Nach den Wahlen weht ein neuer Geist auf Kuba. Die Arbeit der Volksvertreter hat sich stark verändert

Hautnah mit der Bevölkerung

Renate Fausten

Im April war das alltägliche Leben in Kuba vom Benzinmangel beherrscht. Leute, die dringend Treibstoff brauchten, verbrachten ihre Nächte in der Schlange vor den Tankstellen. Morgens wurde ihnen die dorthin gelieferte Menge mitgeteilt und wie viel Liter pro Person abgegeben würden. Dann konnten sie sich ausrechnen, ob es sich lohnt, weiter auszuharren. Der Mangel in dieser extremen Form wird sicher nur zeitweilig sein, auch wenn die Verfolgung der Tanker, die Treibstoff nach Kuba bringen, anhält. Was aber dauerhaften Einfluss auf das Leben der Nation haben wird, sind die Wahlen – zuerst die Delegiertenwahlen zu den Gemeindeparlamenten und danach die Wahl der Abgeordneten zur Nationalversammlung.

Neue Handlungsspielräume

Nun waren das natürlich nicht die ersten Wahlen auf Kuba, aber diese waren etwas Besonderes. Die Aufgaben der Delegierten und Abgeordneten haben sich stark verändert. Im Rahmen der größeren Autonomie der Gemeinden und Provinzen haben sie nun größeren Handlungsspielraum. Dies bedeutet aber auch viel mehr Arbeit und Engagement, denn die neue Politik besteht in einem engen Kontakt mit der Basis. Die Abgeordneten müssen genau darüber informiert sein, was in ihrem Wahlkreis vor sich geht, wo Probleme einer Lösung harren. Für Inaktivität gibt es kaum noch Entschuldigungen. Selbst der Präsident, der von einem Wahlkreis in der Provinz Villa Clara zum Abgeordneten für die Nationalversammlung gewählt wurde, verbringt jetzt mindestens einen Tag im Monat im Wahlkreis, hautnah mit der Bevölkerung. Da kommt es nicht vor, dass ein Minister oder Präsident nicht weiß, wie viel die Milch oder das Brot kosten. Dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass in der Regel sowohl die Abgeordneten als auch die Delegierten weiterhin ihren Beruf ausüben. Der Kontakt mit den Menschen und die Bemühungen, bei deren Problemen zu helfen, gehen von ihrer Freizeit ab.

Die Kandidaten werden bei den Versammlungen in den Wohnvierteln nominiert. Wenn ein Kandidat bei den Gemeinderatswahlen über 50 Prozent der Stimmen erhält, ist er zum Delegierten gewählt. Etwa vierzehn Tage später findet dann ein feierlicher Akt statt, an dem die Gewählten ein Siegel und ein Dokument erhalten, das sie als Delegierte ausweist. Dann können sie offiziell mit der Ausübung ihres Amtes beginnen. In einem einwöchigen Seminar erfahren sie, wie die Arbeit mit den Wählern genau gestaltet werden soll. Sie werden über die Gesetzestexte informiert und bekommen Dokumente mit nach Hause, die sie immer zu Rate ziehen können. Früher wurden die Delegierten von Ämtern und Behörden oft abweisend behandelt, wenn sie ihre Anliegen vorbrachten. Das hat sich nun grundlegend geändert. Man weiß nun, dass nur wenn man hört, was die Bevölkerung zu sagen hat, man diese schwierige Zeit meistern kann. Deshalb bekommt der Delegierte von überall Unterstützung – vom Generalsekretär der Partei in dieser Zone, dem Frauenverband, den Komitees zur Verteidigung der Revolution und den in diesem Wahlkreis gelegenen Unternehmen.

