Auszüge aus der Autobiografie von Inge Viett

„Nie war ich furchtloser“

Daß ich im kapitalistischen Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kann ich weder bedauern noch gutheißen, aber es ist ein kaum zu beschreibendes Glück, daß der Verlauf meiner Geschichte meine Unwissenheit über das andere Deutschland korrigierte, über das Leben dort im ständigen Widerspruch zwischen Verwirklichung und Verkümmerung sozialistischer Ziele, Ansprüchen und Lebensweise, über die Anstrengungen, die Ideale, Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die Wahrheiten und Irrtümer, die diesem Widerspruch entsprungen und von ihm gezeichnet sind. Nur wer dort gelebt hat, kann begreifen, was zerstört wurde.

Die Linken im Westen haben keinen Begriff davon, wie schwer ihr Mangel an Erfahrung mit der sozialistischen Realität wiegt. Die Geschichte wird ihnen keine neue Gelegenheit bieten. Sie denken in ihrem Hochmut sogar, daß sie es sich leisten können, dies gar nicht als Mangel erkennen zu müssen. Der reale Sozialismus ihrer Zeit, vor ihrer Tür, in der DDR, war für sie die einzige Chance, jemals zu erfahren, wie die Idee vom Sozialismus, also das Ideal, real gesellschaftlich wirksam werden kann und wie nicht. Sie zogen es aber vor, sich von diesem geschichtlichen Prozeß zurückzuziehen, ihn aus der Ferne zu benörgeln, zu bemängeln, zu belächeln. Sie zogen es vor, mit ihren sozialistischen Theorien die imperialistische Wirklichkeit einschließlich sich selbst zu kultivieren. Sie kämpfen immer mit der existenziellen Nabelschnur am Kapitalismus und kennen nichts anderes.

Die bürgerlichen Linken waren sich immer zu fein für die Arbeit der Veränderung, sie blieben lieber bei der Interpretation der Verhältnisse, wohl wissend, daß revolutionäre Veränderung auf Schmutz, auf fremden und eigenen Schmerz, auf Statik, Widerstand und Unberechenbarkeit stößt. Wie ist dem beizukommen, ohne die Hygiene der reinen Idee und auch ohne sich vielleicht selbst zu beschädigen? Sie haben die Chance verpaßt, diesen großen historischen Versuch, aus der Kapitalgeschichte wieder Menschengeschichte werden zu lassen, sinnlich und politisch zu begreifen.

Ich weiß, die meisten sehen es nicht als verpaßte Chance. Sie sagen aus ihrer autistischen Wahrnehmung heraus: „Igitt, ich hätte da nicht leben mögen.“ Womit sie sagen, daß sie lieber in der imperialistischen Wirklichkeit leben als im Kampf und in der Dürftigkeit dagegen. Dies ist eben das Problem: Teilhaben zu wollen an den kapitalistischen materiellen Mächtigkeiten und Möglichkeiten mit dem Wissen, daß sie Resultat räuberischer Beziehungen sind. Die bürgerlichen Linken haben eine intellektuelle Hehlermentalität. Mit unglaublicher Häme haben sie sich auf die zusammenbrechende DDR gestürzt, mit befreiender Lust ihre Hehlerexistenz an der Entwertung der sozialistischen Geschichte aufgewertet. Sie interessieren sich nur für die fehlgelaufenen, steckengebliebenen Prozesse, die Eiterschwären, die dunklen Ecken, in die Mißratenes geschoben wurde. Absurdes spüren sie auf als Zeugnis ihrer Beweisführung, daß böse Menschen 40 Jahre zu Werke gingen, ihre schönen Ideen zu verhunzen. Am realen Sozialismus hat sie einzig das Nicht-Sein von Sozialismus interessiert, und mit diesem Interesse bestreiten sie fortwährend die Möglichkeit eines sozialistischen Daseins überhaupt. Jede positive Erfahrung wurde ihrer Entwertung unterworfen.

Was für eine intellektuelle Hochmütigkeit! Was für eine beschränkte und ebenso vermessene Wahrnehmung! Welch ordinäre Heuchelei, welch primitive Lust zur Erniedrigung haben sie den Menschen in der DDR entgegengeschleudert. Wie protzten sie aus allen Feuilletons staatsnaher Medien: Wir waren die Fundamentalopposition im Westen, es steht uns zu, euch zu verachten. Ich habe niemand von diesen Schwätzern in unseren Reihen gesehen!

