Fünfzehn Krimi-Miniaturen von Doris Gercke

Horror der Normalität

Von Eva Petermann

Doris Gercke: Frisches Blut. Deutsche Geschichten. 203 Seiten, Oktober 2018, Ariadne, 15 Euro

Doris Gercke: Frisches Blut. Deutsche Geschichten. 203 Seiten, Oktober 2018, Ariadne, 15 Euro

Die Versuchung ist groß, die 203 Seiten des neuesten Buches von Doris Gercke in einem Rutsch zu lesen. Denn die Szenarien und Einfälle der bekannten Krimiautorin in den insgesamt fünfzehn Kurzgeschichten in „Frisches Blut – Deutsche Geschichten“ lassen uns bei aller scheinbarer Normalität den Band nicht so einfach aus der Hand legen. Doch hat es jede einzelne der Geschichten in sich und fordert von uns, ihr nachzudenken. Wer allerdings Erbaulichkeit erwartet, ist bei Doris Gercke an der falschen Adresse. Happy Ends? Fehlanzeige. Unser Gerechtigkeitsgefühl bleibt meistens unbefriedigt: Die Aufklärung der Kriminalfälle überlässt die Autorin gern ihrem Publikum.

Was uns schaudern macht in den eher kurzen Texten, ist nicht das vergossene Blut. Der Horror liegt im ganz Normalen, Alltäglichen, in der konsequent antibürgerlichen Kühle der Erzählhaltung. Typisch „deutsch“ daran ist eigentlich fast gar nix; d. h. die verschmitzte Irreführung der Lesenden beginnt bereits im Buchtitel. Und setzt sich fort in den Geschichten von kleinen und großen Kriminellen, die Untaten planen, davon träumen oder andere ausführen lassen.

Wir begegnen Aussteigern und Terroristen, Prostituierten und Polizisten; gealterten Ehepaaren, einem spätverliebten ehrenwerten Richter, einem pflichtbesessenen Kommissar, diversen Honoratioren einer mittelgroßen Stadt, einer chilenischen Adoptivtochter und – eine in ihrem Sarkasmus geradezu gehässige Erzählung – den Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer hochengagierten Weltkinderkonferenz. Gerade, als sie an einer aufrüttelnden Resolution feilen, unterbricht sie in ihrem edlen Werk ein heranmarschierender Kreuzzug zerlumpter, halb verhungerter Straßenkinder.

So kurzweilig wie bizarr – mal anrührend, mal abstoßend – sich dies alles ausnimmt, ergibt sich daraus doch ein getreues, wenn auch reichlich pessimistisches Spiegelbild unserer Gesellschaft – und sei es als Vexierbild.

Die 1937 in Greifswald (DDR) als Tochter einer Arbeiterfamilie Geborene arbeitete als Sekretärin, war Hausfrau und Mutter und kam über das „Begabtenabitur“ zum Jurastudium. In den 1980ern wandte sie sich der politischen Kriminalliteratur zu. Als Schöpferin der international bekannten eigenwilligen Ermittlerin Bella Block, legendär in der Verkörperung durch Hannelore Hoger, schrieb sie Literatur- und Fernseh-Krimi-Geschichte.

Als Erzählerin ist die Hamburgerin trotz – oder gerade wegen? – des für sie typischen Lapidarstils mit allen Wassern gewaschen und versteht ihr Handwerk, Spannung aufzubauen. Wir ahnen: Etwas Entscheidendes, vermutlich Furchtbares wird passieren, aber wann und wie? Ein Textbeispiel aus „Die sanften Hügel der Türkei“:

„Ich sah sie Arm in Arm daherkommen. Sie gingen leicht schwankend, so, wie man geht, wenn man das Boot nach einer längeren Fahrt verlässt; aber wie gesagt, ich sah kein Boot. Und ich dachte bei ihrem Anblick: Lass sie vorübergehen, bitte. Ich wusste nicht, weshalb ich das dachte.“

In kafkaesker Skurrilität lässt sie einen Kriminalkommissar sich in einen Mordfall in grotesker Steigerung so lange verbeißen, bis zu einem grässlichen Ende, das eines Edgar Allen Poe würdig wäre.

Ungeachtet dessen ist die Haltung der jeweils Erzählenden – aus unterschiedlicher Perspektive – zumeist lakonisch und knapp, unbeteiligt und untertreibend. Ein Text fällt aus dem Rahmen: „Vor Gericht“. Er erinnert an Gerckes Roman „Pasewalk, eine deutsche Geschichte“. In dem 2009 erschienenen Werk geht es um eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen von Wehrmacht und SS.

Als einzige Geschichte ist „Vor Gericht“, eigentlich ein Reisebericht, in der ersten Person erzählt und verweist auf einen authentischen bzw. autobiografischen Hintergrund.

„Nichts bewegt sich, die Sonne steht still … Ich ging auf eine Kirche zu, deren Tür von weitem so aussah, als sei sie nur angelehnt und hinge ein wenig schief in den Angeln. Die Tür war aber keine Tür mehr und die Kirche keine Kirche. Ich war auf die einzige Wand zugegangen, die von der Kirche stehen geblieben war …“

Eine surrealistische Wachtraum-Szene wie aus Filmen des Regisseurs Louis Bunuel.

Doris Gercke zeigt sich auch in dieser Anthologie wieder als brillante Erzählerin, als Meisterin des schwarzen Humors und als kritische, realistische Chronistin mit feinem psychologischen Gespür, mit viel Sinn für Leerstellen und für schockierende Wendungen. Aus scheinbarer Belanglosigkeit entwickelt sie nicht ohne Bosheit abgründige Szenarien, die sukzessive jedwede behagliche Werte-Selbstgefälligkeit unterminieren.

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"Horror der Normalität", UZ vom 7. Dezember 2018



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