Referat der 12. Tagung des Parteivorstands der DKP in voller Länge

Flucht und Migration – kommunistische Analyse und Positionen

Auf der 12. Tagung des Parteivorstands der DKP hat Vincent Cziesla, Mitglied des Parteivorstands der DKP, dieses Referat zum Thema Flucht und Migration gehalten. Wir dokumentieren das Referat hier in voller Länge:

Liebe Genossinnen und Genossen,

vor fast genau 32 Jahren, am 26. Mai 1993, verabschiedete der Bundestag den sogenannten „Asylkompromiss“. Mit den Stimmen von Union, SPD und FDP wurde das Grundgesetz geändert. Ziel war es, die Wahrnehmung des Grundrechts auf Asyl nahezu unmöglich zu machen. Ein Herzstück war die Einführung des Prinzips der sogenannten „sicheren Drittstaaten“ – wer auf dem Weg nach Deutschland ein so eingestuftes Land durchquert hat, hat keinen Anspruch mehr auf Asyl. Das betrifft im Grunde jeden Asylsuchenden, der nicht mit dem Flugzeug oder auf dem Seeweg direkt in Deutschland anlandet.

Die geringe Quote von Menschen, die heute nach Artikel 16a des Grundgesetzes (Asyl) anerkannt werden, wird gerne als Argument für die Abwehr von Geflüchteten herangezogen. Da es sowieso keinen Asylanspruch gäbe, sollen diese Abwehrmaßnahmen als „Durchsetzung des Rechts“ erscheinen. Dabei wird die erfolgte Demontage des Grundrechtes auf Asyl ebenso ignoriert wie die deutlich höhere Quote von Anträgen, die mit der Gewährung eines anderen Schutzstatus enden.

Drei Tage nach dem Bundestagsbeschluss, am 29. Mai 1993, wurde in Solingen der rassistische Brandanschlag verübt, bei dem fünf Menschen türkischer Herkunft ermordet wurden. Die rassistische Gewalt auf den Straßen war nicht zu trennen von der seitens der selbsternannten „demokratischen Mitte“ über viele Jahre vorangetriebenen Debatte über vermeintlichen „Asylmissbrauch“, „Scheinasylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“. Vielmehr zeigt sich im Rückblick auf dieses Zusammenspiel der gesamte Instrumentenkasten der bürgerlichen Migrationspolitik – einer Politik, die oft mit moralischen Schlagworten argumentiert: von „Willkommenskultur“, „Vielfalt“ und „Integration“ auf der einen und „Ausländerkriminalität“, „Ausländerextremismus“ und der vermeintlichen „Einwanderung in den Sozialstaat“ auf der anderen Seite.

„Wir sind nicht das Sozialamt der Welt!“ „Konsequent abschieben!“ „Kriminelle Ausländer raus!“ „Armutszuwanderung stopp!“ Das waren über Jahre Parolen der Rechtsaußen-Stichwortgeber von NPD und Republikanern, die man öffentlich empört zurückwies, sich aber ihrer bediente, wenn es gerade zur Zielsetzung passte. Wenn man sich Äußerungen vor Augen führt wie die vom früheren Bundeskanzler Olaf Scholz, der „im großen Stil abschieben“ wollte, oder von seinem Nachfolger Friedrich Merz – „Das Maß ist voll!“ –, ist die Verschiebung der Debatte leicht zu erkennen. Die Rolle des Stichwortgebers soll der AfD zufallen, die sich aber regelmäßig sichtlich bemühen muss, um in der Migrationsfrage rechts an den anderen Parteien vorbeizukommen.

Zwei Beispiele dafür: Erstens die von Merz im Bundestagswahlkampf erhobene Forderung, „kriminellen“ Doppelstaatlern den deutschen Pass zu entziehen – das hatte sich die AfD in ihrem Wahlprogramm zuvor nicht getraut. Zweitens das „Zustrombegrenzungsgesetz“: Der von der CDU eingebrachte Gesetzentwurf hatte große Proteste ausgelöst, weil die Gefahr bestand, dass er gemeinsam mit der AfD beschlossen werden könnte. In ihrem Koalitionsvertrag haben SPD und Union die Maßnahmen, die schon in diesem Gesetzentwurf standen, beschlossen. Proteste dagegen, auch von SPD-Mitgliedern, blieben aus.

Seit der Asyldebatte in den 1980er- und 1990er-Jahren schlägt der öffentliche Umgang mit der Frage Flucht und Migration seltsame Haken – vor allem auf Nebenschauplätzen. Einerseits hat sich eine Kultur der politischen Korrektheit entwickelt, die dafür sorgt, dass heute nicht mehr von „Asylanten“ gesprochen wird, sondern von „Asylbewerbern“ oder „Geflüchteten“, es werden Integrationsförderpreise verliehen, und regelmäßig wird die kulturelle Vielfalt gefeiert. Zugleich wurde die Erzählung der 1990er-Jahre fortgesetzt und institutionalisiert. So gab das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2012 noch eine Broschüre heraus, in der es hieß: „Das damals kontinuierlich steigende Asylbewerberaufkommen gipfelte im Jahr 1992 in über 400.000 Asylbewerbern, von denen der weitaus größte Anteil den Zuzug in die deutschen Sozialsysteme beabsichtigte.“ Belege dafür gab und gibt es bis heute nicht – weder für die Zahl 400.000, noch für die vermeintlichen Absichten. Das Kriminologische Institut Niedersachsen hielt in einer Studie hingegen nüchtern fest, dass der „‚Import von Armut‘ durch die neue Asylgesetzgebung drastisch verringert wurde“.

