Die absolute Freiheit von Widersprüchen

Moritz Baßler findet Realismus scheiße. Realismus aber ist hier, was der essayistisch aktive Literaturwissenschaftler Baßler denkt, dass es ist. Baßler denkt allgemein sehr oft, dass etwas so ist, wie er sich denkt, dass es ist. Aber von Anfang.

2012 lieferte Baßler im Band „Kommunikation im Populären. Interdiszi­plinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen“ (Hg.: Roger Lüdecke) einen spärlich beachteten Essay ab mit dem Titel „Populärer Realismus“. Die darin enthaltene Definition von Eingängigkeit, sie sei „ein Verfahren (…), die Technik, so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte“, trägt den fehlerhaften Verweis, dass dies den Begriff des Realismus erkläre. Dass Baßler als Berufsleser und produzierender Konsument von Literatur die von ihm fälschlich als Realismus titulierte Eingängigkeit nicht abkann, mag man ihm nicht verübeln. Die Beispiele, die er anführt – darunter Daniel Kehlmann und Bernhard Schlink – geben auch Anlass zur Abneigung. Was hier als „populärer Realismus“ rumgeht, der „Hochliteratur sein und sich gut verkaufen“ will zugleich, ist unverkennbar an der Marktform orientiert geschrieben und hat sich meist schon für die Verfilmung im voreiligen Gehorsam zurechtsterilisiert.

Die Heldinnen in Baßlers Geschichte sind dagegen die Avantgarden mit ihrer „erschwerten Form der Darstellung“ und ihrer „Ent-Automatisierung“, deren Nachhall höchstens noch in der meta-ironischen Ausstellung von Waren und Understatement im Poproman anklingt. Der „populäre“ und überhaupt der „Realismus“, wie Baßler ihn nennt, kommt dagegen nicht an, liefert höchstens kleine südamerikanische Trostpflästerchen. Spätestens hier mag man dem Baßler nicht mehr verzeihen, dass er sich nicht damit befassen will, was Realismus eigentlich ist, wenn er die Willkür seiner Geschmacksnerven entscheiden lässt, was gut/Avantgarde/welthaltig ist (z. B. James Joyce‘ „Ulysses“) und was „Realismus“, sei er magisch oder populär oder beides und damit mediokre Scharlatanerie. Nur zur Erinnerung: der sozialistische Realismus brachte unter anderem einen Hermann Kant hervor, der magische einen Roberto Bolaño – und der von Baßler nicht zu Unrecht gelobte Juan S. Guse bedient sich in seiner Science Fiction ebenso realistischer Verfahren. Aber was erwartet man, wenn im Realismusverständnis Kategorien wie Aneignung der Wirklichkeit und Widerspiegelung nach Kunstgesetzen fehlen, weil sie die Eigenwahrnehmung zu sehr verunsichern?

Na ja. Das Feiern jenes Mittelmaßes aus dem Hause Murakami Haruki und Co. nannte Baßler 2012 „Midcult“. Heute ist er, ihm zufolge, im identitätspolitischen Einband neu aufgelegt. Darin verausgabt sich auch sein im 18. Heft der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“ erschienenes Update. Darum – weil es die in Hochkonjunktur steckende politische Korrektheit tangiert – erfährt es Beachtung.

Im „Der Neue Midcult“ überschriebenen Essay greift Baßler wieder zu Einzelfällen, um seiner Grundsatzkritik Fleisch zuzufügen. Ein Beispiel: Anke Stellings breit gelobter Roman „Schäfchen im Trockenen“ (2018). Dem attestiert er, „topischer Schwäbisch-Berliner Bohème-Leftism-gone-sour mit hohem Mimimi-Faktor“ zu sein. Autorinnen wie Anke Stelling und Co. setzen Inhalte, wie redlich sie auch immer sein mögen, im Fall von „Schäfchen im Trockenen“ Verdrängung und diskriminierendes Verhalten, hoch an. Mit der Form dagegen wird umgegangen wie von Fahrern bei Destruction-Derbys mit ihren Karossen: Mit viel Ach und noch mehr Krach ins Ziel fahren, den politischen Inhalt transportieren. Eine Binse: Schlechte Literatur vermittelt Ideologie schlecht. Die absolute Freiheit von Widersprüchen im Denken tut nicht gut, weder Politik noch Literatur. „Freilich, 1 Erscheinungsebene + 1 Erzählerüberzeugung machen noch keinen Realismus“, schrieb Peter Hacks mal an Ronald M. Schernikau. Politische Flugblätter, zaghaft mit einem Plot unterlegt, sollten ehrlicherweise nicht als Romane verhökert werden.

Baßlers Aufregung ist auch hier nicht grundlos, aber wiederum folgenlos. Wer grundsätzlich mit Begriffen schludert, der erlaubt sich in einer Welt aus Gesetzen (sonst wäre sie keine Welt, sondern viele Welten) halt alles. Geht Baßler ins konkret Politische, dann heißt das so: „Identität aber, A = A, ist schon aus rein semiotischer Warte strukturell rechts.“ Ja? Wir nennen Realismus fortan Eingängigkeit und Konservatismus rechts? Baßlers Thesen sind hier steil wie die Eigernordwand.

Die Rückführung der Literatur als ein Destillat irgendeiner interessenfreien Ursuppe geht grundsätzlich schief, weil sie daran vorbeigeht, was Kunst bedeutet: das stets – ob gewollt oder nicht – parteiliche Greifen der Welt nach Kunstmaßstäben.

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Die absolute Freiheit von Widersprüchen", UZ vom 20. August 2021



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