Keine Weihnachtsgeschichte

Golem

Stell dein Herz beiseite, dass es so weh tut, macht mich kirre“, sagt Siri. Es stimmt nicht, dass sie nur in Stresssituationen Selbstgespräche führt. Aber dann hat sie die so gar nicht unter Kontrolle.

Siri geht am Tabakladen vorbei und kehrt wieder um. Es kommt nichts vom Himmel, trotzdem zieht die Besitzerin Plastikschutzhüllen über die Zeitungsständer. Es ist Nachmittag geworden und Siri hat es nicht bemerkt. Sie fragt, ob sie eine der Zeitungen vom Tag bekommen kann, so für wenig bis gar nichts, weil sie ja nicht mehr wirklich aktuell sind und eh bald im Müll landen. Die Besitzerin kennt Siri von irgendwoher und gibt ihr eine. Sie kennt sie aber nicht gut und gibt ihr ein Schundblatt. Siri bittet um ein anderes.

„Ok“, sagt die Besitzerin und greift unter die Folie nach einer Zeitung, die hinter einer anderen steckt, die wiederum hinter einer anderen steckt. „Die gehen sowieso nie weg. Zu viele Wörter pro Seite und die Leute, die da drin schreiben, wollen einem wirklich die Unbeschwertheit wegnehmen. Glaub mir, ich schau in das rein, was ich verkauf. Soll mir keiner sagen, ich wüsste nicht, was ich nicht loskrieg und was für Mist gut geht. Ich weiß das.“

Vor dem Laden riecht es nach CBD-Rauch und etwas an dem Geruch der Ladenbesitzerin selber erinnert Siri an eine bestimmte Sorte Fünfminuten-
terrine aus der vergangenen Woche. Welche genau, fällt ihr erst ein, nachdem sie sich für die Zeitung bedankt und im Park gegenüber eine freie Bank gesucht hat. Siri hat Presse jeder Art eine Zeit lang gehasst. Das muss um die Jahre 2025 bis 2030 gewesen sein. Danach hat man sie weitgehend in Ruhe gelassen.

Siri blättert zur Innenpolitik vor, da findet sie aber nichts über die Gesundheitssenatorin, also schaut sie weiter zur Doppelseite Arbeit&Gewerkschaft und findet da auch nichts. „Du schaust doch gar nicht richtig“, sagt sie sich. „Nimm die Füße hoch und die Gedanken zusammen und guck nochmal auf der Drei.“
Und da war auch das, was sie sucht, leider nur als Meldung – muss gestern zu kurz vor Redaktionsschluss reingekommen sein, bei einer Tageszeitung, die sowas sonst immer sehr interessiert.

„Bremen. Gesundheitssenatorin Clara Bauer spricht sich für die Schaffung von 250 Stellen in den städtischen Kliniken aus. ‚Das Personal steht unter Dauerdruck. Wir müssen für dringend benötigte Entlastung sorgen‘, sagte sie am Mittwoch gegenüber dem Radiosender BuB. Die 73-jährige Politikerin der Partei“ – „Laberrhabarberlaberleckmich“, sagt Siri und faltet die Zeitung halbwegs ordentlich zusammen und entknotet sich aus dem Schneidersitz. Das Geräusch, das die Steppweste macht, wenn sie sich bewegt, stört sie. Sie will sie ausziehen und am liebsten wegwerfen, aber dann friert sie. Die Weste hatte sie gegriffen, als sie rausgerannt war und nicht guckte, was sie sich da schnappt. Jedenfalls war es nicht ihre Weste. Sie hat die gleiche, auch auf Knöchellänge, auch navyblau, auch geräuschintensiv, nur eine Nummer größer. Die hier geht nur bis knapp unters Knie, wenn sie aufsteht, und wenn sie in die Taschen greift, dann sind da Binas bekloppte Sachen, die sie mit sich rumschleppt: ein halbes Dutzend Brillenputztücher, ein Vierkant, weil sich der Fahrradsattel ständig lockert, oder für falls mal im Bus das Fenster nicht aufgeht, es aber drinnen stinkt, und drei USB-Kabel mit drei verschiedenen Anschlüssen am andern Ende, von denen zwei gar nicht mehr an irgendwelche Endgeräte passen, die noch im Umlauf sind.

