Gedenken an den Putsch in Chile

Heuchelei zum Jahrestag

Zum 50. Jahrestag des faschistischen Putsches in Chile lud am vergangenen Montag ausgerechnet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zur Podiumsdiskussion nach Berlin. Der Auftrag dieser Stiftung besteht nach eigener Darstellung in der „umfassenden Aufarbeitung der Ursachen, Geschichte und Folgen“ der „kommunistischen Diktaturen in der SBZ/DDR und in Ostmitteleuropa, um das öffentliche Bewusstsein über die kommunistische Gewaltherrschaft zu befördern“. Ein Anspruch, ganz nach dem Geschmack der in Chile heute noch aktiven Anhänger des 2006 verstorbenen Diktators Augusto Pinochet, den diese nicht besser hätten formulieren können und vermutlich ohne Abstriche teilen.

Der Weltsicht der dubiosen Stiftung folgend, wurden die Diktaturverbrechen in Chile weder von fanatischen Antikommunisten begangen noch spielte Washington dabei die entscheidende Rolle. „Am 11. September 1973 putschte sich das Militär unter der Führung von Augusto Pinochet in Chile an die Macht und stürzte den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. In den Jahren der Militärdiktatur geschahen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und das Land wurde nach den Prinzipien des Neoliberalismus umgestaltet“, heißt es in der Einladung lediglich. Kein Wort über Ursachen und Vorgeschichte. Wie auch in zahlreichen westlichen Medien wird die Rolle des Weißen Hauses, der CIA und mächtiger US-Konzerne bei der Vorbereitung und Durchführung des Staatsstreichs ganz verschwiegen oder zumindest relativiert.

Zum Stichwortgeber für derartig interessengesteuerte und unhistorische Betrachtungen macht sich zum Jahrestag des Putsches ausgerechnet Chiles sozialdemokratischer Präsident Gabriel Boric. Auf einem Gedenkmarsch für die Opfer am Sonntag bedauerte er den „Zusammenbruch der chilenischen Demokratie mit seinen enormen Folgen von Tod und Zerstörung“. Am Jahrestag selbst verkündete Boric dann in Anwesenheit mehrerer geladener Staats- und Regierungschefs eine auch von seinem rechten Vorgänger Sebastián Piñera unterzeichnete „Santiago-Verpflichtung“ für Demokratie und Menschenrechte. Inhaltlich entspricht das Dokument in etwa einer kürzlich von Amnesty International unter dem Titel „Heilung durch Erinnerung“ veröffentlichten Erklärung, in der es so salbungsvoll wie nichtssagend heißt: „Die durch die Diktatur verursachten Wunden können nur heilen, wenn Chile aus seiner Geschichte lernt. So kann die Basis für eine Gesellschaft geschaffen werden, in der die Menschenwürde wieder mehr geachtet wird.“

Bei entpolitisierten Darstellungen wie diesen fehle ein Schlüsselelement, kritisierte der ukrainisch-chilenische Journalist Oleg Yasinsky am Montag auf „Russia Today“ die „Krokodilstränen“ der Heuchler. „Es fehlt die Erklärung der Ursachen für das Geschehen.“ Wer Menschenrechtsverletzungen von politischen und sozialen Fragen getrennt betrachte, konstruiere eine „kastrierte Erinnerung, in der der Militärputsch selbst als etwas fast Folkloristisches dargestellt wird“, so der Autor. Es entstehe der Eindruck, dass Chile heute von „als links getarnten Rechten regiert wird“. Insbesondere wirft Yasinsky den von Boric organisierten Gedenkveranstaltungen vor, dass „die entscheidende Rolle der USA und der großen ausländischen und chilenischen Unternehmen beim Putsch, die US-Handbücher über Foltermethoden und das anschließende Verschwindenlassen von Gefangenen“ nicht thematisiert werden. Noch schrecklicher als die bisherige Politik des Vergessens und des Schweigens über Opfer und Ursachen sei aber der Versuch, Allende zum „Komplizen ihres Verrats“ zu machen, ihn als untadeligen Demokraten zum Gegenpol einer gewalttätigen Linken des Klassenkampfes und der Revolution zu verklären. „Um jeden Preis wollen sie uns vergessen lassen, dass Allende in erster Linie ein Revolutionär war. Dass der Hauptkampf seines ganzen Lebens gegen den Kapitalismus gerichtet war und er aus einer marxistischen Position heraus an den Klassenkampf glaubte“, so Yasinsky.

Ähnlich scharf geht auch die Kommunistin Viviana Corvalán mit Boric und dessen Kabinett ins Gericht. „Ich schäme mich für die derzeitige Regierung in Chile“, sagte sie der russischen Agentur „Sputnik“. Viviana Corvalán ist die Tochter des legendären Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Luis Corvalán, der im Moskauer Exil die „Frente Patriótico Manuel Rodríguez“ (FPMR) gründete, einen Zweig der Partei, der den bewaffneten Widerstand gegen das Pinochet-Regime anführte. Sie kritisierte auch, dass Boric sich im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews auf die Seite der USA schlage. „Ich schäme mich dafür, dass sie nicht verstehen, worum es in diesem Krieg geht, dass sie nicht in der Lage sind, zu erkennen, dass es sich um einen Krieg der USA handelt, der die Ukraine mit einer Marionette wie Selenski benutzt“, erklärte Corvalán. Die antirussische Kampagne erinnere sie außerdem sehr an die antikommunistische Offensive Pinochets, eine Haltung, die in Chile nie verschwunden sei.

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"Heuchelei zum Jahrestag", UZ vom 15. September 2023



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