Sollbruchstellen im Erbe der 1968er

Jenseits von Identität und Interesse?

Von Pablo Graubner

Gekürzt, die vollständige Fassung erscheint in den Marxistischen Blättern 2_2018

Sandro Mezzadra/Mario Neumann: Jenseits von Identität und Interesse. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968; Laika Diskurs, 2017, 70 Seiten, 9,80 Euro.

Sandro Mezzadra/Mario Neumann: Jenseits von Identität und Interesse. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968; Laika Diskurs, 2017, 70 Seiten, 9,80 Euro.

Die Botschaft des politischen Aktivisten und Autoren Mario Neumann in der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres war deutlich. Die Partei „Die Linke“, so schrieb er in der Tageszeitung „Neues Deutschland“, müsse sich zwischen zwei Wegen entscheiden: Zwischen „dem Erbe der 1968er“ und der „Nostalgie des nationalen Wohlfahrtsstaates“. Das ist auch das Motiv der Flugschrift, die Mario Neumann zusammen mit dem Philosophen Sandro Mezzadra verfasst hat. Das Büchlein ist für das akademische Milieu geschrieben (…). Es ist knapp 70 Seiten kurz und besteht neben einer Einleitung aus zwei etwa gleich langen Teilen: Im ersten Teil wird gefragt, wie aus der Arbeiterbewegung nach 1968 die „Neue Linke“ wurde. Im zweiten Teil steht der Begriff des „Linkspopulismus“ im Vordergrund, also insbesondere seine Entwicklung entlang der Beispiele in Lateinamerika und der so genannten Antiglobalisierungsbewegung. (…)

Ausgangspunkt des Buches ist Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (2009), dessen Problembeschreibung die Autoren wie folgt wiedergegeben: Die traditionellen Arbeitermilieus fühlten sich sowohl von der „Neuen Linken“, die sich in Identitätspolitik verabschiedet habe, als auch der Sozialdemokratie, die sie verkauft habe, nicht mehr vertreten. Sie konstatieren also mit Bezug auf Eribon ein doppeltes Versagen, sowohl der „Identitäts-“ als auch der „Interessenpolitik“, worauf auch der Titel ihrer Schrift verweist, „Jenseits von Interesse und Identität“. Die Autoren wollen damit sagen, dass „die deutsche Linke ihre eigene Modernisierung niemals ausreichend verarbeitet […] hat. Und da das Miteinander von alter und neuer Linker eine bloße Koexistenz war, droht diese äußerliche Einheit wieder in ihre Einzelteile auseinanderzufallen“ (S. 12). (…) Ferner gehe es heute um eine „theoretische und politische Neuzusammensetzung“, bei der „jene Kämpfe, die allzu oft auf Identitätspolitik reduziert werden“, einen entscheidenden Anteil haben, die keineswegs das Gegenteil von Klassenkämpfen darstellten. Sie forderten vielmehr die „objektiven Grenzen des traditionellen Marxismus und seines Klassenbegriffs“ heraus (ebd.). Mit neuen Subjekten der Aufstände und Kämpfe von 1968: Einer „rebellischen Generation“ junger Proletarier, der Frauen und der migrantischen Arbeiter (S. 23), die dazu beigetragen hätten, die einseitige Fixierung des Marxismus auf den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital und die damit verbundene „Überholtheit traditioneller linker Organisationen“ zu lösen (S. 26). Diese neue Linke hatte zudem den „Internationalismus auch gegenüber der fordistischen Arbeiterklasse“ neu zu erfinden, eine Aufgabe, die sich „heute unter völlig neuen Bedingungen […] wieder stellt“ (S. 28).

Die Autoren heben hervor: Erstens sei der Begriff der Klasse nicht ökonomistisch aus dem Klasseninteresse herzuleiten, „Klasse“ konstituiere sich vielmehr als ein Spannungsfeld vielfältiger Kämpfe von Frauen, Migranten, allgemein „Minderheiten“ (S. 33). Zweitens könne man, mit Blick auf die neomarxistischen Theoretiker Hardt/Negri, Begriffe wie (Staats-)Volk und Klasse nicht mehr als Subjekte mit einheitlichem Willen betrachten, sondern als „Multitude“, in der nicht nur „nicht-traditionelle“ politische Subjekte ihren Platz hätten (S. 46). Die Autoren sagen also im Grunde mit Blick auf einen deutschen Links­populismus à la Wagenknecht/Lafontaine: Weder können die ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse noch der Nationalstaat als Rahmen für Reformpolitik positive Anknüpfungspunkte linker Politik sein. Mario Neumann bringt das auf den Punkt, wenn er über den nationalstaatlich basierten „wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromiss“ der Nachkriegszeit schreibt: „Er hatte seine Grenzen in dem, was ‚Klasse’ umfasste. Männer mit Pass.“

Natürlich gab und gibt es negative Erscheinungen wie Reformismus und Entsolidarisierung in der Arbeiterklasse und in der mit ihr verbundenen Arbeiterbewegung. Dennoch ist es nicht richtig, der Arbeiterbewegung und ihren Organisationen – Gewerkschaften, sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien – ein derart geringes emanzipatorisches Potential zuzugestehen. Damit kommen wir leider zum negativen Erbe der 1968er, einer zentralen Prämisse bereits im Denken Herbert Marcuses: Die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Hauptländern habe ihre revolutionäre Funktion eingebüßt, sei ökonomistisch und reformistisch.