Meine acht Jahre in der DDR waren zu kurz, auch nur einen Tag Langeweile zu haben, zu kurz, der Widersprüche überdrüssig zu werden, zu kurz auch, den Optimismus für eine Weiterentwicklung zu verlieren und ein derartig desaströses Unterliegen zu erwarten. Aber sie waren lang genug, Verbundenheit zu schaffen und mitverantwortlich zu sein für alle Höhen und Abgründe, für Mißlungenes und Gelungenes im geschichtlich einzigartigen Kampf für und um die Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Die Verwertung und Vernichtung der DDR, die Auslöschung sozialistischer Existenz, ihrer Inhalte, Strukturen, sozialer Sicherheiten, der tiefe Sturz der Menschen in die soziale und politische Unwürdigkeit, in die existenzielle Desorientierung, in Erniedrigung und Brutalisierung ist viel gemeiner und quälender als die Vernichtung meiner persönlichen Freiheit, die damit zusammenhängt.

Ich bin parteilich, subjektiv und emotional. Nur auf diese Weise hab ich mir eh und je die Welt erschlossen, mich den Menschen zugewandt und haben sich die Menschen mir zugewandt. Ich sehe keinen Grund, den historischen Verlauf der Geschichte und meine eigene darin eingebettete Lebenszeit mit den Augen der derzeitigen Triumphatoren zu betrachten. Es sind die Augen von Betrügern, Dieben und Räubern, deren kollektives System davon lebt, sich über das Schwächere herzumachen.

Fehler und Irrtümer zu erkennen bedarf weder der Distanzierung noch des Konvertitentums, das sind Unterwerfungsrituale, sie beschädigen die Würde und die Wahrheit. Nicht grundsätzlich, aber dort, wo das Erkennen sich als Machtverhältnis vollzieht.

Wenn die erste Welle kapitalistischer Zumutungen überstanden ist, werden sich die Erinnerungen melden, die Erfahrungen sich auf sich selbst berufen, und die tausendmal gesagten Denunziationen werden ihre Wirkungen verlieren. Die Menschen werden das zerstörte gesellschaftliche Fundament gerechter und humaner nennen, sie werden es als solches wieder mit Sozialismus identifizieren, und sie werden vom Kapitalismus erfahren haben, daß ein sozialistisches gesellschaftliches Fundament menschlicher und nötiger ist, weil es die Menschen davon abhält, sich gegenseitig niederzuringen, auszubeuten und zu erniedrigen.

Wir waren zu dritt nach Berlin zu einem Treffen mit dem Mfs angereist, Iris, Hans und ich. Die Begrüßung verlief wie immer: herzlich, in etwas angestrengter Lockerheit. Für uns Frauen ein Küßchen links und rechts, für die Männer Schulterklopfen. Eine Tasse Kaffee, einen Cognac und den zweiten, weil man auf einem Bein nicht stehen kann, und in den dritten hinein sagte ich: „Ich bleibe hier.“

Maßlose Überraschung bei Wolfgang und Werner, in den Augen von Iris und Hans Erleichterung. Dies war unser letzter Augenblick, wir machten den Abstand zwischen uns endgültig und unwiderruflich, befreiten uns voneinander ohne Bedauern und ohne Haß. „Wie, du bleibst hier“, fragte Wolfgang, „bist du mit großem Koffer gekommen?“

„Ja.“ Ich stellte das Glas auf den Tisch und ging hinaus. Im Nebenzimmer brach ich auseinander, heulte, daß es mich schüttelte, ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Ein Überdruck verschaffte sich Raum. Die letzten zwei Jahre hatte ich mich wie einen Bogen gekrümmt, gezerrt und gespannt von zwei Polen: Ich will nicht ins System zurück. Niemals! Und: Ich kann auch nicht weiter. Politische und persönliche Sackgasse. Jetzt war ich endlich durchgebrochen, nicht freiwillig, mehr aus Verzweiflung, aber unumkehrbar.

