Vom „Sommernachtstraum“ bis zum Mord ohne Leiche ● Kinderbuchempfehlungen von Anna Cordi

Kinderbücher, nicht nur zu Weihnachten

Anna Cordi

Kinder zu beschenken kann eine sehr dankbare Angelegenheit sein. Sie wünschen sich nämlich: alles. Alle Barbies aus dem Spielzeugkatalog, alle Kuscheltiere, Ninjago, die neue Switch, die neue Playstation wäre aber auch noch okay, Waffen – gerne auch funktions­fähig –, ein iPhone, ein Einhorn und Klamotten in Rosa oder im Camouflage-Look oder beides. Wenn ich es hässlich, unnötig und überteuert finde, ist es genau das Richtige für den Gabentisch. Zur Not akzeptieren sie manchmal auch Bücher – aber nicht alle. Letztes Jahr habe ich mich sehr weit aus der Deckung gewagt und mit dem liebenswürdigen Kommentar das Buch direkt zurückbekommen: „Brauche ich nicht, Mama. Kannst du haben.“ Falls es einer von euch trotzdem bei einem weniger kritischen oder aber kulturell interessierteren Publikum ausprobieren möchte: Ich finde Shakespeares „Sommernachtstraum“ als Bilderbuchausgabe im Kindermann Verlag immer noch wunderschön und durfte sie dann doch immer wieder vorlesen. Wem das aber zu experimentell ist, sollte auf Einhörner setzen – die Zielgruppe schwört darauf. Und wenn Einhorn, dann natürlich das „NEiNhorn“ von Marc-Uwe Kling. Dieses Bilderbuch über ein sehr widerborstiges Exemplar entspricht keinem der Klischees, die (zu Unrecht?) über die Gattung der Einhörner verbreitet werden. Endlich ist auch der Nachfolger „Das NEiNhorn und die SchLANGEWEILE“ erschienen. Die alte Gang, bestehend aus dem WASbär, dem NAhUND, der KönigsDOCHter und natürlich dem NEiN­horn ist am Start – und nun gesellt sich noch die SchLANGEWEILE dazu. Nicht, dass man viel mit ihr anfangen könnte, sie hat einfach zu gar nichts „Schlussst“. Warum man ausgerechnet dieses Buch verschenken sollte? Weil man es tausendmal vorlesen muss. Und weil es dann immer noch riesigen Spaß macht und weil beim Schenken und bei der Kindererziehung eine gehörige Portion Egoismus überlebensnotwendig ist.

Wenn man es richtig anstellt, kann man ja wirklich jedes Kind fürs Lesen begeistern. Hahahaha, von wegen. An genau dieser Mission gründlich gescheitert, hatte ich die Flinte schon ins Korn geworfen. Aber Lesemuffel lassen sich ja meist doch gerne noch vorlesen, auch wenn sie schon selbst sämtliche Buchstaben des Alphabets beherrschen. Nun gut, beim Vorlesen gilt bekanntlich die Regel, die ich etwas weiter oben vorgestellt habe. Es sollte schon auch dem Kind gefallen, aber in erster Linie den Vorleser bei Laune halten. Drum lest euren Kindern „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ von Jakob Wegelius vor. Sally Jones ist eine Affendame und arbeitet als Maschinistin auf einem Schiff. Eines Tages wird ihr Kapitän für einen Mord angeklagt, den er nicht begangen hat. Um seine Unschuld zu beweisen, muss Sally Jones sich auf eine Reise um die halbe Welt begeben. Es gibt kaum noch Bücher, die sich trauen, Kinder in ein Milieu aus Seeleuten, Fabrikarbeiterinnen, Maschinistinnen und korrupten Polizisten zu entführen. Umso faszinierender ist die Atmosphäre der Geschichte, die in Lissabon um 1900 beginnt und Sally Jones nach Indien und wieder zurück führt. Ein paar Seiten hat die Neunjährige dann tatsächlich auch selbst gelesen.

Wer viel mit Vorlesen (und ein paar anderen Kleinigkeiten) beschäftigt ist, vergisst manchmal die wichtigen Dinge – zum Beispiel Rezensionen pünktlich an die UZ zu schicken. Deshalb ist zum 8. Mai an dieser Stelle leider keine Empfehlung für „Maikäfer flieg!“ von Christine Nöstlinger erschienen. Dieses großartige Buch verdient eigentlich eine ausführliche Würdigung. Noch besser aber wäre, wenn es an möglichst viele Kinder verschenkt wird. Nöstlinger erzählt von ihrer Kindheit im kriegszerstörten Wien, dem Einmarsch der Roten Armee und ihrer Freundschaft zu dem sowjetischen Soldaten Cohn. Im Gegensatz zu all den anderen Büchern über Krieg und Faschismus, die im Westen erschienen sind, kommt dieses ganz ohne Antikommunismus aus. Niemand schreibt wie die Nöstlinger. Zum Glück hat sie das auch für Erwachsene getan. Deshalb kann man nicht nur dieses berührende Kinderbuch vorlesen, sondern auch parallel sich selbst ihre Erinnerungen „Glück ist was für Augenblicke“ gönnen.

Wer vorliest, hat einen guten Vorwand, um auf dem Sofa abzuhängen. Wenn das nicht Motivation genug ist, das eine oder andere Buch zu Weihnachten zu verschenken…


Ein Sommernachtstraum
Nach William Shakespeare, neu erzählt von Barbara Kindermann mit Bildern von Almud Kunert
Kindermann Verlag Berlin 2005, 36 Seiten, 18,00 Euro
Marc-Uwe Kling/Astrid Henn: Das NEiNhorn
Carlsen Verlag Hamburg 2019, 48 Seiten, 13,00 Euro
Marc-Uwe Kling/Astrid Henn: Das NEiNhorn und die SchLANGEWEILE
Carlsen Verlag Hamburg 2021, 54 Seiten, 13,00 Euro
Jakob Wegelius: Sally Jones – Mord ohne Leiche
Carlsen Verlag Hamburg 2018, 624 Seiten, 10,99 Euro
Christine Nöstlinger: Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich
Verlagsgruppe Beltz Weinheim 2016, 232 Seiten, 12,95 Euro
Christine Nöstlinger: Glück ist was für Augenblicke. Erinnerungen
Residenz Verlag Wien 2013, 256 Seiten, 23,90 Euro


Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kinderbücher, nicht nur zu Weihnachten", UZ vom 17. Dezember 2021



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit