Höhere Arbeitsbelastungen verkürzen das Leben

Die Armen sterben eher

Von Ulf Immelt

Statistisch gesehen steigt die Lebenserwartung in Deutschland seit Jahrzehnten. Das nehmen Kapitalvertreter und die ihnen nahestehenden Teile der Wissenschaft zum Anlass, immer wieder neue Anhebungen des Renteneintrittsalters zu fordern. Die Begründung hierfür ist die gleiche, die schon bei der Durchsetzung der Rente ab 67 in den 2000er Jahren funktioniert hat: „Wir leben immer länger, und wer länger lebt, kann auch länger arbeiten.“

Schon heute scheiden jedes Jahr über 200 000 Versicherte vor dem 65. Lebensjahr wegen Krankheit oder gar Tod aus dem Erwerbsleben aus. Daher wäre eine erneute Anhebung des Renteneintrittsalters nichts anderes als ein weiteres Rentenkürzungsprogramm.

Gern verschwiegen wird in der Rentendebatte, dass die Lebenserwartung nicht für alle gleichermaßen ansteigt. Wie bei der Vermögensverteilung geht auch hier die Schere immer weiter auseinander: Arme Menschen sterben zehn Jahre früher als reiche. Hinzu kommt, dass Arme deutlich häufiger unter schwerwiegenden chronischen Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes oder Lungenerkrankungen leiden.

Eine aktuelle IAB-Studie hat außerdem aufgezeigt, dass Menschen mit einer hohen Arbeitsbelastung deutlich früher sterben. Die in der Studie so bezeichnete ferne Lebenserwartung liegt bei Menschen mit einer niedrigen Arbeitsbelastung knapp zwei Jahre über dem Durchschnitt, bei Menschen mit einer sehr hohen Belastung ein Jahr darunter. Dies trifft auf alle Branchen und Berufsgruppen zu.

Menschen mit niedrigem Einkommen und/oder starken Belastungen am Arbeitsplatz profitieren also kaum von der vielbeschworenen höheren Lebenserwartung. Gleichzeitig werden diejenigen, die zu den Gewinnern unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gehören, deutlich älter und heben so die statistische Lebenserwartung an. Die Folge dieser Entwicklung für die gesetzliche Rentenversicherung ist eine Umverteilung von unten nach oben: Die Kolleginnen und Kollegen, die ihr Leben lang Beiträge zur Rentenversicherung bezahlt haben und dann im Durchschnitt vielleicht nur noch vier oder fünf Jahre Rente beziehen können, finanzieren im Grunde genommen die Rente der Wohlhabenderen und länger Lebenden mit. Man kann diesen Sachverhalt entweder als einen gesellschaftspolitischen Skandal oder schlicht als ganz normalen Kapitalismus bezeichnen.

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"Die Armen sterben eher", UZ vom 2. August 2019



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