Tarifrunden 2023: Mehr Kämpfe und trotzdem Reallohnverlust

Konsequenter und gemeinsam

Das Jahr 2023 war geprägt von einer ganzen Reihe großer tariflicher Kämpfe: Post, öffentlicher Dienst – erst Kommunen und Bund, zuletzt im Länderbereich –, Einzel- und Großhandel, Bahn und Stahlindustrie. Daneben gab es einige kleinere Tarifkämpfe wie im Kfz-Handwerk, in der Textil-, Kautschuk-, Süßwaren- und Papierindustrie sowie bei der privaten Energiewirtschaft. Die Rahmenbedingungen waren und sind geprägt durch hohe Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Energie, die sich vor allem für die arbeitende Bevölkerung auswirken. Die Bundesregierung heizt die Krise an, verschärft sie mit ihrer kriegstreiberischen Politik. Die Folgen werden der Arbeiterklasse aufgebürdet, das Kapital fährt 2023 hohe Profite ein. Fazit: Die Verteilungskämpfe werden weiter verschärft. Die Gewerkschaftsführungen tragen die Regierungspolitik weitgehend mit. Ein konsequenter Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse müsste sowohl gegen Reallohnverlust als auch gegen Sozialkahlschlag, Aufrüstung und Kriegstreiberei gerichtet sein.

Auffällig sind die Tarifforderungen im Jahr 2023: Sie liegen fast überall bei mehr als 10 Prozent mehr Lohn. Bei der Post waren es sogar 15 Prozent. Etwas niedriger lagen sie in kleineren Branchen wie im Kfz-Handwerk, bei Textil und Bekleidung, aber auch in der Stahlindustrie mit 8 beziehungsweise 8,5 Prozent. Oft führte die Befragung der Mitglieder dazu, dass die Forderungen nach oben korrigiert wurden.

Positiv auch der Trend, dass Prozentforderungen mit Mindest- beziehungsweise Festgeldbeträgen kombiniert wurden. Im öffentlichen Dienst und der Süßwarenindustrie waren dies 500 Euro, bei der Deutschen Bahn 650 Euro und in kleineren Branchen zwischen 200 und 300 Euro. Mindestbeträge konnten zum Beispiel bei der Post und im öffentlichen Dienst (340 Euro), in der Textil- und Bekleidungsindustrie (230 Euro) sowie der Kautschukindustrie (250 Euro) durchgesetzt werden. In manchen Branchen wurden die unteren Entgeltgruppen überdurchschnittlich angehoben (so im öffentlichen Dienst und bei der Post). Das ist eine gute Entwicklung, weil dadurch die Schere innerhalb der Klasse nicht weiter auseinanderdriftet.

Insgesamt waren die Tarifabschlüsse jedoch eher bescheiden: Die hohen Reallohnverluste aus den Jahren 2020 bis 2022 gleichen sie nicht aus. Auch konnte der Reallohn 2023 nicht gehalten werden. Meistens beinhalten die Abschlüsse Erhöhungen in mehreren Stufen bei langer Laufzeit – meist zwei Jahre – sowie vielen Nullmonaten. Beispiel Stahlindustrie: Erst nach 13 Nullmonaten gibt es mehr Geld in die Tabelle (ab Januar 2025).

Zur Überbrückung der Nullmonate werden Sonderzahlungen genutzt. Bei allen Abschlüssen ist die sogenannte Inflationsausgleichsprämie integriert. Diese sozialabgaben- und steuerfreie Prämie von bis zu 3.000 Euro ist das Ergebnis der „konzertierten Aktion“, die im Sommer 2022 von Bundeskanzler Olaf Scholz ins Leben gerufen wurde. Regierung, Gewerkschaften und Kapitalvertreter schufen im Oktober 2022 gemeinsam die Prämie – ein Instrument für den Lohnraub an der Arbeiterklasse.

Mit der Inflationsausgleichsprämie kann wunderbar Augenwischerei betrieben werden. Sie besticht dadurch, dass auf einen Schlag eine größere Summe netto ausgezahlt wird – Geld, das die Beschäftigten dringend brauchen. Aber die Prämie ist nicht tabellenwirksam, das heißt, dass die Tariflöhne dadurch nicht steigen. Sie fließt auch nicht in die Berechnung von Elterngeld, Krankengeld oder Rente ein. Sie hat nur einen Zweck: Die Reallöhne nach unten zu drücken und nachhaltige, tabellenwirksame Lohnerhöhungen zu verhindern.