Die hinter der bürgerlichen Asyl- und Migrationspolitik stehenden kurz- und mittelfristigen Ziele sind vielfältig: Es geht darum, Rassismus zu befeuern und die Arbeiterklasse zu spalten. Es geht um die Ablenkung von Krieg und Krise, und um die Umlenkung von sozialem Protestpotenzial. Wie das funktioniert, konnte im vergangenen Bundestagswahlkampf beobachtet werden, wo die Migrationsfrage die veröffentlichte Debatte fest im Griff hatte. Es geht darum, Sündenböcke für das Versagen der Daseinsvorsorge – zum Beispiel im Wohnungsbau – zu präsentieren. Aber auch darum, unter dem Deckmantel der Migrationspolitik demokratische Rechte zu schleifen, die Polizei hochzurüsten, die Militarisierung (zum Beispiel an den Grenzen) voranzutreiben und sozialen Kahlschlag zu rechtfertigen. Hierbei sind die Übergänge fließend: Die geplanten Kürzungen für Asylsuchende und für Bürgergeldempfänger gehen Hand in Hand.

Auf der strategischen Ebene geht es aber vor allem um eines: Darum, das vorhandene Reservoir an Arbeitskräften an die Verwertungsinteressen des deutschen Kapitals anzupassen, durch die gezielte Anwerbung von Fachkräften Ausbildungskosten einzusparen, die Vormachtstellung des deutschen Imperialismus auszubauen und die Ausbeutung zu verschärfen und gleichzeitig Menschen loszuwerden, die aus unterschiedlichen Gründen – wie mangelnde Ausbildung, Krankheit oder politische Renitenz – nicht den Bedürfnissen des Kapitals entsprechen. Ebenso schwankend wie der Bedarf an Arbeitskräften sind dann auch die Schlagworte der bürgerlichen Politik, mal ausgelegt auf „Offenheit“, und mal auf „Abschottung“.

Dieses Aussortieren von Menschen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit ist die Konstante der bürgerlichen Migrationspolitik und der Konsens, der sich bei den politischen Parteien von AfD bis SPD wiederfindet. Der Grundanspruch, Migrationsprozesse zu beeinflussen, um die Zusammensetzung der Bevölkerung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migranten den Interessen des Kapitals – oder „der Wirtschaft“, wie es oft so schön heißt – anzupassen, hat in den vergangenen Jahrzehnten auch dank eines medialen Dauerfeuers eine gewisse Wirkmacht im Bewusstsein der Arbeiterklasse entwickelt. In Zeiten von Krieg, Krise und Inflation trifft dies auf eine (berechtigte) wachsende Furcht vor Wohlstandverlusten. Diese werden selbstverständlich nicht durch Migration verursacht. Doch die Zuwanderung von Arbeitskräften wird von der herrschenden Klasse genutzt, um die Konkurrenz zwischen den Lohnarbeitenden zu verschärfen und der Arbeiterklasse Abstiegsszenarien vor Augen zu führen.

Im Vorwort zu „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ ging Friedrich Engels auf eine Situation ein, die auch mit Blick auf die Weltlage einige Parallelen zur heutigen aufweist: „Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols (…) Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein – die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslandes.“

„Mit der Furcht vor einer solchen Entwicklung haben wir es heute auch in Deutschland zu tun“, ordnet Artur Pech in seinem Buch „Marx und Engels über Migration“ dieses Engels-Zitat ein, und setzt fort: „Auf den ersten Blick scheint die Verteidigung des Monopols der reichen ,Länder des Nordens‘ damit auch im Interesse ihrer – wie es jetzt heißt – ,abhängig Beschäftigten‘ zu sein. Das liefe dann auf eine Unterstützung der Fortsetzung der Ausplünderung ärmerer Länder hinaus und hätte mit Internationalismus nichts zu tun. Sozialistischer Internationalismus bedeutet dagegen, auch hinsichtlich der Migration ‚in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats‘ zur Geltung zu bringen und ,stets das Interesse der Gesamtbewegung‘ zu vertreten.“ (Zitate aus dem „Kommunistischen Manifest“)

Die öffentliche Diskussion über zum Teil sehr komplexe Fragen und die dahinterliegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wird schablonenartig und im Stil eines Kulturkampfs geführt: „Rechts“ soll sein, wer für bedingungslose Abschottung ist – „links“ soll sein, wer Migration als eine Art Selbstwert fördert.

Dieses Schema kennt keinen Klassenstandpunkt und auch keinen Bezug zu den herrschenden Kräfteverhältnissen. Es führt zu Verwüstungen im politischen Denken, auch auf der linken Seite des politischen Spektrums. Denn nicht selten macht man sich hier die bürgerliche Argumentation zu eigen, dass Migration die Antwort auf Fragen wie den sogenannten „Fachkräftemangel“ oder den demografischen Wandel sei. Dahinter mag häufig der Wunsch stecken, die Akzeptanz für Migrantinnen und Migranten zu erhöhen – nach dem Motto: „Wir brauchen die doch auch!“ Doch damit wird auch die interessengeleitete bürgerliche Ideologie reproduziert. Im bereits erwähnten Buch hat Pech einen Leitsatz formuliert, über den es sich nachzudenken lohnt: „Heute müssen Linke sich der Forderung verweigern, die Zahl der Arbeitenden den Bedürfnissen des kapitalistischen Marktes anzupassen. Es muss vielmehr umgekehrt darum gehen, die Wirtschaft den Bedürfnissen der Menschen anzupassen.“

Doch es gibt auch die Gegenentwicklung im linken Spektrum, die – sei es, um Anschlussfähigkeit an den vorherrschenden Bewusstseinsstand herzustellen oder anknüpfend an reale Missstände – eine Annäherung an den in der öffentlichen Debatte vorherrschenden Kurs sucht und die Kritik an den Auswirkungen von Migrationsprozessen zu einer Kritik an Einwanderern und Geflüchteten macht.

