Ohne den Verfassungsschutz gäbe es den NSU nicht

Ermittlung eines Staatsverbrechens

Von Ellen Beeftink

Chronologie der dem NSU

zugeschriebenen Verbrechen

23. Juni 1999

Der erste Anschlag

„Taschenlampen“-Bombe

In Nürnberg in der Gaststätte „Sonnenschein“ betätigt ein Mitarbeiter eine scheinbar normale Taschenlampe, löst damit eine Explosion aus und wird leicht verletzt

9. September 2000

Mord an Enver Simsek

In Nürnberg wird der Blumenhändler Enver Simsek getötet. Neun Schüsse werden auf den 38-Jährigen abgegeben, fünf in den Kopf. Anschließend fotografieren die Täter das Opfer

19. Januar 2001

Anschlag auf Masha Malayeri

In der Kölner Probsteigasse detoniert ein Sprengsatz in einem Lebensmittelladen. Die 19-Jährige Tochter des iranisch-deutschen Händlers, Masha Malayeri, erleidet schwerste Verbrennungen und Schnittverletzungen. 13. Juni 2001

Mord an Abdurrahim Özüdogru

In Nürnberg wird der 49-Jährige Schneider Abdurrahim Özüdogru mit zwei Schüssen in seinem Ladenlokal ermordet. Ein Schuss trifft ihn direkt ins Gesicht.

27. Juni 2001

Mord an Süleyman Tasköprü

In Hamburg-Bahrenfeld stirbt Süleyman Tasköprü hinter der Theke seines Gemüseladens. Den 31-Jährigen treffen drei Schüsse aus zwei Pistolen.

29. August 2001

Mord an Habil Kiliç

In München wird der 38-Jährige Habil Kiliç in seinem Lebensmittelgeschäft überfallen und durch zwei Schüsse getötet. Vom ersten Schuss getroffen, duckt er sich weg. Der zweite, tödliche Schuss trifft ihn in den Hinterkopf.

25. Februar 2004

Mord an Mehmet Turgut

In Rostock wird der 25-Jährige Aushilfsverkäufer Mehmet Turgut in einem Döner-Imbiss am Neudierkower Weg durch vier Schüsse getötet.

9. Juni 2004

Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße

In der Keupstraße in Köln-Mühlheim betreiben vor allem türkischstämmige Kaufleute ihre Geschäfte. Eine ferngezündete Nagelbombe verwüstet die Straße. 22 Menschen werden teils lebensgefährlich verletzt.

9. Juni 2005

Mord an Ismail Nasar

In Nürnberg entdeckt ein Kunde im Döner-Imbiss in der Velburger Straße den verbluteten Inhaber Ismail Nasar. Der 50-Jährige wurde mit fünf Schüssen abgeknallt.

15. Juni 2005

Mord an Theodorus Boulgarides

In München wird der Grieche Theodorus Boulgarides in seinem Schlüsseldienst in der Tappentreustraße durch fünf Schüsse ermordet. Er war 41 Jahre alt.

4. April 2006

Mord an Mehmet Kubasik

In der Dortmunder Nordstadt wird Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße getötet. Angehörige und Freunde gehen davon aus, dass es sich um einen Anschlag Rechtsextremer handelt.

6. April 2006

Mord an Halit Yozgat

In der Kasseler Holländischen Straße wird der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen. Erstmals, von einzelnen Fahndern abgesehen, wird ein rassistischer Hintergrund auch von den Ermittlern nicht ausgeschlossen.

25. April 2007

Mord an Michèle Kiesewetter

Auf der Heilbronner Theresienwiese wird die Polizistin Michèle Kiesewetter durch einen Kopfschuss getötet. Ihr Kollege Martin A. überlebt schwer verletzt. Bee

November 2011, Eisenach. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt werden tot in einem Wohnmobil aufgefunden. Gemeinschaftlicher Suizid. Um ihrer Verhaftung zu entgehen. Beate Zschäpe stellt sich Tage später der Polizei. Der Nationalsozialistische Untergrund NSU hat sich selbst enttarnt. Eine Jahre dauernde Mordserie ist aufgeklärt. Ein Bekennervideo beweist, der NSU besteht aus diesem Trio.

Soweit die offizielle Version. Es ist eine Legende. Gestrickt vom Verfassungsschutz. Sicher ist, neun türkisch- bzw. griechischstämmige Kleinunternehmer sowie die Polizistin Michèle Kiesewetter sind Opfer einer beispiellosen Serie rechten Terrors. Und sicher ist, die wahren Verantwortlichen werden ungeschoren davon kommen. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt haben sich selbst gerichtet. Sicher nicht!

