Derry gedenkt der Opfer des Blutsonntags

Keine Gerechtigkeit

Niall Farrell, Galway

Am vergangenen Wochenende gedachten tausende Menschen der Opfer des Blutsonntags von Derry vor 50 Jahren. Kinder, Enkelkinder und Urenkel der Opfer führten den „Marsch der Erinnerung“ mit weißen Rosen und Porträts der 14 Opfer an. Der Regierungschef der Republik Irland, Micheál Martin, nahm ebenfalls an der Demonstration teil und forderte die strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Soldaten.

Am Sonntag, den 30. Januar 1972, verübte das erste Bataillon des britischen Fallschirmjägerregiments (1 Para) in Derry im Norden Irlands ein Massaker an 14 friedlichen Demonstranten, die an einer Anti-Internierungs-Demonstration im katholischen Stadtteil Bogside teilnahmen. An diesem Tag wurde auch die nordirische Bürgerrechtsbewegung (NICRA) tödlich getroffen. Staatsgewalt war die einzige Antwort, die die Unionisten auf die Bürgerrechtskampagne hatten, die ein Ende antikatholischer Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und Wohnungen sowie bei der Manipulation von Wahlkreisen forderte. Der friedliche Protest war vorbei, an seine Stelle trat ein langer, bitterer und fruchtloser blutiger Konflikt.

Noch im August 1969 hatte die katholische Gemeinde die von der Labour-Regierung entsandten britischen Soldaten auf den Straßen im Norden Irlands begrüßt. Sie beendeten die Pogrome, die von der bewaffneten Polizei und den Milizen des unionistischen Regimes gegen Katholiken geführt worden waren.

Parlamentswahlen in Großbritannien brachten im Juni 1970 eine konservative Regierung hervor und britische Sicherheitspolitik änderte sich grundlegend. Die Tories hatten enge brüderliche Beziehungen zum unionistischen Regime und so wurde die katholische Gemeinschaft erneut zum Feind. Innerhalb weniger Wochen wurde eine brutale militärische Ausgangssperre über das katholische Viertel Lower Falls in Belfast verhängt. Zwei Flügel der IRA tauchten auf und hatten sich bewaffnet.

Im August 1971 verhängte das unionistische Regime, das mit der britischen Armee Hand in Hand arbeitete, Internierungen ohne Gerichtsverfahren gegen katholische Verdächtige ab 14 Jahren. Inmitten dieser aufgeheizten Lage verübte die 1Para das „Ballymurphy-Massaker“ in Belfast, bei dem zehn unschuldige Menschen getötet wurden: eine Mutter, ein Priester und acht Männer.

Eine Reihe britischer Soldaten, die später in Derry eine verhängnisvolle Rolle spielten, wurden für ihre Taten in Ballymurphy belobigt. Über das Massaker wurde seinerzeit nicht berichtet. Es ist allein den Angehörigen zu verdanken, dass im Mai 2021 eine Untersuchung sämtliche Opfer für unschuldig erklärte. Bei beiden Massenmorden war auch der zukünftige Chef der britischen Armee, General Sir Mike Jackson, zugegen.

In Derry waren die Barrikaden stehengeblieben, die 1969 zur Verhinderung der Pogrome errichtet worden waren. Das als „Free Derry“ bekannte Gebiet wurde zur „No-go-Area“ für Soldaten und Polizei. Bewaffnete IRA-Freiwillige besetzten Kontrollpunkte. Die Behörden betrachteten dies als Affront. Der geplante NICRA-Anti-Internierungs-Marsch in „Free Derry“ im Januar 1972 wurde als Gelegenheit gesehen, die Opposition zu zerschlagen.

Speziell für den Einsatz des 1Para wurde in Deutschland ein Modell der Bogside angefertigt. Das Bataillon stand unter dem Kommando von Brigadegeneral Kitson – einem Experten für Aufstandsbekämpfung. Er hatte seine Taktiken aus den britischen Kolonialkriegen angewandt, verfeinert und darüber geschrieben. Das geheime „GEN 42“-Komitee unter Vorsitz von Premierminister Edward Heath, dem Minister und hochrangige Militärs angehörten, gab grünes Licht für den Einsatz von 1Para gegen die Einwohner von Derrys katholischer Gemeinde – die alte britische Taktik der „kollektiven Bestrafung“. Sowohl Heath als auch General Ford, Armeechef im Norden Irlands, empfahlen privat den Einsatz von scharfer Munition zur Niederschlagung der Unruhen.

Die NICRA unterhielt ein gutes Arbeitsverhältnis mit Derrys katholischem Polizeichef und hatte vereinbart, dass der Marsch innerhalb von Free Derry bleiben würde, bewaffnete IRA-Mitglieder blieben fern. Der „Guardian“ beschrieb „ein Gefühl von Karneval“, das jäh in Entsetzen umschlug, als das 1Para rasant in das Gebiet eindrang, blindwütig drauflos schoss und totales Chaos auslöste.

Die wahren Umstände des Massakers wurden nie aufgeklärt. Lord Widgerys sofortige Untersuchung erklärte alle Toten zu IRA-Schützen oder Bombenlegern.

Erst 1998 kam es im Rahmen des Friedensprozesses zu einer neuen öffentlichen Untersuchung unter Lord Saville. 2010 wies Saville jede Andeutung einer Schuld des britischen Staates zurück, entlastete aber die Opfer. Die Schuld liege bei „einem schwerwiegenden, verbreiteten Verlust der Schussdisziplin“ einzelner Soldaten. Allein ein belobigter „Soldat F“ wurde angeklagt, doch wurde die Anklage im Herbst 2021 fallen gelassen.

Kevin McCorry, Zeitzeuge und damaliger NICRA-Organisator, erklärte gegenüber UZ: „Selbst nach 50 Jahren wird Gerechtigkeit verweigert.“

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"Keine Gerechtigkeit", UZ vom 4. Februar 2022



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