Wolfgang kam herein, setzte sich zu mir und fragte ein bißchen hilflos: „Ist es denn so schlimm hierzubleiben?“ „Wieso, das kann ich doch gar nicht wissen, darum heule ich nicht.“ Er schwieg, drängte mich nicht. Als ich zur Ruhe kam und meine Beherrschung wiederfand, fragte er mich, ob ich hier wegwollte. „Ja, sofort, ich will sie nicht mehr sehen.“

Es ging dann ganz schnell. Er brachte mich in das Haus am See, es war mir schon gut bekannt. Ich hatte hier viele Gespräche geführt in eigenartiger Atmosphäre. Ein Gemisch aus Diplomatie, Freundschaft, Vorsicht, Mißtrauen, Gemeinsamkeit, Distanz und Neugier. Es war immer schwierig, oft entnervend, und manchmal haben wir uns danach zur Entspannung besoffen.

Das Haus lag in einem Waldgebiet mit hohen alten Kiefern. Sie würzten in diesen Tagen die Luft mit einem betörenden Harzgeruch. Der See war verführerisch idyllisch, als wäre Frieden.

Ich begann über meine neue Lage nachzudenken und stellte fest, daß dies im Moment völlig überflüssig war, denn es gab vorübergehend nichts zu entscheiden und zu regeln. Ich war in Händen. Für alles würde gesorgt werden. Das war ungewohnt für mich, aber nicht unangenehm. Ein „Nichtzustand“. Ich wußte, er würde einige Monate dauern und er war notwendig. Ich mußte inneren Abstand nehmen von dem, was ich verlassen hatte, und Nähe gewinnen zu dem, was mein künftiges Leben nun sein würde.

Auf meinen ausgedehnten Streifzügen durch die Wälder, Wiesen und Dörfer der Umgebung, beim Herumsuchen in der Kaufhalle, in den ersten vorsichtigen Begegnungen und belanglosen Gesprächen des Alltags, der für mich freilich noch nicht alltäglich war, begann sich ein ganz merkwürdiges neues Gefühl zu entwickeln. So ganz allmählich und leise meldete es sich aus den untersten Schichten, und ich nahm es wahr als an genehme Gemütslage, aber ich befragte es erst viel später. Hier begann ich schon meine Zugehörigkeit zur anderen deutschen Geschichte zu empfinden. Ja, ich begann bereits, Besitz von ihr zu nehmen, als hätte ich sie mitgeschaffen.

Meine bisherigen Besuche in der DDR waren zielgerichtet, offiziell und ohne Interesse für Land, Leute und ihr gesellschaftliches Leben gewesen. Ein bißchen kannte ich das Leben der Offiziellen, die in ihrer ganzen Bewuſtheit, ihrem Lebensinhalt und Habitus geprägt und ausgefüllt waren von ihrer besonderen Funktion im Staat. Die DDR war bisher von mir als politische Beziehung wahrgenommen worden, die eine Funktion in meinen Vorstellungen und Anstrengungen bezüglich der BRD hatte. Dies Verhältnis änderte sich jetzt.

Ich war so gründlich fertig mit dem Imperialismus, war so gründlich gescheitert mit meinen eigenen Versuchen, ihm die Stirn zu bieten, hatte mit Getöse den Guerillakampf begonnen und ihn so kläglich als untauglich erkennen müssen, ich hatte den variationsreichen, aber endgültigen Rückzug meiner Generation von revolutionären Perspektiven durchlebt, daß ich dem nahezu vierzigjährigen Beharren der DDR einen fast zärtlichen Respekt entgegenbrachte. Ohne Umschweife war ich bereit für Verantwortung und Verteidigung, ohne Umschweife ergriff ich Partei für den sozialistischen Staat als letzte reale Alternative. Seine Behauptung schien mir ein Rest greifbarer Widerstand zu sein, gegen das System, aus dem ich kam und das sich mit seiner hohlen Perfektion unaufhaltsam durch die Welt und die Zeit frißt, wie die Fäulnis durch den Apfel.