In seinem Krimi „Die schützende Hand“ lässt Wolfgang Schorlau seinen Privatdetektiv Georg Dengler schon 2015 den vermeintlichen Selbstmord der beiden Uwes recherchieren. Und kommt zu eben diesem Ergebnis. Für die im April erschienene Taschenbuchausgabe hat er neue Erkenntnisse nachgelegt. „Die schützende Hand“ ist ein ungeheuer spannender Tatsachenroman, der sich auf Originalquellen stützt. Und obwohl Schorlau ihn mit einer fiktiven Komponente auflädt, ist er näher an der Realität, als man glauben möchte.

Wer erschoss Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt?

Dengler bekommt auf sehr merkwürdige Weise genau diesen sehr seltsamen Auftrag. Er braucht das Geld, ein leichter Job. Schließlich weiß jeder: „Die beiden Arschlöcher haben sich selbst umgebracht. Sollten alle Neonazis so machen.“ Bei der Recherche stoßen er und seine Freunde auf Beunruhigendes. Und kommen bald zu dem Schluss: So, wie dargestellt, kann es nicht gewesen sein. Die Tatorte Kölner Keupstraße, Kassel, und Heilbronn (siehe rechte Spalte) werden in Rückblicken fiktional ausgeleuchtet. Schorlau zeigt die Widersprüche auf, die sich aus den Ermittlungen ergeben. Es gelingt ihm auch die Kontinuität von Rostock-Lichtenhagen bis zu brennenden Asylbewerberheimen und Pegida-Aufmärschen heute deutlich zu machen. Vorwiegend beschäftigt sich Dengler allerdings mit dem vermeintlichen Tatort in Eisenach-Stegda. Kurz nach der Bekanntgabe der Selbstmorde der beiden Uwes gab es durchaus Zweifel am behördlich dargebotenen Tathergang. Zu viel Ungereimtes. Zu wenig Beweise. Schon bald aber hatte die offizielle Version die Deutungshoheit gewonnen. Georg Dengler kommt nach intensiver Recherche (u. a. Sichtung von Tatort-Fotos, Ermittlungsberichten und Gesprächen mit Tatort-Spezialisten) zu einem anderen Ergebnis. Sowohl Uwe Mundlos als auch Uwe Böhnhardt waren wenigstens 12 Stunden vor dem offiziell angegebenen Todeszeitpunkt bereits tot.

Aufklärung unerwünscht

Im BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) wird aufgeräumt.Was nicht passt, muss weg. Hat es nicht gegeben. Der Geheimdienstkoordinator und ehemalige Vizepräsident des BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) Klaus-Dieter Fritsche sagte vor dem NSU-Ausschuss: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ Wie weit ist der Weg vom Staatsgeheimnis zum Staatsverbrechen? Der Verfassungsschutz hatte eine Menge V-Leute im Thüringer Heimatschutz und damit auch im NSU. Im Grunde hat er ihn aufgebaut. Wenn man die offizielle Version vom NSU-Trio als gegeben nimmt, dann hatte der Geheimdienst mehr „Quellen“ im neonazistischen Untergrund als der NSU Mitglieder.

Es folgten Untersuchungsausschüsse in fast allen Bundesländern. Und, seit dem 6. Mai 2013, der Prozess vor dem Oberlandesgerichts München. Zur Zeit halten die Bundesanwälte ihre Plädoyers. Für sie steht fest: Beate Zschäpe ist das einzig überlebende Mitglied des NSU. Ihre Mitangeklagten nur Helfershelfer. Aufklärung über die Verstrickungen und damit die Verantwortlichkeit der Geheimdienste wird es nicht geben. Sie ist auch vom Vorsitzenden des Senats Manfred Götzl nicht erwünscht. Die Staatsmacht schützt ihre (braunen) Geheimnisse.

Es gibt einen Schlüssel. Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Würden die Tatbeteiligten ermittelt, könnte die ganze Mordserie aufgeklärt werden. Dies steht nicht zu erwarten. Zwei Zeugen kamen auf unnatürliche Weise ums Leben. Der eine verbrannte in seinem Auto. Suizid. Aus Liebeskummer. Die andere, seine Ex-Freundin, erlitt als kerngesunde 20-Jährige nach einem Motorradunfall eine Lungenembolie. Ist das der Grund, warum Beate Zschäpe nach jahrelangem Schweigen ihre beiden Uwes der Mordserie bezichtigte? Obwohl es keinen einzigen Beweis für deren Anwesenheit an den Tatorten gab. Und keine der im Camper gefundenen Waffen Fingerabdrücke der beiden Uwes trug. Verdächtige Todesfälle sind ein starkes Überlebensmotiv.

