Was die in Merkels Regierungszeit offiziell halbierte Arbeitslosigkeit bedeutet

Einschüchterungsstrategie

Von Lucas Zeise

Glückliches Deutschland! Welch segensreiche zwölf Jahre hat dir diese Kanzlerin beschert. Über alle drei ihrer Regierungsperioden hinweg, in trauter Zusammenarbeit mit SPD, dann FDP, dann wieder bis heute die SPD, fast jedes Jahr ging die Arbeitslosigkeit zurück. Nur im Krisenfolgejahr 2009 war es anders.

Frau Merkel und die von ihr geführte Partei, die CDU, rühmen sich im Wahlkampf, dass sich seit Beginn ihrer Kanzlerschaft die Arbeitslosigkeit in Deutschland halbiert habe. Was die Zahlen betrifft, haben sie Recht. Das Jahr 2005, als Angela Merkel ihre erste Regierung – auch damals mit den Sozialdemokraten – bildete, erreichte die Zahl der Arbeitslosen einen langjährigen Höchststand. 4,86 Millionen Menschen waren im Jahresdurchschnitt arbeitslos gemeldet. Im Durchschnitt des Jahres 2017 sind es bisher 2,6 Millionen. Die offizielle Arbeitslosenquote (Zahl der Arbeitslosen bezogen auf die Zahl der Erwerbspersonen) ist von 11,7 damals auf 5,9 Prozent heute zurückgegangen, was arithmetisch der Halbierung noch näher kommt.

Wie erklärt sich der große Erfolg? Die Kanzlerin selber betont, dass in den zwölf Jahren ihrer Regierungszeit viele neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden seien. In Wirklichkeit waren das die wenigsten. Die Mehrheit waren prekäre, schlecht bezahlte, nicht sozialversicherungspflichtige Jobs, die ihren Mann oder ihre Frau nicht ernähren, aber die Statistik aufhübschen. 44 Millionen Personen mit Wohnsitz in Deutschland werden als erwerbstätig gerechnet. Jeder ab dem 15. Lebensjahr mit einer Stunde Arbeit im Monat wird dabei mitberechnet und taucht deshalb in der Arbeitslosenstatistik nicht auf. Nur 24 Millionen der 44 Millionen Erwerbstätigen haben einen Vollzeitjob. 15,3 Millionen haben nur oder immerhin einen Teilzeitjob. Jeder 12. Arbeitnehmer hat zusätzlich zu seiner Vollzeitstelle noch einen sogenannten Mini-Job, also ein Beschäftigungsverhältnis auf 450-Euro-Basis. Insgesamt sind in Deutschland 7,3 Millionen Menschen gering beschäftigt, also Mini-Jobber. 4,9 Millionen Personen beziehen ihr Einkommen ausschließlich aus einem Nebenjob. Die Arbeitslosenzahlen sind auch sonst geschönt. Allein die Zahl der Arbeitslosen, die aus Gründen wie Weiterbildungsmaßnahmen, Eingliederung, Krankheit und „über 58 bei Hartz-IV“ aus der Statistik gestrichen werden, liegt bei über einer Million. Zusätzlich geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) davon aus, dass sich 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen gar nicht arbeitslos gemeldet haben.

Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren. Knapp 1 Million Menschen sind dauerhaft in Leiharbeit. Sie verdienen deutlich weniger als Festangestellte. Über 9,6 Prozent der Menschen in Deutschland verdienen unter 869 Euro im Monat und fallen damit unter die Erwerbsarmutsgrenze.

Über eine Million Erwerbstätige in Deutschland sind „Aufstocker“, die unter Hartz-IV-Niveau arbeiten gehen und einen Ausgleich zu ihrem Lohn vom Amt erhalten müssen, um zu überleben. Das Statistische Bundesamt bezeichnet 7,7 Prozent aller Erwerbstätigen als armutsgefährdet.

Der Arbeitsmarkt hat sich in den zwölf Jahren Merkel verändert. Die Arbeit ist auf mehr Personen als früher verteilt. Vor allem schlecht bezahlte Jobs sind hinzugekommen. Während die Lohnentwicklung, gemessen an den Tarifverträgen, mit der Produktivität Schritt gehalten hat, bilden die Leiharbeiter, die gering Beschäftigten und schlecht Bezahlten innerhalb der Arbeiterklasse eine zweite Schicht, deren Lohn- und Lebensniveau zurückbleibt.

Das ist keineswegs Frau Merkels Werk allein. Es ist das Konzept der deutschen herrschenden Klasse. Es wurde von den Arbeitgeberverbänden entworfen und von Merkels Vorgänger im Kanzleramt, Gerhard Schröder, und seiner Regierung eingeleitet. Dass Frau Merkel das Amt des Regierungschefs übernahm, als die gemessene Arbeitslosigkeit einen Höhepunkt erreichte, ist Zufall. Kein Zufall ist es, dass die Massenarbeitslosigkeit alter Prägung vom Kapital nicht mehr gebraucht wird. Eine vielfach zersplitterte Arbeiterklasse kann auch anders eingeschüchtert werden.

Frau Merkel hat angekündigt, die Arbeitslosigkeit bis 2025 noch einmal zu halbieren – auf dann drei Prozent, womit nach Ansicht der herrschenden Volkswirtschaftslehre „Vollbeschäftigung“ erreicht wäre. Wir sollen diese ihre Absicht wahrscheinlich als Drohung begreifen.

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"Einschüchterungsstrategie", UZ vom 8. September 2017



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