Besuch bei jeder Familie

Gleich bei Amtsantritt besucht der Gewählte jede Familie und macht sich eine Vorstellung von deren Lebensumständen, bekommt Bitten vorgetragen und hilft bei der Überwindung bürokratischer Hürden. Der Delegierte, mit dem ich gesprochen habe, und auch die anderen machen täglich ihren Rundgang durch ihren Bezirk, sprechen mit den Menschen, gucken, ob Arbeiten gut durchgeführt wurden, melden das Austreten von Abwässern oder auch von Trinkwasser. Dies ist ein gravierendes Problem, besonders in Havanna. Der tägliche Rundgang und Gespräche mit den Wählern finden nach einem achtstündigen Arbeitstag und auch am Wochenende statt. Zusätzlich können die Wähler mit ihrem Anliegen in die Sprechstunde kommen, die jeden Mittwoch abgehalten wird. Die Leute kommen zum Beispiel, wenn in ihrer Wohnung ein Teil der Decke heruntergekommen ist. Der Delegierte macht sich dann vor Ort ein Bild, dokumentiert das Ganze, füllt die entsprechenden Formulare aus und geht damit zur Direktorin der für Wohnungen zuständigen Abteilung der Gemeinde. Innerhalb von spätestens dreißig Tagen muss eine Entscheidung erfolgt sein, was zu tun ist. Der Delegierte hält die Betroffenen auf dem Laufenden. Aber alles hängt davon ab, ob im Wohnungsetat der Gemeinde genügend Geld zur Verfügung steht. Die Mittel werden nach Schweregrad vergeben. Wenn einer Familie die ganze Wohnung zusammenbricht, wird dieser Schaden vorrangig behandelt, damit sie nicht so lange in einer Notunterkunft bleiben muss.

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Immer unterwegs – Kubas Präsident Diaz-Canel besucht mit Vertretern des Gemeindekomitees das Viertel Fanguito in Havanna. (Foto: Estudios Revolución)

Ein großer Teil der Arbeit des Delegierten besteht also darin, sich aufgrund der von seinen Wählern geäußerten Beschwerden an die entsprechenden Unternehmen zu wenden: Austritt von Abwässern – Aguas de la Habana, wilde Müllkippen – Müllabfuhr et cetera. Kleinere Probleme löst der Delegierte sofort: Die alleinstehende alte Frau, der es zu beschwerlich ist, jeden Tag zur Bäckerei zu gehen, um die ihr zustehenden Brötchen abzuholen, zum Beispiel. Da kann der Delegierte ein Formular ausfüllen, und die alte Dame bekommt dann an einem Tag ihre gesamte Wochenration. Wenn er von Nachbarn erfährt, dass jemand aufgrund eines Unfalls oder aus einem anderen Grund nicht in der Lage ist, sich zu versorgen, kümmert er sich darum und stellt sicher, dass ein Sozialarbeiter sich des Problems annimmt.

In direktem Kontakt

Die Probleme, die die Kubaner bewegen, sind Wohnung, Lohn und Ernährung. Bei der Wohnung versucht man zu helfen, beim Lohn ist nichts zu machen und die Ernährungsprobleme kann der Delegierte auch nicht stark beeinflussen. Er informiert seine Wähler, wenn in der Nähe sogenannte Ferias stattfinden. Dort verkaufen Produzenten ohne Zwischenhändler ihre Produkte direkt an den Kunden, was günstiger ist. Die meisten Delegierten haben eine Kommunikation über Whatsapp in ihrem Wahlkreis geschaffen. Dort informieren sie über alles, was für die Wähler wichtig sein könnte und auch diese können sich darüber direkt mit ihnen in Verbindung setzen. Nun hat natürlich noch nicht jeder ein Handy mit Whatsapp. Gerade in Havanna gibt es jedoch sehr viele, die darüber verfügen. Die Verbindung der Nachbarn untereinander ist so intensiv, dass sich immer einer findet, um über eine Notlage oder Möglichkeiten, Probleme zu lösen, sofort zu informieren. Der Delegierte, den ich befragt habe, ist zuständig für 1.070 Wähler. Jeder engagierte Klassenlehrer oder jede engagierte Klassenlehrerin mit dreißig Schülern kann sich vorstellen, was es bedeutet, für über tausend Menschen immer erreichbar zu sein.