Der marxistische Philosoph Robert Steigerwald hat jedoch bereits zu Marcuses Zeiten auf das Folgende hingewiesen: Erstens steckt hinter diesem Bild von der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen ein formaler, ein falscher Begriff von Negation. Denn die Arbeiterbewegung – auch ihr konsequenterer, revolutionärer Teil – führt in nicht-revolutionären Zeiten in erster Linie einen Kampf um demokratische und soziale Reformen. Marcuse erhob hingegen das Aufbegehren und die Revolte – die Form – unabhängig von ihrem Inhalt zu etwas Fortschrittlichem. Zweitens enthält Marcuses Denken einen problematischen Begriff vom Gesamtzusammenhang. Denn Marcuses Schlussfolgerung lautete: Wenn die negierenden Kräfte nicht mehr aus dem inneren des Systems heraus, d. h. aus dem Widerspruch Kapital – Arbeit entstehen können, dann muss das System „von außen“ aufgehoben werden, vermittels einer „qualitativen Differenz, welche […] den Gegensatz von Kapital und Arbeit übersteigt und auf diese Gegensätze nicht reduzierbar ist“. Dabei geht es um die Frage, wer ein fortschrittliches Subjekt sein kann. Und wenn (das) im Sinne Marcuses nur auf Grund einer qualitativen Differenz bestimmt wird, also rein negativ, dann ist diese Bestimmung im Grunde völlig willkürlich.

Stattdessen sollten Marxisten fragen: Wie kann denn ein Gesamtzusammenhang emanzipatorischer Kämpfe aussehen, also ein Kampf mit gemeinsamen Zielen, in der es nicht nur um die Emanzipation der Arbeiter, sondern darüber hinaus auch um die Emanzipation der rassistisch diskriminierten und um Frauenemanzipation geht? Ein solches Verständnis von einem Gesamtzusammenhang emanzipatorischer Klassenkämpfe wohnt dem sogenannten traditionellen Marxismus durchaus inne, wie Domenico Losurdo herausgearbeitet hat („Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten“, PapyRossa 2016). Und diesen Maßstab könnten die Autoren doch auch an den neuen deutschen Linkspopulismus anlegen, um auf dieser Grundlage seine Unzulänglichkeiten zu kritisieren oder objektive Widersprüche herauszuarbeiten.

Stattdessen folgen die Autoren Marcuses Schema, was sich auch gegen Ende ihrer Flugschrift zeigt. Sie beziehen sich dort positiv auf den „Sommer der Migration“ des Jahres 2015, sehen ihn als Chance bzw. als Herausforderung für die Linke und beklagen deren Unfähigkeit, „politische und transnationale Alternativen zu entwickeln, die den Verhältnissen des gegenwärtigen globalisierten Kapitalismus angemessen“ seien (S. 53). Damit ist gemeint: Die Flüchtenden seien politische Subjekte in der Fortsetzung der revolutionären Umbrüche des Arabischen Frühlings, die faktisch eine Politik der offenen Grenzen erzwungen hätten. Hier werden wohlgemerkt die Flüchtenden zum politischen Subjekt, nicht die Menschen in den vom Krieg zerrütteten Ländern – von der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Zentren ganz zu schweigen. Die Autoren fragen folglich nicht danach, wie der sehr positive solidarische Impuls vieler Menschen auch in Deutschland, den Flüchtenden helfen zu wollen, in eine Bekämpfung der Flüchtlingsursachen, zur Solidarität mit den unter den Kriegen leidenden Völkern und zu einer Opposition gegen die NATO-Kriege weiterentwickelt werden könnte. Denn die meisten Flüchtlinge stammten aus Syrien, Afghanistan, Irak – alles Länder, in denen NATO-Länder direkt oder indirekt militärisch intervenierten.

Die Autoren fragen auch nicht, wie die Sorgen vieler Menschen um ihre Lage in den kaputtgesparten Kommunen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt genutzt werden kann, um Mehrheiten für Klassenkämpfe um soziale und demokratische Reformen zu gewinnen. Stattdessen entziehen sie diesen Klassenkämpfen, die unter den Bedingungen des heutigen staatsmonopolistischen Kapitalismus in erster Linie im nationalstaatlichen Rahmen geführt werden müssen, mit der Dekonstruktion des Nationalstaats den Boden. Schlimmer noch: Sie (…) unterstellen pauschal, dass ihnen etwas von Reformismus, Nationalismus und Ausgrenzung innewohnt. Hier wirkt Marcuses qualitative Differenz (…) spaltend. Es wäre besser, man würde sich an das positive Erbe der 1968er erinnern: An die Verbindung von Studenten-, Arbeiter- und Friedensbewegung, wo diese gelang.

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"Jenseits von Identität und Interesse?", UZ vom 23. Februar 2018



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