Jetzt spazierte ich plötzlich hinter der Barrikade herum, die sich dieser Unaufhaltsamkeit seit 40 Jahren versperrte. Ich wurde ungeheuer neugierig, wie das gegangen war von dieser Seite aus, all die Jahre der Druck, die Kämpfe von außen und innen, wie die Leute das gemacht hatten und wie sie dabei anders geworden sind als die im Westen. Mir wurde jeden Tag deutlicher, daß wir aus dem Westen keine Ahnung hatten, was hier seit dem Krieg eigentlich vorgegangen war. Auch wir nicht, die wir den Kapitalismus bis aufs Messer bekämpften und für uns beanspruchten, ein politisch brüderliches Verhältnis zur DDR zu haben. In Wirklichkeit haben wir uns nie bemüht herauszufinden, wie es tatsächlich funktioniert mit dem Sozialismus im Innern, wie die Jahrhundertidee als realer Organismus lebte. Unser Bild von der DDR war ein verschwommenes Mosaik aus eigenen politischen Interessen und aus linkslibertär vorgeprägten Abneigungen, die sich speisten oder lösten aus West- und Ostoffiziellem, aus Vorgetragenem und Vorgezeigtem. Es ist auch uns aus borniertem Desinteresse verborgen geblieben, wie das originäre Leben sich hier organisierte und atmete.

Es ist schon merkwürdig, daß wir gegen die kapitalistischen Inhalte und Strukturen kämpften und nicht auf die Idee kamen, erfahren zu wollen, wie es in den bestehenden sozialistischen zugeht. Wie die Menschen darin wirkten und lebten, die nach ’45 etwas anderes angefangen hatten als wir. Freiwillig, bewußt, aber ohne Erfahrung, oder auch unfreiwillig, passiv, feindlich und zerfressen von Sehnsucht nach dem Westen.

In den ersten Wochen entspannte ich mich, badete, ruderte auf dem See und genoß das hinreißende Abendgold der Spätsommertage. Ich war mir selbst überlassen und hatte Zeit, mich zu finden und bereitzumachen, die neue Welt kennenzulernen.

Sie tat mir wohl in ihrer Schlichtheit. Keine Schnörkel, kein Lack. Das Wesentliche war ungeschönt sichtbar. Mir gefielen auch die Losungen. Wahrlich keine phantasievollen Schöpfungen, aber deshalb nicht falsch. Sie begegneten mir oft ganz unerwartet. Am Ende einer Landstraßenkurve nach Berlin: Ich bin Arbeiter, wer ist mehr? An der verlassenen Ruine eines Sägewerks: Den Sozialismus aufbauen! Vorwärts zum 8. Parteitag der SED. An der Dorfeiche: Mach mit, schöner unsere Dörfer, unsere Städte. An der Schule: Wir lernen für den Frieden. Immer riefen sie auf, appellierten mit schlichter Wiederkehr an die Aufmerksamkeit der Bürger, an ihre Initiative, ihre Loyalität für die sozialistische Gesellschaft. Eine rührende Werbung, nicht erfunden für Saisonrenner und Marktneuheiten, nicht für Ex-und-hopp-Produkte, nicht für den Genuß des Augenblicks. Ihre Lesungen und Sprüche forderten, versprachen und behaupteten die Anstrengung und Hingabe für eine bessere Zukunft. In ihnen steckte die Mühsal und nicht selten die Vergeblichkeit beim Beschreiten neuer Wege, beim Ringen um neue Lebenswerte. Oft waren sie verwittert, verblichen, als wollten sie sich langsam unsichtbar machen, sich zurückziehen vor der Realität, die sie oft genug Lügen strafte.

Nein, ich fand sie nicht lächerlich, pathetisch manchmal, ja. Auch altmodisch. Aber sie konnten niemals so falsch und zynisch sein wie der Kitekat-Werbeslogan in einer Welt, in der jährlich 14 Millionen Kinder an Hunger und Seuchen sterben: „Das Beste für unsere Katze“. Niemals entleerter als der tägliche Radiospruch: «Bildwoche was braucht man mehr?» Und auch niemals dümmer und hohler als: „Alles Müller oder was?“ Ich kann heute nur noch müde lächeln, wenn ich die beliebte Formel westlicher Ansichten und Markierungen höre oder lese: «Die allgegenwärtige ideologische Propaganda und Indoktrination in der DDR». Welch eine Abstumpfung und Verödung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber der eigenen Umwelt! Sie sind aufgegangen in der Warengesellschaft und spüren nicht mehr, wie sie 24 Stunden am Tag von ihr bestimmt und belästigt werden. Wohin du in der kapitalistischen Gesellschaft den Blick auch wendest, die Schritte lenkst, die Sinne richtest, stößt du an ihre Propaganda. Sie verfolgt dich überall hin, vom Erwachen bis zum Schlafengehen. Die Straßen, die Häuser, die Lüfte, alle Körper, alle Flächen, die offenen und geheimen Wünsche und Träume der Kinder, Frauen und Männer, ihre Haut, ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Zähne, die Kunst, die Bildung, Wissenschaft und Kultur, alles, alles ist Werbefläche, Werbeobjekt, Werbeträger für das kapitalistische Gesellschaftssystem. Das nenne ich allgegenwärtig, und die Freiheit davon war für mich ein wohltuender Gewinn an Lebensqualität

