Bundesarbeitsgericht erläutert Urteil zur Arbeitszeiterfassung

Ende des Lohnraubs?

Die Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit der Beschäftigten ist der Kapitalseite seit jeher ein Dorn im Auge. Schließlich lassen sich durch das Nichtauszahlen von geleisteten Überstunden zusätzliche Profite generieren. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit kam bereits 2017 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland jährlich 1,8 Milliarden Überstunden geleistet werden. Der DGB hat berechnet, dass dies 45 Millionen 40-Stunden-Wochen entspricht. Und die Mehrheit dieser Überstunden werden nicht bezahlt. Legt man das durchschnittliche Brutto-Monatseinkommen von 3.700 Euro bei Vollzeitbeschäftigten zugrunde, was einem Brutto-Stundenlohn von rund 23 Euro entspricht, wurden den Beschäftigten so pro Jahr mehr als 20 Milliarden Euro an Entgelt vorenthalten. Die Dimension dieses Lohnraubs ist über die Jahre konstant hoch geblieben.

Nun könnte damit Schluss sein. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte bereits Mitte September des vergangenen Jahres geurteilt, dass für alle Unternehmen in Deutschland die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht. Das BAG beruft sich bei diesem vielbeachteten Urteil auf eine Norm aus dem Arbeitsschutzgesetz, die Unternehmen verpflichtet, geeignete Vorrichtungen zur Einhaltung des Arbeitsschutzes zur Verfügung zu stellen.

Da bis zum Ende des vergangenen Jahres lediglich die gerichtliche Pressemitteilung vorlag, war jedoch unklar, welche konkreten Pflichten sich für Unternehmen aus dem Urteil des BAG ergeben. Seit dem 5. Dezember 2022 liegt nun die ausführliche Begründung des Gerichts vor. Darin konkretisieren die Richter die Handlungspflichten für „Arbeitgeber“. Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit müssen tatsächlich erfasst werden. Die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems reicht nicht aus. Die „Arbeitgeber“ müssen sicherstellen, dass die Erfassung der Arbeitszeit durch die Beschäftigten tatsächlich erfolgt. Die Verpflichtung gilt ab sofort und es gibt keine Übergangsfristen.

Der Entscheidung des BAG war ein Urteil des Europäische Gerichtshofs vorausgegangen. Dieser hatte schon im Mai 2019 geurteilt, dass effektiver Arbeitnehmerschutz nur dann gewährleistet wird, wenn die Arbeitszeit erfasst wird. Dazu ist ein „objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“, so die Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs.

Unmittelbare Folgen hatte diese Entscheidung hierzulande jedoch nicht. Der Gesetzgeber beauftragte zunächst Gutachter, um die Auswirkungen des Urteils für Deutschland festzustellen. Diese vertraten die Auffassung, dass zunächst das deutsche Arbeitsrecht geändert werden muss, bevor die Entscheidung des EUGH auch in Deutschland Wirkung entfaltet. Das BAG-Urteil hat dieser Sichtweise widersprochen. Auch ohne Tätigwerden des Gesetzgebers sind Unternehmen verpflichtet, zeitnah Zeiterfassungssysteme zu schaffen und einzurichten.

Diese Pflicht trifft alle Unternehmen ohne Ausnahme. Umgekehrt kann jedoch – nach Auffassung von Arbeitsrechtlern – der Gesetzgeber tätig werden und in bestimmten Umfang Ausnahmen schaffen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat sich hier schon in Stellung gebracht und sich wie folgt zu Wort gemeldet: „Für die Arbeitgeber im Handwerk ist von besonderer Bedeutung, dass bei der Form der Arbeitszeiterfassung vor allem die Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seiner Größe – weiterhin berücksichtigt werden können.“

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat nun angekündigt, die BAG-Entscheidung und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen zu prüfen. Praxisnahe Lösungen sollen gefunden werden, die Flexibilität ermöglichen. Dabei beruft sich der Minister auf den Koalitionsvertrag, in dem sich die Regierungsparteien schon verständigt hatten, flexible Arbeitszeitmodelle – einschließlich der Vertrauensarbeitszeit – zuzulassen. Ob so der seit Jahren im großen Stil praktizierte Lohnraub in Zukunft eingedämmt wird, darf bezweifelt werden.

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"Ende des Lohnraubs?", UZ vom 6. Januar 2023



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