Schon die Frage, ob wir uns für oder gegen Migration aussprechen, ist nicht zielführend. Migrationsprozesse finden im Kapitalismus schlicht statt und folgen dabei gewissen Gesetzmäßigkeiten. Sich für oder gegen Migration zu positionieren, ist in etwa so sinnvoll, wie für oder gegen das Wetter und den Wechsel von Tag und Nacht zu sein.

Es drängen also andere Fragen nach vorn: Welche Ursachen und Folgen haben die unterschiedlichen Formen von Migration? Welche Probleme sind damit für die Arbeiterklasse verbunden – sowohl im Herkunfts- als auch im Ankunftsland? Wie kann es gelingen, der Spaltung der Klasse entgegenzuwirken und einen gemeinsamen Kampf zu organisieren? Wie kann der proletarische Internationalismus wirksam werden, und welche Aufgaben stellen sich für uns als Kommunistinnen und Kommunisten dabei im imperialistischen Deutschland, auch mit dem Blick auf Fluchtursachen und die Ausbeutung ärmerer Staaten? Und wie kriegen wir die Ergebnisse dieser Diskussionen dann auch noch verständlich kommuniziert?

Liebe Genossinnen und Genossen,

Migrationsprozesse sind mit dem Kapitalismus untrennbar verbunden. Mit dem Prozess der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, die Marx als gewaltsamen „Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen“ beschreibt, setzten große Wanderungsbewegungen der nun doppelt freien Lohnarbeiter ein – zunächst vom Land in die Städte, aber auch schnell über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg. Grundsätzlich gilt: „Permanente wechselweise Abstoßung und Anziehung von Arbeitskräften kennzeichnen den krisenförmigen Verlauf der kapitalistischen Akkumulation überhaupt. Konjunkturkrisen, die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit mit relativ immer weniger Arbeitern, sprunghaft verlaufende Veränderungen in der Produktivkräfte- und Branchenstruktur sind nur möglich, wenn eine jederzeit mobilisierbare Arbeitskräftereserve existiert“, fasste Beate Landefeld das Geschehen in den „Marxistischen Blättern“ zusammen.

Ergänzend dazu aus der Resolution des Stuttgarter Sozialistenkongresses 1907: „Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgung anormale Dimensionen an.“

Damit ist erklärt, warum die Bewegungsfreiheit der Lohnarbeiter eine Voraussetzung für Produktivkraftentwicklung und kapitalistische Produktion ist. Aber noch nicht, wie und warum sich Migrationsprozesse konkret vollziehen. Eine auf empirischen Daten basierende Antwort liefert Pech. Er weist nach, dass sich die Migrationsbewegungen nach und aus Deutschland heraus anhand der ungleichen ökonomischen Entwicklung der jeweiligen Länder erklären lassen. Deutschland erreicht demnach Zuwanderungsgewinne aus Ländern mit einem geringeren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und erleidet (bis auf wenige Ausnahmen) Abwanderungsverluste nach Ländern mit einem höheren BIP pro Kopf.

Als entscheidende ökonomische Triebkraft macht Pech den unterschiedlichen Wert der Ware Arbeitskraft in den verschiedenen Ländern aus, der sich vor allem daraus ergibt, dass sich die Reproduktionskosten (Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten) deutlich unterscheiden. Diese Unterschiede werden im Zuge der Globalisierung ausgenutzt, um Arbeitskraft „über Wert“ ihrer Reproduktion zu verkaufen.

Es sind nicht nur die kapitalistischen Verhältnisse, die weltweit Migrationsbewegungen erzwingen, es ist auch der Imperialismus, der durch das Ausspielen seiner ökonomischen Macht, durch die Ausplünderung von ärmeren Ländern, durch Kriege und das Schaffen von Abhängigkeitsverhältnissen die Richtung vorgibt und versucht, sich an den so ausgelösten Prozessen zu bereichern.

Das ist abstrakt, aber eine wichtige Feststellung. Wird doch in der Migrationsdebatte stets alles dafür getan, um Ursache und Wirkung zu verwechseln. Mit der Betonung von sogenannten „Push“- und „Pull“-Faktoren, mit Debatten über das Grenzregime oder vermeintlich zu hohe Sozialleistungen werden die Ursachen von Migrationsbewegungen verschleiert und wird den Betroffenen unterstellt, selbst für den Migrationsdruck verantwortlich oder „gierig“ zu sein.

Die individuellen Motive für den Entschluss, die Heimat zu verlassen, sind natürlich vielfältig – seien es Arbeitslosigkeit und Armut im Herkunftsland, die Hoffnung auf ein besseres Leben für die eigene Familie oder die Flucht vor existenziellen Bedrohungen durch Kriege, Gewalt und politische Verfolgung. Eine zunehmende Rolle spielt auch die Flucht vor der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch klimatische Veränderungen, etwa Extremwetterereignisse oder die Bedrohung durch einen steigenden Meeresspiegel. Für diese sogenannten „Klimaflüchtlinge“ gibt es – im Gegensatz zu Kriegsflüchtlingen oder Menschen, die aus Angst vor politischer Verfolgung fliehen – keine legale Definition. Sie werden also nicht durch internationale Vereinbarungen besonders geschützt. Darüber, ob und wie dies sinnvoll wäre, lässt sich lange streiten.

