„Andymon“ – Eine lesenswerte Weltraum-Utopie

Lerne die Zukunft zu gestalten

Anfang der 1980er Jahre erschien in der DDR der Science-Fiction-Roman „Andymon“ von Angela und Karl-Heinz Steinmüller. Sehr bald war die Erstauflage des Buches vergriffen. Und noch heute gilt „Andymon“ nicht nur als bester in der DDR erschienener SF-Roman, sondern als einer der besten im deutschsprachigen Raum. „Andymon“ erlebte mehrere Neuauflagen. Die jüngste erschien im Memoranda Verlag im Rahmen einer Werkausgabe.

Ein Raumschiff fliegt viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende, durch den Weltraum. Es ist kein Generationenschiff, beherbergt auch keine „Reisenden“ im Tiefschlaf. Und trotzdem hat es die Aufgabe, Menschen sicher zu seinem Ziel, einem fernen Sonnensystem, zu bringen. Alles im Schiff ist darauf vorbereitet: Eine Umgebung, in der man in einem grünen Habitat Landschaften, Pflanzen und Tiere der Erde kennen lernen, in dem man toben und erste Erfahrungen gewinnen oder sich erholen kann, in Experimentierräumen Neues wie Erlerntes ausprobiert und so weiter. Etwa 20 Jahre, bevor das automatisch gesteuerte Raumschiff sein Ziel erreicht, werden an Bord mit Hilfe von „Inkubatoren“ aus befruchteten Eizellen Menschen geboren, kleinere Gruppen in einem Abstand von Wochen oder Monaten. Die Kinder werden von Robotermüttern betreut, später von Roboterlehrern erzogen. Die Erziehungs- und Lernmethoden, die die Steinmüllers beschreiben, scheinen dabei nur auf den ersten Blick ungewöhnlich: Da die Kinder und später Jugendlichen keine menschlichen „Vorbilder“ haben, niemanden, der ihnen seine selbst erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten auf seine oder ihre spezifische Weise vermitteln kann, müssen sie selbst so viele praktische Erfahrungen gewinnen wie möglich, müssen sie von Anfang an zusammenarbeiten, um Ziele zu erreichen, aufeinander und die jüngeren „Geschwister“ eingehen. Gesellschaftliche Strukturen entstehen. Und so lernen sie. Schritt für Schritt. Bis sie soweit sind, auch das Raumschiff kennen und beherrschen zu lernen. Ihre Geschichte wird von Beth, der Hauptfigur des Romans, einem „Erstgeborenen“, erzählt. Für die genauere Charakterisierung der Handelnden bleibt dabei jedoch wenig Platz.

Neue Herausforderungen erfordern neue Anstrengungen. Denn der Planet, zu dem sie ihre Reise führt und den sie „Andymon“ nennen, ist nicht bewohnbar, muss erst menschlichen Lebensbedürfnissen angepasst, „terraformiert“ werden. Und so entstehen Zweifel an der Mission. Und erste tiefere Meinungsverschiedenheiten. Wie mit der vierten Gruppe, die einige Jahre einen anderen Weg als die anderen „Geschwister“ geht, sich nicht an der Umwandlung des Planeten beteiligt, sondern auf einem der Monde des Planeten ein Experiment durchführt, das sie fast umbringt. Oder mit jenen jüngeren Geschwistern, die eine andere Vorstellung von der Kolonisierung des Planeten haben und zum Beispiel den Bau von Raumschiffen zur Erkundung des neuen Sonnensystems ablehnen.

Nun, das Terraformen gelingt überraschend schnell, die angestoßenen Prozesse verlaufen – mehr oder weniger – in die gewünschte Richtung. Die neuen Bewohner des Planeten aber haben kein Vorbild, wie sie künftig ihre Gesellschaft gestalten könnten. Dabei können die Erfahrungen der Erde wenig helfen, von der sie Näheres nur aus Archiven, Büchern und in „Totaloskopen“ erfahren, in denen sie selbst die Erdgeschichte „erleben“ können. Unbekannt bleibt, wie die Erdgeschichte nach dem Jahr 2000 verlief, unbekannt, wer das Raumschiff erbaut und ausgesandt hat. Die Frage nach dem „Woher“ können sie abschließend nicht, die Fragen nach dem „Was ist der Mensch“ und „Wohin gehen wir“ müssen die Bewohner von „Andymon“ selbst beantworten, für ihre Gemeinschaft einen – gemeinsamen – Weg finden. Als Gemeinschaft – Assoziation – freier Individuen. Beth zum Schluss: „Es ist alles nur ein Anfang.“

Angela Steinmüller hatte an der Humboldt-Universität Mathematik studiert, Karl-Heinz Steinmüller Physik. Nach 1990 war er auch als Zukunftsforscher aktiv. Beide haben für diese Ausgabe dem Memoranda Verlag weiteres Material geliefert, darunter – von heutigen Krisenerfahrungen ausgehende – Überlegungen zur Zukunft der Menschheit. Zum Anhang gehören aber auch längere Ausführungen, dem heutigen „Zeitgeist“ entsprechend, zur Zensur in den DDR-Verlagen. Um damals die Veröffentlichung zu gewährleisten, habe man an einer Stelle den „Lippendienst“ geleistet und eingefügt, dass eine Menschheit, die fähig sei, solche Raumschiffe zu bauen, ihre Krisen und Konflikte überstanden haben müsse. Das und Beths letzter Satz hätten den Roman gerettet. Komisch nur, dass diese Einfügungen gar nicht im Widerspruch zur Handlung des Romans stehen.


Karlheinz Steinmüller, Angela Steinmüller
Andymon
Memoranda Verlag, 370 Seiten, 16,90 Euro


Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Lerne die Zukunft zu gestalten", UZ vom 21. Oktober 2022



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