Siri nimmt alles in beide Hände, geht zum Müllkorb und wirft es rein. Sie hofft, sich dabei zu freuen, aber eigentlich merkt sie gar nichts. Und weil der Müllkorb bis oben hin mit Laub gefüllt ist, pickt sie das meiste von Binas Kram wieder raus. Das fuchst sie wiederum, dass sie das macht.

Sie sieht eine Frau mit Gehhilfe auf sich zukommen und das holt sie aus dem Gefühlskreisel. Die Frau hat Siri beobachtet, auf der Bank hockend, mit der Zeitung, die sie geschnorrt hat und wie sie jetzt was aus dem Müll fischt und dabei ab und an Selbstgespräche führt, dabei aber nicht den Anschein macht, fremdaggressiv zu sein. Sie will Siri Geld geben und kommt damit klimpernd auf sie zu. Es passiert in Zeitlupe. Siri hat lange, um zu reagieren. Die Zeit nimmt sie sich aber nicht, sie steckt nur Kabel und Vierkant in die Westentaschen und schaut die Alte an, ganz ohne was damit zu vermitteln, nur, damit die ihr Gesicht erkennen kann, wenn sie nur lang genug hinschaut und nicht ewig hinterm Mond gelebt hat. Sehen kann sie, sonst hielte sie Siri ja nicht für eine Wohnungslose und den Moment gekommen für eine schöne Geste der Nächstenliebe, so kurz vor Weihnachten.

„Sie Arme, hier, für einen Kaffee und …“, sagt die Frau, die ihre Hand schon ausstreckt und dann aber auf halbem Weg einfriert. Sie zieht die aufgemalten Augenbrauen hoch, bis sie unter dem Strickstirnband verschwinden und macht den Mund nullförmig auf – dass sie so Schienen trägt, wie die Kasse statt der dritten Zähne bezahlt seit der letzten Gesundheitsreform, unterstreicht das noch – und sagt zu Siri: „Oooh, Sie sind die? Wirklich?“

„Sag ‚Nein‘, spars dir“, sagt Siri sich. Aber dann sagt sie laut „Ja“, lässt die Zeitung liegen und geht in Richtung anderes Parkende.

„Du mieses Stück Bastard!“, ruft ihr die Alte hinterher und Siri muss lachen, weil sie lang nicht mehr so behämmert beleidigt worden ist. Muss Jahre her sein.

Bina gab sich keine Mühe mehr. Sie steuerte das Raumschiff mit dem Hamster drin nur noch lustlos durch das Level, wich ohne zu schießen den Goblins und der von der Decke tropfenden Säure aus. Sie hätte die linke Hand lieber in der Tüte Flips und die Flips dann in ihrem Mund, aber dann müsste sie das Spiel pausieren und dann die Hand an der Hose gründlich abwischen, um den Screen nicht zu verschmieren. Noch lieber wär sie einfach nur ins Bett gegangen.

Siri sah, dass sie zockte, um nicht mit ihr reden zu müssen. Also setzte Siri sich neben sie aufs Sofa und stellte fest, dass beider Wohnung so unbequem wie nur möglich eingerichtet war. Der Couchtisch stand deshalb da, weil jemand mit einem riesigen Brandstempel das Nestlé-Logo draufgemacht hatte, das mit dem Vogelnest, und drunter stand, ebenfalls eingebrannt, NESPL, aber in kyrillischen Großbuchstaben, deshalb auch das E statt des Ö. Was schon irgendwie cool aussah, aber der Tisch war so sperrig, dass in dem kleinen Zimmer zu zweit kaum Platz zum Aufstehen blieb. Bina müsste das am meisten stören, aber sie hatte sich nie beschwert, nachdem Siri den Tisch in der Kunstabteilung von eBay gefunden, runtergehandelt und bestellt hatte, ohne das mit ihr abzusprechen.

Siri stützte einen Ellbogen leicht auf Binas Schulter. Die neigte den Kopf nicht, was sie sonst in so einem Moment tat, damit in der Kuhle am Hals mehr Platz wurde für Siris Schläfe. Bina guckte einfach auf ihr Tablet. Auf das legte Siri ihren Zeigefinger und ehe Bina reagieren konnte, steuerte der den Hamster gegen einen überdimensionierten Kaktus.

„Hey“, sagte Bina halbherzig und Siri hätte sich gewünscht, dass sie ihr mehr Schimpfe wert wäre.