Die Besonderheit der Fluchtmigration – der rechtliche Status – ist längst selbst Spielball von imperialistischer Propaganda. Über die Einstufung von Ländern als „sichere Herkunftsländer“ wird auch ein ideologischer Kampf geführt, ausgetragen auf dem Rücken der betroffenen Menschen. Das lässt sich aktuell im Fall Syriens beobachten. Hinsichtlich dieses Landes besteht der starke Wunsch, dem neuen dschihadistischen Regime einen demokratischen Anstrich zu verleihen und gleichzeitig eine interessengeleitete Rückführung von syrischen Arbeitskräften voranzutreiben. Dabei wird auch die ökonomische Selektion vollzogen. So hat Thorsten Frei (CDU), inzwischen Chef des Kanzleramts, schon zum Ende des vergangenen Jahres deutlich gemacht, dass Syrer, die über einer bestimmten Gehaltsgrenze liegen, im Land bleiben dürfen, während der Rest gehen muss. Begründet hat er dies mit einem scheinhumanistischen Anspruch: „Wenn Flüchtlinge nach einer Krise unser Land nicht umgehend verlassen, sinkt die Bereitschaft der Gesellschaft, in Zukunft andere Flüchtlinge aufzunehmen.“ Auch wenn Flucht eine besondere Form von Migration ist, sind die Übergänge zur Arbeitsmigration fließend – und das Kapital versucht, sie nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Dieser Umgang mit Flucht im ideologischen Kampf setzt sich auch auf anderen Ebenen fort. In der Bundesrepublik gab es vor der Konterrevolution in der DDR ein großes Herz für kommerziell agierende Gruppen, die DDR-Bürgern (am liebsten solchen mit einer guten Ausbildung) einen illegalen Grenzübergang ermöglichten. Man freute sich über diese „Fluchthelfer“, während heutzutage abwertend von „Schleppern“, „Menschenhändlern“ oder „Schleuserbanden“ die Rede ist – zu denen teilweise sogar Seenotrettungsorganisationen gezählt werden, wenn sie Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Da wird einerseits einem mehr oder weniger prominenten vermeintlichen „Dissidenten“, solange er nur aus dem Feindesland stammt, mit großem Tamtam Schutz und medizinische Versorgung gewährt, während hunderttausende andere an der Einreise in die EU gehindert, in der Wüste ausgesetzt oder in Lager gesperrt werden. „Westliche Werte“ unterscheiden sehr robust zwischen erwünschter und unerwünschter Migration.

Bezeichnend auch der Umgang mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach der Eskalation des Krieges in der Ukraine nach Deutschland kamen und als politisch besonders wertvolle Geflüchtete behandelt und mit zahlreichen Rechten ausgestattet wurden, die anderen Kriegsflüchtlingen nicht gewährt werden. Nun, wo in der Ukraine selbst verstärkt auf die Zwangsrekrutierung von vermeintlich wehrdienstfähigen Männern gesetzt wird, gerät auch das militärische Potenzial der Ukrainer im Ausland in den Blick. Seiner Zielstellung im Stellvertreterkrieg gegen Russland entsprechend, fährt der deutsche Imperialismus die gewährten Privilegien zurück.

Das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention sind historische Fortschritte, die verteidigt werden müssen. Demontiert werden sie aber, anders als oft behauptet, nicht von den Menschen, die sie in Anspruch nehmen, sondern von dem Bestreben, die Weltbevölkerung entsprechend den eigenen politischen, militärischen und ökonomischen Interessen zu verwerten – vom Bestreben des Imperialismus, der durch das Führen von Kriegen, die Destabilisierung von Ländern, durch Waffenexporte, durch ökonomische Unterdrückung und Ausbeutung von ärmeren Ländern und ökologische Zerstörungen die Verantwortung für die häufigsten Fluchtursachen trägt.

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Auch das Schließen der Grenzen, wie hier zwischen Polen und Belarus, hilft nicht. Die Antwort ist einfach wie schwer: Klassenkampf. (Foto: Kancelaria Prezesa Rady Ministrów / Wikimedia Commons / CC BY 3.0 PL)

Liebe Genossinnen und Genossen,

Migration hat nicht nur Ursachen, sondern auch Auswirkungen – sowohl auf die Herkunfts- als auch auf die Einwanderungsländer. Werfen wir einen Blick auf die Punkte, die vor allem in der deutschen Migrationspolitik eine entscheidende Rolle spielen.

Das Bestreben, hochqualifizierte Fachkräfte abzuwerben, führt in den betroffenen Ländern zu einem sogenannten Braindrain. Mühsam und teuer ausgebildete Arbeitskräfte gehen verloren, im Gegenzug spart sich das deutsche Kapital einen erheblichen Teil der Reproduktionskosten. Darauf ab zielen Vereinbarungen wie das sogenannte „Abkommen über eine Mobilitätspartnerschaft“, das Exkanzler Scholz im vergangenen Jahr mit Usbekistan abgeschlossen hat. Scholz selbst sagte dazu, „dass wir zwei Dinge miteinander zusammenführen, die zusammengehören, nämlich einerseits die Möglichkeit, Talente, Arbeitskräfte, Fachleute, Ingenieurinnen und Ingenieure nach Deutschland zu holen, wo wir sie brauchen, und gleichzeitig die Prozesse der Rückführung zu erleichtern, wo das in unserem Interesse ist“.