Die Propaganda in der DDR war ungeheuer simpel, klar und durchschaubar, von allen Menschen als solche zu erkennen. Damit hat sie jedem die Freiheit gelassen, sich vor ihr zu verschließen, sich zu distanzieren. Die psychologisch und ästhetisch ausgeklügelte, differenzierte Propaganda des Kapitals erlaubt dies nicht mehr, sie hat alle inneren und äußeren Lebensbereiche durchdrungen, sie steuert die Bedürfnisse und Lebensentwürfe, ohne mehr wahrgenommen zu werden. Sie ist gefährlich und dort, wo sie deutlich sichtbar ist, eine impertinente Plage.

Von Zeit zu Zeit kommt Werner vorbei. Wir gehen zusammen spazieren, essen zusammen, diskutieren oder plaudern auch nur. Er prüft mich unauffällig (denkt er), will meine Eindrücke wissen und wie ich mich fühle. Er fragt nicht direkt, er will es über Bilder herauskriegen.

„Ich war gerade im Supermarkt.“

„Kaufhalle“, sagt er geduldig zum wiederholten Mal. Wir lachen.

„Ich bin immer überrascht», erzähle ich. «Irgendwie dachte ich, es mangelt euch an allem. Das denken wir alle drüben.“

„Das ist natürlich Quatsch, aber wenn du länger hier bist, wirst du merken, wo es fehlt und hakt. Vom Supermarkt sind wir noch weit entfernt.“

„Gott sei Dank“, sage ich.

Wenn er geht, sagt er: „Sobald du dich in der Lage fühlst, fangen wir an zu arbeiten. Deine Legende, dein Beruf, deine neuen Verhältnisse, es wird nicht einfach, mach dir schon mal Gedanken.“

Ich suche eine Bibliothek auf, ich will die DDR-Sprache lernen. Jedes Gespräch verrät mich als «die aus dem Westen» und stürzt anfängliche Unbefangenheit in Befangenheit. In Österreich bin ich von älteren Leuten oft gefragt worden: „Kommen S’ aus ‘m Reich?“ Da steckte so eine selbstverständliche Komplizenschaft in der Frage, die mich abstieß. Ich verneinte immer. Aber jetzt war Mißtrauen und Unsicherheit in der Frage: „Sie kommen aus der BRD?“

In der Bibliothek betrete ich aufregendes Neuland: DDR-Literatur, sozialistische Geschichte, sozialistische Ökonomie, DDR-Kunst, Poesie, jedes Buch würde mir die DDR näherbringen, das ethische Verständnis des sozialistischen Teils der Welt samt seiner Materialisierung lag vor mir. Ohne bürgerliche Filterung und Interpretierung. Mit einem Packen Bücher über ökonomische, politische Strukturen, gesellschaftliche Organisationen etc., der Aula von Hermann Kant und einem Russisch-Kurs komme ich in die Wohnung zurück und lerne zuallererst die gebräuchlichsten Abkürzungen: EOS, POS, NSW, SW, AWG, KWV …

Selbst nach einem halben Jahr Vorbereitung konnte ich unmöglich als DDR-Bürgerin durchgehen, mir fehlte die Alltagssprache, und meine westlichen Sprachgewohnheiten konnte ich nicht so schnell abstellen. Also entschieden wir uns für eine Legende als Übersiedlerin. Das gab mir auch einen freieren Kommunikationsraum. Ich war ausgehungert nach sozialen Kontakten, Geselligkeit und Kommunikation. Das halbe Jahr in Berlin war ich vom Alltag getrennt, stand nur in Beziehung zu den Genossen vom MfS. Aber auch die letzten zwei Jahre in der Illegalität waren sehr einsam und losgelöst gewesen. Das lange Alleinsein bedrohte schon meine Lebenslust.