„‚Hey, du Arschkeks!‘, heißt das“, sagte sie. Ihre Besserwisserei zog, Bina sprang auf und ging zum Fenster. Auch wenn es sieben Uhr morgens war, konnten das ruhig alle hören. Wieder ein Beweis, wie übel das Wohnzimmer vollgestellt war, denn das Fenster ging nicht nur nicht sofort auf, weil da im Dezember ein Nussknacker auf dem Fensterbrett stand, sondern ließ sich nur dann ganz öffnen, wenn man gegen das Bücherregal daneben drückte und es zwei, drei Zentimeter nach links stemmte.

„Soll ich dir helfen?“, fragte Siri und wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf und half und das war auch gemein gemeint, denn Siri wusste genau, dass Bina das allein schaffen würde. Die eisige Morgenluft traf auf ihre Gesichter und beiden fröstelte gleichzeitig – Siri, weil sie gerade erst aus der Bettwärme gekraxelt war, Bina hauptsächlich vor Müdigkeit vom Nachtdienst. Bina zog immer ihre Wangen ein bisschen in die Mundhöhle, wenn sie fror und Siri fand das toll, wurde aber rausgerissen aus dem Tollfinden, weil Bina jetzt loslegte:

„Siri, meine Fresse, du weißt, dass ich arbeite, wenn ich auf Arbeit bin, oder?“
„Ja, was sonst?“, sagte Siri, setzte sich zurück aufs Sofa, warf sich eine Decke um und puhlte goldfarbenen Schlaf aus einem Augenwinkel neben ihrer Nase.
„Und trotzdem denkst du, wie sehr okay es denn wär, mich mit Nachrichten zu bombardieren?“

„Ja, du“, sagte Siri. „ICH konnte ja auch nicht schlafen.“ Es waren wirklich nur drei Stunden Rumwälzen, bis sie Binas Schlüsselbund an der Wohnungstür gehört hatte.

„Ach, bums dich!“, sagte Bina und Siri konnte nicht mehr vor. Aber Bina war noch nicht fertig: „Du kannst schlafen, wann du willst. Du kannst arbeiten, wann du willst. Du an deinem Laptop, mit deinem Home-Office. Aber du kannst mir nicht auf den Zeiger gehen, wann du willst. Genau du müsstest das ja wissen.“
Draußen ging die Straßenbeleuchtung aus, dabei war es noch stockfinster und man hörte eine am Fenster vorbeikommen und dabei fluchen, dass sie jetzt nicht mehr sähe, wo sie hintrete, zur zugefrorenen Hölle. Und dann hörte man sie schlittern, aber nicht stürzen.

Siri hatte sich wieder: „Ich will möglichst dann schlafen, wenn du schläfst, weil ich wach sein will, wenn du wach bist. Und ich will dich in Ruhe lassen, wenn muss. Aber es hat mich beschäftigt und das konnte ich nicht mit mir alleine ausmachen. Guck, ich dachte, wir wären uns da gar nicht so uneinig?“

„Wo einig? In der Meinung drüber, was mein Parteivorstand so verzapft und was die Fraktion in der Bürgerschaft macht, oder damit, dass wir uns nicht alleine lassen?“ Bina setzte sich auf die Sofaarmlehne, während sie das sagte, und machte nichts dagegen, dass sie offensichtlich heftig fror, außer die Arme zu verschränken, die Schultern hoch- und ihr Kinn einzuziehen.

„Das eine, das Erste? Beides? Ja, ich weiß doch auch nicht“, sagte Siri und wusste es aber und wusste, dass Wissen dafür halt nicht reicht, und wusste, dass Bina ihr an der rotgefrorenen Nasenspitze ansah, was sie dachte.

Hier ein verliebtes Pärchen mit zueinander passenden Lebkuchenherzen, dort ein Umsatz machender Betriebsausflug (???) – in Stollen beißende Drohnenpilotinnen aus einem der Bundeswehragenturbüros. Der Weihnachtsmarkt sonst ist schlecht besucht, mag an der Uhrzeit liegen und dass Donnerstag ist, mag aber auch daher kommen, dass auf der anderen Seite vom Hauptbahnhof, vor dem Messegelände, eine 3D-Installation generalgeprobt wird. Man soll sich dort ansehen können, ob in einem Kampf der überdimensionierte 30-jährige Witali Klitschko gegen einen ebenfalls drei Stockwerke hohen 30-jährigen Wladimir Klitschko bestehen würde – der Kampf ist nicht der wirkliche aus 2025 in der Kiewer Bandera-Arena, sondern eine fiktive, zeitlich zurückversetzte Revanche. Jede Vorführung habe einen anderen Verlauf, verspricht die Werbung.