Die guten ins Töpfchen, für die weniger Nützlichen gibt es Abschiebungen und Grenzkontrollen – das ist die grundsätzliche Idee. Häufig wird der Kritik an diesem Vorgehen entgegengehalten, dass es sich beim Braindrain um eine Art versteckte Entwicklungshilfe handele – schließlich würden die abgeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Ferne häufig Geld schicken, um ihre Familien zu unterstützen. Durch diese sogenannten Rücküberweisungen „profitieren die Empfänger:innen, können an der höheren Arbeitsproduktivität der Zahler:innen teilhaben – und sich dadurch mehr leisten“, schreibt beispielsweise die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrem „Atlas der Migration“. Das Urteil ist eindeutig: „Weil sie meist Geld zurückschicken und teils auch besser qualifiziert zurückkehren, ist Migration auch für Entwicklungsländer gut.“ Die Kehrseite dieser Einschätzung ist allerdings, dass durch den Ausverkauf an eigenen Arbeitskräften im Gegenzug für finanzielle Zuweisungen neue Abhängigkeiten entstehen und das Potenzial für die wirtschaftliche Aufholjagd der ärmeren Länder vermindert wird.

Es gibt Länder wie Samoa, Kirgisistan, Haiti und viele mehr, in denen Rücküberweisungen zwischen einem Viertel und einem Drittel des BIP ausmachen. Das hilft den betroffenen Familien, die eigene Armut zu lindern. Ein nachhaltiges Entwicklungs- und Wirtschaftsmodell ist der fortlaufende Ausverkauf von Arbeitskräften an den reichen Westen jedoch keineswegs. Im Gegenteil: Hohe Rücküberweisungsquoten erhöhen tendenziell die Abhängigkeit von Importen und bringen die Volkswirtschaft in Gefahr, weil die abgeworbenen Arbeitskräfte in den Industrieländern als variabler Puffer betrachtet werden. Werden sie nicht gebraucht, kommt es zu einem Einbruch der Rücküberweisungen mit verheerenden Folgen. Somit wird aus der viel beschworenen „privaten Entwicklungshilfe“ ein Bumerang, mit dem auch neue Druckmittel gegenüber den ärmsten Ländern entstehen.

Im Einwanderungsland führt das Auffüllen des Arbeitsmarkts unter Zuhilfenahme von Migration objektiv zu einer verschärften Konkurrenz zwischen den Lohnarbeitenden. Durch die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots wird schon dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend Druck auf die Löhne ausgeübt und der Kampf um gute Ausbildung erschwert. Für das Kapital, das die Ausbildungskosten ohnehin scheut, gibt es keinen Anlass, für bessere Qualifikation und Bildungsmöglichkeiten zu sorgen. Aber nicht nur in hochqualifizierten Bereichen, sondern auch in Branchen, die einen hohen Anteil an menschlicher Arbeitskraft voraussetzen oder saisonabhängig sind, rechnet es sich, die Lebens- und Reproduktionskosten der Beschäftigten auszulagern. Bekannte Beispiele dafür sind die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Logistik, die ausländische Arbeitskräfte nach Bedarf anheuern und wieder loswerden – und dann mit der Sicherung ihrer Existenz nichts mehr zu tun haben wollen, bis sie wieder gebraucht werden. So ist auch die Zahlung von Löhnen möglich, mit denen ein dauerhaftes Leben in Deutschland nicht gesichert werden könnte.

Dass ein echter „Fachkräftemangel“ und kein herbeigeredeter, wie hierzulande, auch interessante Folgen zeitigen kann, zeigte zum Beispiel der Brexit: Durch den Wegfall der EU-Freizügigkeit verlor Britannien auf einen Schlag sehr viele Arbeitskräfte in der Logistikbranche – es kam zu einem Mangel an Lkw-Fahrern. Von einer „Lastwagen-Krise“ war die Rede, das Kapital war gezwungen, bessere Bedingungen zu gewähren. Zwei Jahre später schrieb die FAZ: „Durch beschleunigte Ausbildung und höhere Löhne für Lkw-Fahrer hat sich die Lage entspannt.“ Noch präziser fasste das der „Münchner Merkur“: „Haarsträubende Brexit-Folgen: Löhne für Lkw-Fahrer steigen“. Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen der EU-Freizügigkeit und ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die auf der Hand liegende Gegenfrage wäre natürlich: Was wurde aus den bis dahin in Britannien arbeitenden Lkw-Fahrern?

Die ökonomischen Auswirkungen zu vernachlässigen, wäre genauso falsch, wie daraus Automatismen abzuleiten. Letztendlich beschreiben wir die Bedingungen, unter denen der Klassenkampf geführt werden kann, aber geführt werden muss er doch. So ist es zwar objektiv richtig, festzustellen, dass durch Zuwanderung zum Beispiel der Druck auf dem Wohnungsmarkt wächst. Aber daraus folgt nicht, dass die Zugewanderten schuld an der schlechten Wohnraumversorgung sind. Es muss stattdessen für einen öffentlichen Wohnungssektor gekämpft werden, der das Wohnen als Grundrecht sichert – für hier Geborene ebenso wie für Zugewanderte. Die herrschende Klasse setzt jedoch an den erlebten negativen Auswirkungen der Migration an und versucht, dadurch die Spaltung der Klasse voranzutreiben. Um dieser Instrumentalisierung von berechtigten Sorgen entgegenzuwirken, ist es notwendig, die Ursachen und Wirkweisen der mit der Migration verbundenen Problemstellungen zu verstehen – sie zu ignorieren, bringt uns nicht voran.