Gleichwohl war uns auch klar, daß ich von vielen Leuten mit Mißtrauen und Unverständnis betrachtet werden würde. Aber ich traute mir zu, das aufzulösen, und wollte es lieber in Kauf nehmen als zu strenge Zurückhaltung und Unsichtbarkeit. Außerdem bin ich zu spontan und zu eitel, um eine allzustarke Disziplinierung und Reduzierung meiner Persönlichkeit durchzuhalten.

Es wurde dann aber doch schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Das Unverständnis, wieso ich vom Westen in den Osten gekommen war, machte mich oft so wütend und verunsicherte mich. Die ersten Jahre in Dresden fühlte ich mich manchmal recht ungemütlich. Der Westen ist nicht beschreibbar. Die Diskussionen in meinem Arbeitskollektiv endeten in der Regel mit Vergleichen äußerer Erscheinungen: Trabi gegen Audi, Rügen gegen Mallorca, Westberlin gegen Ostberlin, da ging die DDR natürlich immer nach Punkten k.o. Wie erkläre ich Verdinglichung, Warenbeziehungen, soziale Kälte, Entsolidarisierung, wie erkläre ich, was die Warengesellschaft aus den Menschen macht? Ja, heute, nach den Jahren der Betroffenheit und Erfahrung in und mit den kapitalistischen Werten und Wirkungen würde ich nicht mehr auf diesen abwehrenden, ungläubigen Blick stoßen, der mich damals verstummen und oft genug verzweifeln ließ.

Wolfgang war der Stratege, seine Überlegungen erfaßten weitere Räume, waren großzügige Entwürfe, er forderte Alternativen zu seinen eigenen Gedanken. Er strebte Lösungen an, keine Entscheidungen, nur weil er die Macht gehabt hätte, sie zu treffen. Hinter seiner konventionellen äußeren Erscheinung verbarg sich der Geheimdienstmann von Welt und Kultur, von beider Seiten Welt und Kultur. Er war mir angenehm, sein Blick war frei von Kleinlichkeit und Provinzialität. Die Lust am Rituellen aber teilte er mit allen anderen männlichen Funktionären: einen Toast oder eine kleine Tischrede zu einem besonderen Anlaß, die offiziöse Gestaltung von Jahrestagen oder Ereignissen, ein politisches Statement zur Unterstreichung der Wichtigkeit eines Vorganges usw.

Werner war der Praktiker, der Arbeiter am Detail, der schlaue Fuchs, der seine Karten nie offenlegte. Er war ein fabelhafter Kombinierer, ein unbekümmerter Doppel- und Taschenspieler. Es war mir peinlich, wenn er nicht merkte, daß ich ihn durchschaute. Er rührte stets viele Seiten gleichzeitig an, um zu vertuschen, auf welche es ihm ankam. Manchmal spielte ich das Spiel mit, um besser zu sein, aber es gefiel mir nicht. Es waren die Momente, in denen ich spürte, er nimmt mich nicht ernst, er will meinen Willen umgehen. Ich bin sein Objekt, nicht seine Genossin. Aber er war auch ein liebenswerter Gesellschafter, mit ausgeprägter Freude für Gastlichkeit und Wohlbefinden.

Auch in den gemütlichsten, freundschaftlichsten Momenten vergaß ich nicht, daß die Männer meine „Betreuer“ mit staatlichem Auftrag waren. Der Schritt, in die DDR zu gehen, hieß gleichzeitig, mich in ihre Abhängigkeit zu begeben. Ich fürchtete diese Abhängigkeit nicht, ich wußte, sie würde nicht mißbraucht werden.