Siri will Glühwein und würde auch dafür bezahlen, egal, was für einen Fantasiepreis sie sich dieses Jahr ausgedacht haben. Gut, nicht ganz egal.
Sie trinkt, solange der Glühwein heiß ist, und überlegt, ob sie auch eine Pilzpfanne. Da springt eine aus einer Traube Jugendlicher mit Sporttaschen auf sie zu und sagt: „Du bist doch die, oder?“

„Die?“, wiederholt Siri.

„Na ja.“

„Achso, DIE! Nee, DIE nicht.“

„Oh, dann ’tschuldige!“, und ist wieder bei ihren Freundinnen, die sie auslachen, weil sie sich so hat abwickeln lassen. Siri trinkt den Glühwein im Gehen leer und stopft sich Kopfhörer in die Ohren. Dann macht sie steinalten Hardcorepunk an, Hundredth. Bekannt geworden sind die erst, als sie umgefallen sind und angefangen haben, Indierock für Hipster zu machen. Sie hört das Indiezeug auch gern, wenn sie außerhalb vom Strand in Strandlaune sein will, aber jetzt macht sie die Playlist mit dem harten Zeug an und muss ihr Smartphone mehrmals darauf hinweisen, dass sie weiß, dass die Lautstärke, in der sie hören will, schlecht für ihre Ohren ist. Sie hört der Musik zu:

Does the body rule the mind
Or does the mind rule the body
I think I finally know
I think I finally know

Sie tritt auf die Straße, die nicht wirklich frei ist, und der Linienbus bremst ab und fährt langsam an ihr vorbei und nichts passiert, außer kurz etwas schlechte Laune bei denen im Bus.

„Wohin willst du eigentlich?“, fragt sie sich und sagt sich darauf: „Nirgendwohin. Ich geh halt spazieren und seit wann muss man wohin, wenn man spaziert?“

„Na ja, du frierst, in deinen Schuhen schwimmt schon der Straßensiff, du zerdenkst alles und wirst angepöbelt und guck, jetzt schneits sogar. Das ist kein Spazier-, das ist ein Büßergang und die führen halt irgendwohin. Es sei denn, man ist total bekloppt.“

Der Schnee fliegt in dicken Flocken durch ihr Gesichtsfeld. Siri streckt die Zunge raus und fängt eine. Sie geht die Nachrichten durch, die sie heute bekommen hat: Acht Spamnachrichten, in fünf davon wird drum gebeten, ihr ihre erschreckend zutreffend beschriebenen Haare abkaufen zu dürfen, drei andere bieten ihr Extensions an; dann sind da noch Gruppenchats, die sie nicht öffnet, auch wenn ihr ein @ verrät, dass ein paar der Nachrichten direkt an sie gerichtet sind und sicher die einen Streikwesten und Lautsprecheranlage von den andern und die andern helfende Hände zur Nikolausaktion von den einen wollen und das ließe sich so leicht lösen, dass das nicht sofort sein muss; vier oder fünf Nachrichten sind von Freundinnen, die sich über Geschenkideen unterhalten wollen und also so schnell keine Antwort bekommen werden; keine Nachricht von Bina.

Dafür ploppt eine Mail auf: der Pharmakonzern, der sie für ihre Dienstleistung als Programmiererin bezahlt, fragt nach, wo die Dienstleistungen von gestern und heute bleiben, PS: Aller Weihnachtsgeld ist gestrichen, das Krisenloch muss gestopft werden damit. Weil die Unbestreitbarkeit der Lohnpreisspirale. Dankeschööön für euer Opfer!

Siri wird übel, nicht viel und nur kurz. Sie hasst den Laden und wie gönnerhaft er sie nach allem eingestellt hat, als sie sonst nichts gefunden hatte, oder da, wo sie anfing, zur Tür rausgemobbt worden ist. Man habe, so die von der Personalabteilung beim Jobinterview, ihr ja schon einmal ein Leben geschenkt, da „könne – müsse! – man ihre Haut auch ein zweites Mal retten“.