Liebe Genossinnen und Genossen,

bestimmte gesellschaftliche Bereiche funktionieren schon seit vielen Jahren überhaupt nur noch, weil die notwendige Arbeit von Migrantinnen und Migranten gestemmt wird. Das Paradebeispiel ist sicherlich das Gesundheits- und Pflegesystem. Auch hier ist der „Fachkräftemangel“ vor allem ein Mangel an guten Arbeitsbedingungen, Löhnen und Ausbildungsmöglichkeiten. Ohne Zuwanderung wäre das profitorientierte Gesundheitswesen längst nicht mehr funktional und die Versorgung von Pflegebedürftigen, auch in der Altenpflege, nicht mehr zu gewährleisten.

Um damit umzugehen, brauchen wir erneut die Unterscheidung zwischen Migration als objektivem Prozess, der Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen und Migranten, die eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit verrichten, und der bürgerlichen Migrationspolitik, die alles daran setzt, Zuwanderung und verschärfte Ausbeutung als Lösung der hausgemachten Probleme darzustellen. Ergebnis dieser Abwägung kann nur der gemeinsame Kampf aller Kolleginnen und Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen für alle und für eine gut finanzierte Pflege als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein.

Wenn wir einen genaueren Blick auf die Verhältnisse auf dem sogenannten „Gesundheits- und Pflegemarkt“ werfen, fallen mit Blick auf das Migrationsgeschehen bestimmte Entwicklungen besonders ins Auge. Da haben wir zum Beispiel das Phänomen der sogenannten „Live-in-Pflege“ – zu Deutsch: 24-Stunden-Pflege, oder umgangssprachlich: „Wir holen der Oma eine Polin.“ Dieses Modell geht mit einem enormen Bedarf an Arbeitskräften einher, der vor allem von Frauen aus dem osteuropäischen Raum sichergestellt wird. Nach einer Untersuchung der Diakonie Deutschland aus dem Oktober 2022 „arbeiten in Deutschland derzeit zwischen 300.000 und 700.000 Personen, ganz überwiegend Frauen, die in der Regel aus mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern stammen, als Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegekräfte, die mit den zu pflegenden Personen in einem Haushalt leben“. Häufig geht dies mit starken Abhängigkeitsverhältnissen, mangelnder sozialer Absicherung und der Verletzung grundlegender Arbeiterrechte (Arbeitszeit, Pausen, Urlaub) einher.

Natürlich bietet sich hier für Familien die Gelegenheit, ihre Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld versorgen zu lassen – auf welche die Betroffenen auch regelmäßig angewiesen sind. Es geht also nicht um einen moralischen Vorwurf. Klar ist aber auch, dass diese Art der Versorgung auf einer volkswirtschaftlichen Ebene nur durch die Ausnutzung des Lohngefälles funktioniert. Die 24-Stunden-Pflegerinnen in Deutschland stehen dabei am Ende einer Migrationskette, die sich auch über ihre Heimatländer fortsetzt. So kommen etwa Altenpflegerinnen aus Tschechien nach Deutschland, während Altenpflegetätigkeiten in Tschechien zu einem großen Teil von Frauen aus der Ukraine oder aus Moldau übernommen werden. Grundlage dieses ganzen Vorgehens ist die EU-weite Freizügigkeit bei gleichzeitig sehr unterschiedlicher Entwicklung der betroffenen Volkswirtschaften. Dadurch wird ein Modell ermöglicht, das mit Blick auf das medizinische Personal sagt: „Ihr könnt euch eure Pflegerinnen nicht leisten, darum kaufen wir sie euch ab.“ Für die Arbeitenden sind höhere Löhne als im Heimatland möglich, doch am Ende der Migrationskette steht der Ausverkauf – und die Feststellung, dass sich einige Länder eine vergleichsweise hohe Quote von Pflegenden leisten können, mitfinanziert von den ärmeren.

Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der Abwerbung von Ärztinnen und Ärzten. Die Ausbildungskosten für einen Mediziner betragen in Deutschland rund 200.000 Euro. Von 581.000 in Deutschland beschäftigten Ärzten hatten zum 31. Dezember 2024 laut Ärztestatistik 68.102 keine deutsche Staatsbürgerschaft.18 Die Summe der durch den Import von Ärzten eingesparten Ausbildungskosten liegt also bei mehr als 13,6 Milliarden Euro – wenn man nur diese Gruppe in den Blick nimmt. Die häufigsten Herkunftsländer sind mit großem Abstand Syrien (7.042), Rumänien (4.682), Türkei (3.169), Russland (3.110) und Österreich (3.036). Mit Ausnahme von Österreich haben diese Länder alle eine niedrigere Arztdichte als Deutschland. Es handelt sich schlicht um die Aneignung der in den Herkunftsländern geleisteten Ausbildungsleistung zulasten der dortigen Gesundheitswesen. In diesem Zusammenhang sei an die Aussage des jetzigen Kanzleramtschefs Frei erinnert, der für den Schutz vor Abschiebungen nach Syrien ein Mindestgehalt festlegen wollte. Mit Blick auf die Ärzte ahnt man, warum.

Ähnlich verhält es sich beispielsweise bei Albanien. Pech macht darauf aufmerksam, dass im Jahr 2023 mehr als 1.000 albanische Ärzte in Deutschland arbeiteten. Dem stehen gerade einmal 5.000 Ärztinnen und Ärzte in Albanien insgesamt gegenüber. Zugleich war Albanien eines der Länder, in die die meisten Abschiebungen vorgenommen wurden. Ein harsches Regime gegen diejenigen, die dem Kapital nicht nützlich erscheinen, bei gleichzeitiger „Freizügigkeit“ für wertvolle Arbeitskräfte sind zwei Seiten derselben Medaille.