Die Wahrheit findet man in den Akten. Man muss sie nur zu lesen wissen. Wolfgang Schorlau hat sie mithilfe von Ekkehardt Sieker akribisch durchforstet, alles dokumentiert und in „Die schützende Hand“, in Interviews, Beiträgen und Diskussionsrunden einem großen Publikum zugänglich gemacht. Dafür gebührt ihm unser Dank.

„Ein eindeutiger Nachweis, dass zumindest Mundlos und Böhnhardt am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren, konnte (…) bislang nicht erbracht werden.“

Das BKA in einem Vermerk von 2012 über die Ermittlungen zum Polizistenmord

 

„Die schützende Hand“

Auszug aus dem Buch von Wolfgang Schorlau

Am Vormittag des 5. November 2011 – ein Tag nach dem Auffinden des Wohnmobils mit den beiden Toten in Stregda – wurde eine Lagebesprechung in den Räumlichkeiten der zu ständigen Polizeidirektion Gotha abgehalten. Weil im Camper die Waffe der 2007 in Heilbronn er mordeten Polizistin Michèle Kiesewetter aufgefunden worden war, waren auch Ermittler aus Baden-Württemberg zum Treffen nach Thüringen angereist. An dieser Lagebesprechung nahm ebenfalls der Zielfahnder Sven Wunderlich vom Thüringer Landeskriminalamt teil. Er war von 1998 bis 2001offiziell mit der Suche nach Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe befasst. In Gotha erfuhren die Stuttgarter Kriminalbeamten zu ihrer großen Überraschung über Wunderlichs Fahndung etwas, womit sie nicht gerechnet hatten – und das kam vor dem Erfurter NSU-Untersuchungsausschuss im Sommer 2016 ans Licht. Eine Stuttgarter LKA-Beamtin gab das, was Sven Wunderlich in Gotha über das NSU-Trio gesagt hatte, folgendermaßen wieder:

„… an denen war ich ja dran als Zielfahnder und kurz bevor ich quasi zugreifen konnte, bin ich damals abgezogen worden, weil die abgedeckt worden sind.“

Der damals in Gotha ebenfalls anwesende Kollege der LKA-Beamtin bestätigte gegenüber den Erfurter Ausschussmitgliedern Wunderlichs freimütige Aussagen:

„Also er hat gesagt – und das kann ich so wiedergeben –, dass seiner Ansicht nach das Trio unter dem Schutz vom Verfassungsschutz steht.“

Bereits im März 2013 wies Sven Wunderlich bei seiner Vernehmung die Mitglieder des NSU-Ausschusses des Deutschen Bundestages auf den Sachverhalt hin, dass das LfV [Landesamt für Verfassungsschutz, der Verf.] Thüringen uns [die Fahnder, der Verf.] gebeten hat, im rechtsradikalen Milieu nicht Unruhe zu machen. Sie hätten das wohl im Griff.“

Ein solches „Im-Griff-Haben“ kann aber den Nachrichtendiensten im Wesentlichen nur mittels eines systematisch aufgebauten Netzwerks von V-Leuten gelingen. Das antifaschistische Magazin „der rechte rand“ konnte in zwischen dokumentieren, dass durch Auswertungen von Berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse, durch journalistische Recherchen und mithilfe von geleakten Behörden-Akten nach gewiesen werden kann, dass etwa 20 solcher dienstlichen Spitzel sich im direkten Umfeld des NSU-Trios befanden und gut 30 V-Leute rund um den „Thüringer Heimatschutz“ (THS), aus dem die Terrorgruppe direkt entstand, platziert wurden. So existiert auch ein heimlich auf einem Tonband mitgeschnittenes Gespräch zwischen dem militanten Neonazi und NPD-Mann Thorsten Heise und dem Spitzel Tino Brandt. Heise fasst an einer Stelle des Bandes einen Teil des mit Brandt – ehemaliger V-Mann des Thüringischen Verfassungsschutzes und frühere Schlüsselfigur des Thüringer Heimatschutzes – geführten Gesprächs so zusammen:

„Schön zu wissen, dass der Verfassungsschutz die nationale Bewegung in Thüringen aufgebaut hat. Das ist schon … ja … sehr cool.“

Das BKA geht da von aus, dass dieses Gespräch am 20. Januar 2007 statt gefunden hat.

ermittlung eines staatsverbrechens - Ermittlung eines Staatsverbrechens - Dokumentiert, NSU, Verfassungsschutz - Hintergrund

Aus: Wolfgang Schorlau „Die schützende Hand“

© 2015, 2017, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

Wir danken dem Verlag Kiepenheuer und Witsch für die freundliche Abdruckgenehmigung

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"Ermittlung eines Staatsverbrechens", UZ vom 18. August 2017



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