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Weihnachtsmärkte sind tendenziell auch eher traurige Orte. (Foto: Jorge Franganillo / Flickr / CC BY 2.0)

Wenn bei Siri der Spaß vorbei ist und sie wütend, richtig kackwütend wird, dann sieht man das an einem Ypsilon aus Adern, dass sich bei ihr auf der Stirn bildet. „Aus der Bahn! Siri wird Syry“, kommentiert das Bina immer. Na ja, hat sie zumindest.

„Wunderbar“, sagt sich Siri rotköpfig. „Wir haben ein Ausflugsziel. Nächster Halt: Scheißverein.“ Der Schneefall verdichtet sich zum -treiben und jeder Mensch, der an Siri vorbeiläuft – und sie wollen alle nach Hause und gehen hurtig – zieht einen Wirbel weißer Flocken hinter sich her und damit sehen die Leute aus wie Superhelden und Mutantinnen, denen unsichtbare Capes nachflattern, mit hauchdünnen Flügeln oder riesigen Schneckenhäusern auf dem Rücken. Siri läuft los und läuft genauso schnell wie alle andern, nur in die entgegengesetzte Richtung von zu Hause.

Siri sagte: „Ich bin ruhig. Ich habe ganz, gaaanz in Ruhe und bei vollem Verstand eruiert, dass ich arg angepisst sein sollte.“

Bina war fertig. Sie würde nicht noch eine Stunde mehr mit Siri diskutieren. Nicht mal fünf Minuten, sah man ihr an. Bina hatte sich schon bereiterklärt, nach vier Stück auf Arbeit noch eine Dose Hausmarkenmate von Aldi aufzumachen, während Siri Hausmarkennescafé, auch von Aldi, trank. Das Fenster war wieder zu, draußen wurde es hell. Sie teilten sich mittlerweile die Decke, aber es war auch keine andere da und die im Schlafzimmer, klar!, unter denen stritt man nicht.

Bina raffte sich nochmal auf: „Boah, über was ham wir denn grad geredet? Du kannst ja vielleicht irgendwo recht haben und du kannst ganz bestimmt sauer sein und beides zusammen geht auch. Aber –“ Und da holte sie Luft. „Aber es ist halt wies ist, Mensch. Das mit uns klappt nicht mehr.“

Siri: „Und dass sich deine Partei jetzt hinstellt und die völlig und absolut notwendigen Arbeitsplätze wieder schafft, die sie vor Jahren abgeschafft hat, das klappt dann oder wie?“

Bina: „Uff, können wir erst mal bei einer Sache von beiden bleiben?“

Siri: „Nein.“

Bina: „Gerade du solltest doch wissen, dass man nicht zwei Sachen ineinander rühren darf, dass nicht alles Mathe ist und gegeneinander aufgerechnet werden kann.“

Siri: „Gerade ich sollte wissen, dass das nicht funktioniert. Aber dann rede ich von der Fallpauschale und die ist da und da haben alle, die noch vernünftig waren, was weiß ich was alles veranstaltet dagegen und dann wurde die durch die Hintertür wieder eingeführt, weil alle dachten, das nehmen die nicht mehr zurück. Aber das mit dem Rechnen, das meinst du gar nicht an der Stelle, oder? Sondern, dass ich deiner Parteigenossin vorwerfe, dass sie sich jetzt an die gleichen Mikros stellt wie vor paar Jahren und so tut, als wärs das erste Mal – und ich find das Mist, weil es nicht das erste Mal ist, weil es das schon mal gab und da hat sie sich hingestellt und die schwarze Null für deine und für alle anderen städtischen Kliniken gefordert. Und dass ich das aufrechne, das ist dann falsch?“

Bina: „Immer dein ‚Was ist mit‘. Als nächstes ist Clara Bauer eigentlich Noske, hä? Oder: ‚Was ist mit dem Gothaer Programm?‘ Ich hab ja nie was andres behauptet, außer, dass die Bauer anbietet, es sich einfach zu machen mit ihr. Aber dann kommst du und scherst alle über einen Kamm.“

