In Berlin ist eine SPD-Linkspartei-Grünen-Regierung möglich

Müller sondiert

Von Nina Hager

In Berlin wurde am vergangenen Sonntag – wie zu erwarten – die bisherige SPD-CDU-Koalition abgewählt. Ob 2017 die Große Koalition im Bund folgen wird, wie jetzt einige annehmen, ist ungewiss. Das Ergebnis der Berliner Wahlen bestätigt aber, dass sich das bundesdeutsche Parteiensystem im Umbruch befindet. Auch, dass die Widersprüche und Auseinandersetzungen auf Bundesebene in der Großen Koalition bzw. zwischen CDU und CSU auf Wahlentscheidungen vor Ort Einfluss nehmen.

Aber: Das Wahlergebnis in Berlin ist, wie alle Umfragen belegen, zuallererst Ausdruck der Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit der Arbeit der Landesregierung, des Berliner Senats. Das betraf die Situation im Bildungsbereich, die Mietenentwicklung und Verdrängung von Geringerverdienenden aus der Innenstadt und guten Wohnlagen, die Verkehrsprobleme, das Milliardengrab BER, das Chaos auf den Bürgerämtern, die anhaltenden Probleme mit der Flüchtlingsunterbringung usw. usf.

Für die Wahlentscheidung ausschlaggebend waren in Berlin die Themen – in dieser Reihenfolge – soziale Gerechtigkeit (West: 50, Ost: 53 Prozent), Wirtschaft und Arbeit, Schule und Bildung, Flüchtlinge, Mieten und Wohnungsbau.

Am Wahltag konnte sich keine Partei deutlich von den anderen absetzen. Und – das ist in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik wohl ein Novum – fünf Parteien erreichten Ergebnisse zwischen 14 und 22 Prozent, liegen damit eng zusammen. Die FDP (6,7 Prozent) ist nach fünf Jahren Abwesenheit wieder im Abgeordnetenhaus vertreten. In einigen bürgerlichen Medien wurde kommentiert, die FDP würde immer dann stärker, wenn es der CDU schlecht gehe …

Seit dem Jahr 2001 erreichte die SPD in Berlin bei Wahlen immer den Spitzenplatz. Nun wurde sie nur mit Mühe wieder stärkste Partei, erhielt lediglich 21,6 Prozent (2011: 28,3) der Zweitstimmen, obgleich sie in den Tagen vor dem 18. September noch einmal versucht hatte, alle Anhänger zu mobilisieren.

Laut infratest-dimap verlor die SPD unter anderem 24 000 Stimmen an die AfD, je 11 000 an CDU und FDP – und 20 000 Stimmen an die Linke. Vom Absturz der Piratenpartei konnte man nur wenig profitieren.

Die SPD hat nun nur noch 38 Sitze im Abgeordnetenhaus (2011: 47). Der bisherige und wohl auch künftige Regierende Bürgermeister Müller wollte am Mittwoch dieser Woche mit den Sondierungsgesprächen zur Regierungsbildung beginnen.

Die CDU erhielt 17,6 Prozent der Zweitstimmen (2011: 23,3 Prozent) und verlor 8 Sitze. Sie musste 39 000 Stimmen an die AfD und 28 000 an die FDP abgeben. Mit großer Wahrscheinlichkeit muss sie sich in der Hauptstadt in den nächsten fünf Jahren mit der Oppositionsrolle abfinden.

Auch die Grünen mussten Verluste hinnehmen, erreichten 15,2 Prozent (2011: 17,6).

Die Partei „Die Linke“ (15,6 Prozent) wurde drittstärkste Kraft. Sie kam überall in Berlin bei den Abgeordnetenhauswahlen über die 5-Prozent-Hürde und zog in alle Bezirksverordnetenversammlungen ein – erstmals auch in Steglitz-Zehlendorf.

Dass sie dazugewann, hat sicher mehrere Gründe. Als Oppositionspartei wurde sie nach ihrem Wahldebakel 2011 wieder als Interessenvertreterin wahrgenommen, die für soziale Gerechtigkeit steht, gegen Armut und Ausgrenzung, für bezahlbare Mieten und Tarife eintritt, für die Verbesserung der Lebens- und Wohnsituation der Flüchtlinge usw. und konkrete Vorschläge entwickelte. Sie bemühe sich am meisten um sozialen Ausgleich, meinen viele. Sie wird aber vor allem auch als Friedens- und antifaschistische Partei gesehen. Im Kampf gegen Rechts, vor allem gegen die AfD konnte sie offenbar mehr überzeugen als SPD oder Grüne. Auch das wird ein Grund sein, warum 16 000 Menschen, die 2011 nicht zu den Wahlen gegangen waren, dieses Mal für die Linkspartei stimmten. Viele wollten ein Zeichen gegen Rechts setzen. Aber auch nicht wenige fürchten, dass die Vertreter der Partei „Die Linke“, wenn es tatsächlich zur Dreierkoalition mit SPD und Grünen kommt, wieder in manchem „zurückrudern“ werden.

Allerdings verlor die Partei in bisherigen Hochburgen wie Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg oder Treptow-Köpenick Stimmen. Und das sollte doch nachdenklicher stimmen. In Marzahn-Hellersdorf gewann die AfD die meisten Zweitstimmen und auch zwei Wahlkreise (CDU und Linkspartei je 2). Die Partei „Die Linke“ hat dort offenbar viele Menschen nicht mehr erreicht. Vor allem Geringverdienende, Arbeitslose und Arbeiter.

12 000 frühere Wählerinnen und Wähler der Partei „Die Linke“ machten dieses Mal bei der AfD ihr Kreuz. Die AfD konnte auch in Berlin die meisten Stimmen aus dem Nichtwählerlager für sich gewinnen, obgleich sie überhaupt kein überzeugendes stadtpolitisches Programm hat und schon gar nicht für die Interessen der „kleinen Leute“ eintritt.

Nun ist die AfD mit 25 Sitzen im Abgeordnetenhaus vertreten. Sie gewann fünf Direktmandate. Die höchsten Ergebnisse erzielte sie vor allem in den großen Neubausiedlungen im Osten und am Stadtrand, aber auch in Reinickendorf und Spandau im Westteil der Stadt. Sie zog in alle Bezirksvertretungen ein und wird in sieben Bezirken einen von fünf Stadtratsposten besetzen. Die Auseinandersetzungen sind vorprogrammiert.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Müller sondiert", UZ vom 23. September 2016



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