Dieses faule Ei haben sich die Gewerkschaften wissentlich ins Nest legen lassen. Die Folge ist, dass das Jahr 2022 für den höchsten Reallohnverlust der Tarifbeschäftigten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland steht, wie eine Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) belegt. Je nach Tarifbereich variieren die Inflationsausgleichsprämien zwischen 1.000 und 3.000 Euro und werden über einen Zeitraum von zwei Jahren in mehreren Tranchen oder auch als monatliche Zusatzzahlungen ausgezahlt.

Die Tariflöhne in Deutschland sind laut WSI im Jahr 2023 nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 5,6 Prozent gestiegen. Angesichts einer Steigerung der Verbraucherpreise um zirka 6 Prozent ergäbe sich hieraus ein durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich vereinbarten Reallöhne von 0,4 Prozent. Das hört sich wenig an, doch die Berechnung trügt. Denn bei der Berechnung der Tariflohnentwicklung ist die Inflationsausgleichsprämie mit eingeflossen. Das bedeutet, dass die tabellenwirksamen Erhöhungen, die eben auch nachhaltig wirken, weit weniger gestiegen sind. Zur Wirkung der Prämie meint der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten: „Da es sich hierbei um Einmalzahlungen handelt, wirken sie sich mit ihrem Auslaufen in den Folgejahren jedoch stark dämpfend auf die Lohnentwicklung aus.“

Es liegen noch keine Berechnungen vor, um wieviel die Löhne tabellenwirksam gestiegen sind. Eventuell gibt die Rentenerhöhung in 2024 die Größenordnung an, denn sie werden ja immer unter Berücksichtigung der Lohnentwicklung angepasst. Ab Juli 2024 sollen die Renten voraussichtlich um 3,5 Prozent erhöht werden. Wenn die tabellenwirksamen Erhöhungen tatsächlich nur in dieser Größenordnung vereinbart wurden, dann wäre das Jahr 2023 ein weiteres Jahr mit riesigen Reallohnverlusten und entsprechenden Folgen für die kommenden Jahre. Denn auch wenn die Inflationsrate sinken sollte: Die Preise fallen nicht auf ihr Ursprungsniveau zurück.

Das Thema Arbeitszeitverkürzung hat in verschiedenen Tarifrunden eine Rolle gespielt. Nicht nur in der Stahlindustrie mit der Forderung nach einer 32-Stunden-Woche (UZ vom 22. Dezember 2023), sondern unter anderem in der ostdeutschen Ziegelindustrie, wo ab 1. Mai 2024 die Arbeitszeit um eine Stunde pro Woche bei vollem Lohnausgleich reduziert wird. Bei der Sparda-Bank Berlin konnte für die Beschäftigten in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt werden. Die Absenkung der Arbeitszeit von derzeit 39 Arbeitsstunden wird in zwei Schritten jeweils zum 1. Januar 2024 und 2025 erfolgen. Auch die GDL fordert eine Absenkung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden pro Woche für Schichtarbeiter. Es ist gut, dass dieses Thema wieder auf der Agenda ist.

Die Streikbereitschaft war bei allen Tarifkämpfen wesentlich höher als in den letzten Jahren. Es gab mehr Streiktage und längere Warnstreiks. Allein in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes im Frühjahr streikten eine halbe Million Beschäftigte. Die „Streik-Highlights“ im März waren der gemeinsame Streik der Beschäftigten des Nahverkehrs zusammen mit der Klimaschutzbewegung, die gemeinsamen Aktionen der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit der Frauenbewegung am 8. März und der Streik im Nah- und Fernverkehr der Gewerkschaften verdi und EVG. An diesen Tagen wurde spürbar, welche Kraft die Arbeiterklasse in Deutschland durch Streiks entwickeln kann, wenn sie sich über Branchen hinweg zusammenschließt und politische Themen mit einbezieht. Die Reaktion von Kapitalvertretern und Regierungspolitikern zeigte zudem, dass der richtige Nerv getroffen wurde.

Kämpfe stärker miteinander zu verbinden und die Bereitschaft, auch über Warnstreiks hinaus Streiks für bessere Abschlüsse durchzuführen – das ist die Perspektive der Gewerkschaftsbewegung, um weitere schlechte Abschlüsse und Reallohnverlust abzuwenden.

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"Konsequenter und gemeinsam", UZ vom 5. Januar 2024



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