, möchte man ihnen zurufen. Bald wird das EU-Parlament gewählt, ein Vorgang, der mit „Pseudowahl“ wohlwollend umschrieben ist. Denn im Gegensatz zum russischen Präsidenten hat dieses Parlament nicht viel zu sagen – von Wahlversprechen, Medienvielfalt und Meinungsfreiheit ganz zu schweigen. Um ihre Legitimation müssen die Wahlen im Westen Europas trotzdem nicht fürchten. Schließlich wird der deutsche Kanzler am Ende gratulieren.

Über den Autor

Vincent Cziesla, Jahrgang 1988, ist seit dem Jahr 2023 Redakteur für das Ressort „Politik“. Der UZ ist er schon seit Jahren als Autor und Verfasser der „Kommunalpolitischen Kolumne“ verbunden. Während eines Praktikums lernte er die Arbeit in der Redaktion kennen und schätzen.

Cziesla ist Mitglied des Neusser Stadtrates und war von 2014 bis 2022 als hauptamtlicher Fraktionsgeschäftsführer der Linksfraktion in Neuss beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet er in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung.

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"Demokratie verstanden", UZ vom 22. März 2024



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