Während das deutsche Kapital ohne größere Bedenken Ausbildungskosten in ärmere Länder verlagert, um ihnen das Personal anschließend abzunehmen, wird das deutsche Bildungswesen abgeschirmt. Wer mit einem Visum in Deutschland studieren möchte, muss in der Regel ein Sperrkonto einrichten und dort mehr als 10.000 Euro einzahlen. Das Geld darf erst in Deutschland abgehoben werden – so wird sichergestellt, dass Ausbildung nur einer relativ wohlhabenden Gruppe von ausländischen Studierenden ermöglicht wird.

Das Gesundheitswesen hängt also in der globalen Betrachtung von der systematischen Ausplünderung ärmerer Länder ab. Das sei auch noch erwähnt, weil gerade mit Blick auf Geflüchtete häufig gerne behauptet wird, dass diese sich durch die Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung unzulässig bereichern würden. Besonders, wenn es um psychische Erkrankungen geht, wird schon einmal getönt, dass „Deutschland nicht die Psychiatrie der Welt“ sei. Das Gegenteil ist der Fall: Die „Welt“ finanziert das profitorientierte deutsche Gesundheitswesen unfreiwillig mit.

Liebe Genossinnen und Genossen,

zugegeben, wir haben jetzt einige Problemfelder entwickelt. Die Diskussion über die ökonomischen Grundlagen ist jedoch unausweichlich, wenn man nach den passenden politischen Schlussfolgerungen sucht. Dabei gilt es auch zu beachten, dass die bürgerliche Migrationspolitik eine ganze Reihe von weiteren Zielen verfolgt, die hier nur kurz angerissen werden können.

Neben der Selektion von Arbeitskräften und dem Vorhalten einer Reservearmee von Beschäftigten wird auch die Entrechtung von Migrantinnen und Migranten vorangetrieben. Das geschieht derzeit vor allem durch die Androhung von Abschiebungen bei politischem Fehlverhalten. Vor allem die Palästina-Solidarität ist ins Visier geraten. Durch die Einführung von immer schärferen Gesetzen zur Abschiebung soll ein Einschüchterungseffekt erzielt werden. Wer bleiben will, soll sich lieber ruhig verhalten. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass hier auch gewerkschaftliches Engagement oder die Beteiligung an Streiks in den Fokus rücken. Für Menschen, deren Aufenthaltsgenehmigung von der Beschäftigung abhängt, ist es ungleich schwerer, für ihre Rechte zu kämpfen. Zugleich wird mit der Angstmache vor den vermeintlich „extremistischen“ Migranten der reaktionäre Staatsumbau vorangetrieben. Gleiches gilt für die Betonung von „Ausländerkriminalität“, die immer wieder für die Legitimation der Aufrüstung der Polizei herhalten muss.

Wie auch beispielsweise in den USA zu beobachten, dienen martialische Razzien und Abschiebeoffensiven auch dazu, die verbleibenden Migranten einzuschüchtern und in noch prekärere Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Diese Angriffe zielen auf die Organisationsfähigkeit der Arbeiterklasse. Es handelt sich um gewaltsame Spaltungsmechanismen, denen wir uns entgegenstellen müssen.

Auch der Abbau von sozialen Rechten und Leistungen wird über den Umweg der „Migrationspolitik“ vorangetrieben. Schwingt doch immer dann, wenn von der „Einwanderung in den Sozialstaat“ die Rede ist, der Unterton mit, dass es in Deutschland ohnehin zu viele Sozialleistungen gäbe. In diesem Zusammenhang wird versucht, die Arbeitskosten zu drücken – beispielsweise durch den Vorstoß des Landkreistags im Jahr 2018, das Kindergeld für ausländische Arbeitnehmer in Deutschland zu kürzen. In der öffentlichen Debatte ging es, wie nicht anders zu erwarten, um vermeintliche „Zuwanderung in die Sozialsysteme“. Tatsächlich zielte der Vorstoß jedoch hauptsächlich auf hunderttausende Polinnen und Polen ab, die im Rahmen der EU-Freizügigkeit über die Grenze pendeln.

Ein weiterer Fall von Sozialabbau unter dem Deckmantel der Migrationspolitik zeigt sich in der gezielt vorangetriebenen Überforderung vom Kommunen mit der Unterbringung von Geflüchteten. Hier hat es über Jahre keinen nennenswerten Fortschritt und nicht im Ansatz ausreichende Unterstützung gegeben. Seitdem werden die Klagen der strukturell unterfinanzierten Kommunen regelmäßig für Forderungen nach einem weiteren Abbau des Asylrechts genutzt. Das lenkt auch von den verheerenden Auswirkungen der Kriegspolitik auf die Gemeindefinanzen ab.

Nach außen treibt Deutschland über die EU eine Militarisierung der Grenzsicherung voran. Nicht nur, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex immer weiter aufgerüstet wird. Sie ist auch zunehmend fernab des EU-Gebiets im Einsatz und sorgt somit für eine Ausweitung des militärischen Aktionsradius der EU. Mit der Zielstellung der Abwehr von „irregulärer Migration“ rüstet die EU auch den Grenzschutz in afrikanischen Staaten auf – zum Beispiel durch den fünf Milliarden Euro schweren „Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika“. Damit wird gezielt das Vorhaben der Afrikanischen Union untergraben, die bis zum Jahr 2063 eine kontinentweite Freizügigkeit anstrebt.