Siri: „Was soll ich denn sagen, wenn ihr immer noch die gleiche Senatorin sein lasst? Soll sich da irgendwas getan haben? Ein bisschen kitten, was man selber eingerissen hat?“

Pause, dann Bina: „Aber von mir willst du das? Was fixen, was von mir ausging?“
Siri: „Ich dachte, wir wollen bei einer Sache bleiben.“

Bina setzte an, aber Siri war schneller: „Ja, will ich von dir, was fixen.“
Lange Pause, dann Bina: „Da gibts aber nichts für. Das geht nicht, das ist nicht so einfach.“

Siri sank zurück und sagte: „Niemand hat was von einfach gesagt. Nur du.“ Sagte das aber nur zu sich und ging nach ihren Straßenschuhen.

Der Winterdienst rückt aus. Plastikweihnachtsmänner irrlichtern von Balkonen, die man ahnt. Die Sicht reicht nicht, um weiter zu schauen als bis zur nächsten Kreuzung. Aber Siri weiß, wohin. Und sie geht immer schneller, glaubt sie zumindest, dabei wird es durch die langsam dicker werdende Schneedecke bloß anstrengender, voranzukommen.

„Was machst du, wenn du da bist?“, fragt sie sich.

„Keine Ahnung. Seh ich, wenn ich da bin.“

„Was willst du sagen? ‚Ihr habt mir damals diese Gentherapie für paar viele Millionen gespritzt, ohne die ich sonst sehr wahrscheinlich draufgegangen wär als Baby – und jetzt nehmt das zurück, weil alle hassen mich und das Leben, in das da investiert wurde, isses nicht wert?‘“ Japs, ihr wird die Luft knapp. Die letzten Meter zum Gebäudekomplex geht sie in Gedanken und verkneift sich die Selbstgespräche, um die Lunge zu schonen.

Sie geht im Kopf durch, was ihre Optionen sind. Sie könnte direkt an der Rezeption abgewiesen werden, sie hat ja keinen Termin. Dann könnte sie gehen, oder ausrasten und mit dem Vierkant werfen, oder versuchen zu reden. Immerhin ist sie ja berühmt, die, die als Dreivierteljährige die aberwitzig-teure Spritze bekommen hat, gegen die seltenste Art von Muskelschwäche bis dato bekannt. Als Kind tourte sie durchs Frühstückfernsehen damit, dann war sie nicht mehr süß und sagte mal dieses, mal das im Fernsehen und schon war die unausgesprochene Debatte ausgebrochen, obs denn überhaupt einen Menschen gäb, der so viel wert wäre, grad wenn so viele so krank würden und so wenige gute Behandlungen bekämen. Und genau das würde sie nochmal der von der Personalabteilung sagen, wenn sie sie denn tatsächlich zu sprechen bekäm. Die – eine von der fürsorglichen Sorte, Unternehmen, weiß Siri, stellen in Krisen gern den Typ dynamische Mutti ein – die würde sich bekümmert zeigen, versprechen, ein paar Mails nach oben zu schreiben und das auch wirklich tun. Und irgendwem würde das als Weihnachtsgeschichte auch gefallen, dass das von der Gesellschaft und der Liebe fallengelassene teuerste Kind Deutschlands wieder nach vorne drängt, in die Öffentlichkeit, es satt habend, was man mit ihr veranstaltet, wo sie doch nie die Entscheidung getroffen hat, dass.

Siri könnte auch gleich den Fahrstuhl nehmen und so weit hoch fahren, wie sie damit kommt, und dann ein Fenster öffnen und sich mit dem Schnee zusammen nach unten schmeißen und eine Sauerei mit sich veranstalten. Ein paar, Siri kennt so Leute, würden so einen Unfug als Wertkritik feiern. Das hätte den gleichen Effekt, ihr Fall würde wieder medial verheizt, sicher noch intensiver, als wenn der Konzern sie in einer Werbekampagne verwursten würde. Der Abschiedsbrief, den sie BuB vorher gemailt hätte, würde beim grauen Sack Lanz satzweise zitiert und niemand würde die Gesprächsgäste davon abhalten, aus ihr ihren Salat zu rühren. Bah! Alles falsche Vorstellungen. So kann man das nicht machen. Weil so oder so würde höchstens aus Protest Promo.

