Beschäftigte der Ernährungswirtschaft fordern gleiche Bezahlung

Kein Frieden im Osten

700 bis 835 Euro beträgt der Lohnunterschied der Beschäftigten in der Ernährungswirtschaft Sachsens, dem Bundesland mit der deutschlandweit niedrigsten Tarifbindung, gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen in den alten Bundesländern. Das Tarifgebiet umfasst über 1.300 Belegschaftsmitglieder in einem Dutzend Betrieben. „Wir können gar nicht so schlecht arbeiten, wie wir bezahlt werden“, sagen sie. Aber damit soll jetzt Schluss sein. 30 Jahre Billiglohnland Ost sind genug. Die Lohnlücke muss geschlossen werden. Und so haben am 17. Juni in Dresden 300 Beschäftigte verschiedener Betriebe der sächsischen Ernährungswirtschaft, einem Aufruf der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) folgend, für „Lohngerechtigkeit“ demonstriert. In mehreren Betrieben wurde die Arbeit teilweise bis zu 48 Stunden niedergelegt. Ein Zeichen der bis zum Streik reichenden Entschlossenheit zur Wiederaufnahme der Corona-bedingt zeitweilig ausgesetzten Tarifverhandlungen.

„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und „Die Lohnmauer muss weg!“ waren Thema der Aktion. Kein Stundenlohn unter 12 Euro, Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 120 Euro, Übernahme von Fahrtkosten und Kosten für externe Unterbringung der Auszubildenden – das sind die Forderungen der Gewerkschaft. Der sächsische Arbeitgeberverband Nahrung und Genuss (SANG) reagierte darauf mit der Bemerkung „Uns fehlt es an jeder Idee, darüber zu verhandeln!“ In einem offenen Brief wandten sich deshalb die Beschäftigten der Ernährungswirtschaft Sachsen im Mai dieses Jahres erneut an den Arbeitgeberverband. „Wir möchten Sie daran erinnern“, betonen die Unterzeichner, „dass wir seit 1. 11. 2019 keinen gültigen Tarifvertrag haben. Falls es Ihnen entgangen ist, eine unserer Forderungen ist ein Anschlusstarifvertrag von 12 Monaten ohne Leermonate. Die Empfehlung des Arbeitgeberverbandes, die Löhne ab 1. März 2020 um 3 Prozent zu erhöhen und ab 1. März 2021 um 2 Prozent, greift viel zu kurz.“ Die Kolleginnen und Kollegen machen sich Luft. Wie die Streikenden bei Bautz‘ner Senf, Werk Kleinwelka: „Wir tragen Mundschutz und keinen Maulkorb“, hieß es auf einem Plakat. Sie stehen hinter ihrer Tarifkommission und sind zu weiteren Arbeitsniederlegungen bereit.

Einen anderen Ausweg als den des Kämpfens, des kollektiven Sich-Wehrens, gibt es auch nicht, gerade unter den Bedingungen der tiefen Krise des Kapitalismus. Erfolge in diesem Kampf gehen auf das Konto der Organisiertheit, Geschlossenheit, Entschlossenheit und Solidarität der Kämpfenden. So im Falle der Kolleginnen und Kollegen der Teigwarenfabrik Riesa – hier gibt es jetzt einen Tarifvertrag. Sie haben erkannt: „Man darf und muss sich nicht ergeben.“ Innerhalb eines Jahres hat sich die Belegschaft zu 80 Prozent gewerkschaftlich organisiert und es wurde ein Betriebsrat gründet. Mut und kämpferische Entschlossenheit spricht aus ihren Aktionen, aus denen der Streik als Mittel des Kampfes nicht ausgeschlossen wurde. Ihre Erfahrungen, das Selbstbewusstsein, das ihnen ihre Aktionen vermittelte, haben sie in einer Broschüre zusammengefasst, die mancherorts sogar in den Rang eines „gewerkschaftlichen Lehrbuches“ gehoben wird. „Wir können etwas verändern, wenn wir uns zusammentun“, diese Erkenntnis bildet den roten Faden des Erfahrungsmaterials. Mit einem Wort, die Kämpfenden haben ihrem Kampf eine Perspektive gegeben, die eine Teilnahme rechtfertigte – und wie sich zeigt, sehr! Ohne eine solche Perspektive geht es nicht.

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"Kein Frieden im Osten", UZ vom 10. Juli 2020



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