Der Delegierte eines Wahlkreises verfügt über keine Haushaltsmittel. Die ihm übergeordnete Instanz ist der Volksrat, in dem jeweils zehn Wahlkreise zusammengefasst sind. An dessen Spitze steht ein Vorsitzender. Diese Funktion ist die einzige, die hauptamtlich ist. Die Funktion seines Stellvertreters ist schon wieder ehrenamtlich. Einmal im Monat findet ein Treffen aller zu einem Volksrat zugehörigen Delegierten statt. Dort tauscht man sich aus und es wird immer ein spezielles Thema behandelt, wie zum Beispiel das Wohnungsproblem. Dazu wird die für die Abteilung Wohnungen zuständige Direktorin eingeladen, die dann im Detail erläutert, in welcher Phase sich die einzelnen Reparaturarbeiten befinden. Ebenfalls einmal im Monat kommen die Delegierten in der Gemeinderatsversammlung zusammen. Das ist die Instanz, die über die Verteilung der Haushaltsmittel entscheidet. Die Vergabe erfolgt nach der Dringlichkeit und wie dringlich etwas ist, darüber entscheiden die Delegierten.

Volksvertreter in Kuba zu sein ist ein Amt, das nur jemand ausüben kann, der wirklich hinter dem steht, was er tut. Die Mandate haben nichts mit lukrativen Posten zu tun, wie in westlichen kapitalistischen Demokratien üblich. Man bekommt nach dem Ausscheiden auch keine Beraterverträge oder Direktorenposten in Konzernen. Hier wissen Delegierte und Abgeordnete, dass der Tag mit seinen 24 Stunden definitiv zu kurz ist.

Das Leben erleichtern

Alle in der Gemeinde stellen fest, dass nach den letzten Wahlen ein neuer Geist zu spüren ist, der sich schon einige Zeit zuvor bemerkbar machte. Die Tatsache, dass Provinzen und Gemeinden mehr Autonomie bekommen haben und jetzt viele Probleme selbst in die Hand nehmen können, die vorher erst von höheren Ebenen genehmigt werden mussten, ist dabei ein wesentlicher Faktor. Die Begeisterung, in der Gemeinde etwas aufzubauen, sie gemeinsam zu verschönern und Initiativen im kulturellen Bereich ins Leben zu rufen, ist zu spüren – in einigen Gemeinden natürlich mehr, in anderen weniger. Ganz deutlich wird aber – vom Präsidenten der Republik bis hin zum Delegierten im letzten Wahlkreis auf dem Land –, dass der Kontakt mit der Basis, die ständige Verbindung mit der Bevölkerung die einzige Möglichkeit ist, die Revolution lebendig zu erhalten. Nur wenn alle sehen, dass man ihnen zuhört, ihre Probleme ernst nimmt und gemeinsam mit ihnen an deren Lösung arbeitet, geht es in einer Gemeinde voran. Und dabei geht es nicht um die großen Erfolge, sondern um Dinge, die das alltägliche Leben erleichtern.