Siri, mit dem Ypsilon auf der Stirn, bleibt zwischen zwei Straßenlaternen im Dunkeln stehen, die Hände an den Seiten, die Beine, merkt sie, tun weh vom stundenlangen Umhergehen. Sie bewegt die steifen Zehen in den Halbschuhen von Doc Martens und fummelt eine Schneeflocke aus ihren Wimpern, die sie dabei zu an ihr runterperlendem Wasser zerdrückt.

Der Sommer vor drei Jahren war pervers heiß. Siri hatte in der Klinik ihre Routine-Auffrischung bekommen und war dann umgeklappt, wohl weil dehydriert. Sie hatte, als beim Scheißverein das vorletzte Mal Stellenstreichungen durch waren und vor allem bei den Aktiven viele gegangen worden waren, bei der Kennenlernmittagspause der Gewerkschaft hinterm Grill gestanden und die Hitze hatte sie ausgetrocknet und dumm gemacht. Sie war direkt von da zum Arzttermin und als die Ärztin mit Watte die Blutung am Einstich hemmte, wurde Siri alles gleißend vor Augen und sternverziert und sie war weg.

Die Kochsalzinfusion gab ihr Bina, Lidschatten vom Schlafmangel, Sommersprossen vom Unterwegssein mit dem Rad und von Hals bis Wangen rot werdend, schon nach dem ersten Flachwitz, den Siri riss. Bummzack, verschossen, beide, und sofort verabredet auf einen Durstlöscher am gleichen Tag, auch später Abends, weil man in so einer Brut eh nicht schlafen konnte und zum Frühdienst ging man dann zwar unaufholbar müde, aber auch irgendwie froh drum, dass es um die Zeit noch nicht so drückte und mal ein kleiner Wind ging. So einer ging, als sie sich voneinander verabschiedeten, so langsam, wie sich noch nie zwei zuvor verabschiedet hatten, und Bina noch sieben Minuten hatte, um pfeilschnell zur Klinik zu radeln und rechtzeitig zur Übergabe auf Station zu sein.

„Halloooo, Bina! Die Dingens hier, die Siri. Kennste die noch? Du, ich mach dir mal ne Sprachnachricht von hier, ähm, vom Büro von meinem Betriebsrat aus. Bin da so beim Spazieren dran vorbeigekommen und da war Licht und da bin ich rein und ich sah wohl sehr frostbeulig aus, zumindest macht die mir einen Tee grade und holt Kekse. Die hörst du vielleicht im Hintergrund, die summt diesen alten Schinken von Adele, wos im Text drum geht, dass man nicht so hart angepackt sein will, wie hieß der nochmal? Ich weiß was du jetzt denkst, und ja, ich darf nicht mit der Nase atmen, weils hier so sehr nach Kungelei mit dem Konzern riecht. Na ja, ich kann mich ja als Vertrauensleut wählen lassen unds besser machen. Muss mich nur anstrengen dabei, nicht ständig so eklig zu sein beim Schlausein – und nicht mehr von zu Hause arbeiten. Weißt du, ich glaub, ich mach das, nicht mehr von zu Hause arbeiten – na ja, in zwei Hinsichten halt. Ach so, ich hab deine Weste an und ich hoffe, du hast einfach meine genommen und die gerät dir unten nicht in die Speichen und dass es dir sonst auch gut geht. Na ja, weswegen ich ja eigentlich. – Das tut mir leid, aber irgendwie isses halt so, das stimmt. Alles ist so, wies ist. Und wenn das nicht schon ausreicht, ist vieles davon auch einfach nicht zu ändern. Und umso mehr machts mich fertig, wenn da im Weg rumgestanden wird, wo sich was tun lässt. Aber ich werf schon wieder Sachen ineinander. Und jaaa, ich weiß, grad ich sollte wissen, dass das falsch ist. Frag mich nur, warum, weil wegen meiner Biografie als Prinzessin auf der Spritze oder weil wegen meinem Bolschewismus? Na ja, das wollte ich hier gar nicht gefragt haben. Ich wollte nur sagen, dass ich hier im Warmen sitz und dass ich hoffe, dass es dir gut geht und dass ich niemals nie nicht rüber in deine Partei machen werd und dass ich den Couchtisch behalten werd, der Rest ist mir Zweitens und nichts davon steht zur Diskussion und alles stimmt so. Und hab eine ruhige Nacht!“

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Golem", UZ vom 24. Dezember 2021



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