Liebe Genossinnen und Genossen,

der proletarische Internationalismus ist die Richtschnur unseres Handelns. Wenn der deutsche Imperialismus schwächere Ökonomien ausplündert, ihnen durch den Braindrain schadet und sich durch eine verschärfte Ausbeutung an den von ihm selbst ausgelösten Migrationswellen bereichert, dann wird von uns Widerstand verlangt – ebenso selbstverständlich auch gegen die Schaffung von Fluchtursachen. Erst vor Kurzem habe ich an einer Sitzung des Neusser Stadtrats teilgenommen, in der zuerst die Einführung der schikanierenden „Bezahlkarte“ für Asylsuchende gefordert wurde, um „Pull“-Faktoren zu minimieren – als ob derartige Maßnahmen etwas mit Fluchtprozessen und den dahinterstehenden Triebkräften zu tun hätten. Beim nächsten Tagesordnungspunkt begrüßte die Mehrheit die geplante Umwandlung eines Automobilzulieferers in eine Waffenfabrik – also faktisch die Schaffung weiterer Fluchtursachen.

Zum Kampf gegen Ausbeutung und Krieg gehört die Solidarität mit den Menschen, die als Geflüchtete oder als Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Sie sind Teil der Arbeiterklasse und unseres gemeinsamen Kampfes.
Ihre Migrationsgeschichte bringt Schwierigkeiten und Chancen mit sich. Schwierigkeiten etwa dann, wenn Sprachbarrieren und die (berechtigte) Angst vor Repressionen vorherrschen. Auch die mit prekären Lebens- und Wohnverhältnissen – häufig konzentriert auf bestimmte Stadtteile – einhergehende Abtrennung vom Rest der Arbeiterklasse, durchlebte Fluchterfahrungen oder die erlebte Konfrontation mit Rassismus und Diskriminierung können die gemeinsame Organisation erschweren. Auf der anderen Seite können die im Heimatland gemachten Erfahrungen mit dem Wirken des Imperialismus und dem Widerstand dagegen sehr wertvoll für die Herausbildung eines antiimperialistischen Bewusstseins hierzulande sein. Wie beeindruckend ist das Auftreten der migrantisch geprägten Palästina-Solidarität, auch bei den diesjährigen Ostermärschen, trotz massiver Repression gewesen? Hier bieten sich die Chancen, Bewegungen zusammenzuführen, die zusammengeführt werden müssen.

Ausgangspunkt der politischen Einschätzung muss für uns die Unterscheidung zwischen der Migration als mit dem Kapitalismus unzertrennlich verbundenen Prozess, den interessengeleiteten Zielen der bürgerlichen Migrationspolitik und dem Umgang mit den betroffenen Menschen sein.

Um einen Umgang mit Migration als Prozess zu finden, bedarf es des internationalen Austauschs mit unseren Schwesterparteien und weltweiten Verbündeten. Nur dadurch können die Auswirkungen und Ursachen eingeordnet werden.

Die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Migrationspolitik muss mit der Aufdeckung der dahinterliegenden Interessen beginnen. Häufig wird sich zeigen, dass das Interesse schon darin besteht, dass die Debatte über beispielsweise Grenzschließungen den gesamten öffentlichen Raum dominiert und von der Friedensfrage oder von der sozialen Frage ablenkt. Es ist daher zu überlegen, ob es sinnvoll ist, sich innerhalb dieser Debatte zu bewegen und somit am Ablenkungsmanöver mitzuwirken. Ziel muss die Aufklärung über Hintergründe und Auswirkungen sein. Dies gelingt jedoch nur begrenzt, solange der Klassenfeind – siehe Bundestagswahlkampf – nahezu unerschöpfliche mediale und politische Ressourcen in das Befeuern dieser Diskussion investiert. Das ist ein Problem, mit dem wir leben müssen – ohne davor zu kapitulieren.

Zugleich muss es Widerstand gegen die Militarisierung der Grenzsicherung und menschenverachtende Auswirkungen (etwa das Massengrab Mittelmeer) geben, gegen Rassismus, Einschüchterungsversuche, und die Angstmacherei sowieso.
Die Menschen, die bereits in Deutschland leben, werden durch Migrationsprozesse vor objektive Herausforderungen gestellt, die von der herrschenden Klasse instrumentalisiert und verschärft werden. Wir leugnen die dadurch entstehenden Probleme nicht, wenden uns aber gegen Ausgrenzung und orientieren uns in unserem politischen Kampf am gemeinsamen Klasseninteresse.

Dabei ist es notwendig, den Überblick über Ursache und Wirkung zu behalten. Denn es bleibt am Ende eines Referats über Migration nicht aus, dass sich der Eindruck aufdrängt, die gesamte kapitalistische Problemwelt hänge irgendwie mit der Migrationsfrage zusammen. Deshalb möchte ich zum Schluss noch einmal Beate Landefeld zitieren, die es sehr treffend auf den Punkt gebracht hat: „Die Kapitalisten benutzen die Migration, um das Lohnniveau zu drücken, wie sie jede Differenzierung unter den Lohnabhängigen nutzen, zum Beispiel die Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder den Generationen. Jüngere werden Älteren vorgezogen, viele Frauen und Ausländer in prekäre Beschäftigung gedrängt, Frauen verdienen weniger als Männer, Ausländerinnen am wenigsten. Das ist Klassenkampf von oben. Seine Abwehr ist nur durch ökonomischen und politischen Klassenkampf von unten möglich. Nur auf diesem Weg lassen sich gute Beschäftigungsverhältnisse für alle erkämpfen.“ Das Ziel müsse der Kampf gegen die ursächliche Ungleichheit sein – und damit gegen den Kapitalismus, der sie hervorbringt.

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