Auf Seiten der Revolution

Das Leben in Kuba wird immer eine Herausforderung sein. Sicher, die Menschen leiden weltweit unter den aktuellen Krisen. Aber nur die Menschen in Kuba leiden zusätzlich unter einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade. Nur die Menschen in Kuba sind ständigen Angriffen des mächtigsten Landes der Welt, den USA, ausgesetzt, das offen zugibt, alle Mittel einzusetzen, um ihr Land, ihr Gesellschaftssystem zu zerstören. Wie soll eine Wirtschaft funktionieren, der die Banken Überweisungen verweigern? Wie soll eine Wirtschaft funktionieren, wenn jeder Tanker verfolgt und bedroht wird? Dass sie es auf wundersame Weise irgendwie immer noch tut, dass trotz alledem die Mehrheit der Bevölkerung auf Seiten der Regierung, auf Seiten der Revolution steht, ist nur damit zu erklären, dass die Wähler jeden Tag sehen, dass man bei allem, was passiert, immer versucht, ihnen das Leben zu erleichtern. Dass niemals ein Delegierter oder Abgeordneter oder Minister sagen würde, dass ihm die Wähler egal sind. Das sind sie deshalb schon nicht, weil sie selber zu dem Volk gehören und mit den gleichen Problemen zurechtkommen müssen.

200 Jahre ist es nun her, seit der 6. Präsident der USA, John Quincy Adams, verkündete, dass Kuba ganz automatisch wie eine reife Frucht den USA zufallen und von ihnen annektiert werden würde. Noch immer beweist Kuba jeden Tag, dass es dies niemals zulassen wird.

Der Artikel von Renate Fausten erschien unter der Überschrift „Diese Frucht wird nicht reif – Kuba nach den Wahlen“ zuerst in Ausgabe 3/2023 der Cuba Libre. Er wurde redaktionell bearbeitet.

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Die neue Cuba Libre ist da
Im Juli erschien die Cuba Libre 3/2023. Die Zeitschrift der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba hat es in sich. Marion Leonhardt gibt im Editorial einen Überblick:
Wir analysieren die derzeitige wirtschaftliche Lage in Kuba und berichten über die Mühen der Ebene im täglichen Leben. Ebenso beleuchten wir die Auswirkungen der Tatsache, dass Kuba immer noch – ohne jeglichen Grund – auf der Terrorliste der USA steht. Die Motive der USA sind dieselben wie bei der Handels-, Wirtschafts-, und Finanzblockade gegen Kuba: Kuba wirtschaftlich zu erwürgen und so viel Elend über das Volk zu bringen, dass es einen Regime Change mitmacht. Sevim Dagdelen beschreibt die Rolle der Wirtschaftssanktionen der USA allgemein und gegen Kuba.
So bleiern die Zeiten insbesondere im globalen Norden auch sind: Es zeigt sich Gegenwehr. Zu nennen sind hier beispielhaft der diesjährige Start der Unblock-Kuba-Kampagne in Europa, das traditionelle Treffen der Kuba-Solidarität in Havanna im Mai, die Beteiligung an den Wahlen in Kuba und deren Ausgang und die Kultur in Kuba. All diese Themen greifen wir auf, denn nur so kann ein vollständiges Bild entstehen. Dazu gehört auch die Würdigung der Moncada-Ereignisse als Fidels erster Schlacht.
Ein bemerkenswerter Fall von Internationalismus ist die Zusage Kubas, einer nordirischen Gemeinde medizinische Hilfe zu leisten, da das dortige NHS die Versorgung nicht mehr leisten kann. Dieter Reinisch hat mit den Initiatoren gesprochen und gibt spannende Einblicke in das, was beide Inseln verbindet.
Che darf nicht weiter nur eine Pop-Ikone bleiben. André Scheer würdigt zu Ches 95. Geburtstag insbesondere dessen ökonomische Überlegungen. Wir als Kuba-Soligruppe und Redaktion wollen Che würdigen, indem wir in seinem Sinne Solidaritätsarbeit leisten. Besonders zu erinnern ist, dass er die Gleichheit in der kubanischen Gesellschaft propagierte und lebte: „Keiner oder alle!“ Das ist bis heute tief in der DNA der kubanischen Gesellschaft eingebrannt.
Cuba Libre erscheint viermal im Jahr und kostet 3,50 Euro pro Ausgabe. Ein Jahresabonnement kostet 12,50 Euro.


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"Hautnah mit der Bevölkerung", UZ vom 4. August 2023



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