„Was willst du machen bei uns, welcher Beruf würde dir Spaß machen, in welcher Stadt möchtest du leben, und wie möchtest du heißen? Mal sehen, ob wir alle Wünsche zu einer Geschichte machen können.“

„Repro-Technik“, damit hatte ich aus dem Untergrund einige Erfahrung, „und bloß nicht in die Provinz, wenn Berlin wegen der Sicherheit schon nicht in Frage kommt, dann wenigstens in die zweit- oder drittgrößte Stadt.“

Nach einem halben Jahr Vorbereitung reiste ich nach Dresden. Im Gepäck viel Neugier, viel Banges, viel Spannung.

„Denk nur nicht, du triffst auf lauter Kommunisten, weil du im sozialistischen Staat bist. Wir wären schon froh, wenn nur die Hälfte aller Parteimitglieder wirkliche Kommunisten wären. Erwarte kein politisches Bewußtsein, wie du es hast und wie du es gewohnt warst von den westlichen Linken. Du wirst auf ein sehr unterschiedliches gesellschaftliches Bewußtsein und gesellschaftliche Verantwortung treffen. Erwarte keine Wunder. Vierzig Jahre sind nicht viel, aber lang genug für viele Fehler, die Menschen sind zäh, und die BRD hockt auf uns drauf, schwer wie Blei. Du wirst dich fremd fühlen zuerst, stell dich drauf ein. Wenn du nicht weiter weißt, ruf an, komm her.“

So Wolfgang und Werner,

6.45 Uhr. Die Normalschicht beginnt. Der Abteilungsleiter führt mich durch die Photoabteilung, zeigt mir meinen Arbeitsplatz, stellt mich vor. Ich bin befangen, aufgeregt, aber äußerlich bin ich ganz cool, da spielt meine lange trainierte Gelassenheit ihre Rolle. Ich drücke die Hände meiner künftigen Arbeitskollegen, höre Namen, sage meinen eigenen: Eva-Maria Sommer.

Es wird Kaffee gekocht. Der Abteilungsleiter ist gegangen, alle setzen sich in den Pausenraum. Sie holen mir einen Stuhl heran, und die Brigadeleiterin stellt mir einen Kaffee hin. Weiter nimmt niemand Notiz von mir. Scheinbar nicht. Es sind fünf Frauen und zwei Männer. Sie bereden die wichtigsten Aufträge, stöhnen über die viele Arbeit, schimpfen über die Spätschicht, sie hat wieder mal die Gläser nicht gespült. Sie lachen und scherzen. Hin und wieder trifft mich ein neugieriger Blick.

Ich war total verkrampft und wollte nach der Arbeit nicht gleich nach Hause. Es war ohnehin nur ein karges Zimmer im Bauarbeiter-Wohnheim. Niemand kannte mich dort, niemand wartete auf mich. So ging ich ins Zentrum, fand ein Café am Alten Markt und bestellte Kaffee und Cognac. Ich wollte entspannen und die Eindrücke meines ersten Arbeitstages reflektieren.

„Cognac?“ fragte die Kellnerin ungläubig, als wollte ich sie verarschen, „haben wir nicht.“

„Was haben Sie denn?“

„Na, Weinbrand“, kommt es spitz aus ihrem Mund. Jeder DDR-Bürger wußte, daß es Cognac höchstens in der Palast-Hotel-Klasse und im Intershop gab.

Der zweite Weinbrand löste meine Verspannungen. Ich fühlte mich heiterer und fand, daß der Tag gar nicht so schlecht gelaufen war. Jedenfalls nicht schwieriger als erwartet. Sie hatten mich mit freundlicher Distanziertheit aufgenommen, hatten keine Fragen gestellt, obwohl sie total neugierig auf mich waren. Nicht wo ich herkam, nicht warum ich gekommen war. Das blieb sehr lange so. Das war ungewöhnlịch.

Ich war keine x-beliebige Neue, ich war in erster Linie eine «Andere». Das mußte ich erst mal akzeptieren, darauf hatte ich mich eingestellt. Mir war auch klar, daß meinem Kommen diffuse Informationen vorausgegangen waren: Da kommt eine aus dem Westen, und daß diese Information alle weiteren Fragen offengelassen hatte. Ein äußerst undurchsichtiges Geschehen für Leute, die es gewöhnt waren, die Verhältnisse ihrer Kolleginnen fast so gut und selbstverständlich zu kennen wie die ihrer Familienmitglieder.

Wer übersiedelt schon vom Westen in die DDR! Eine Ost-West-Heirat wäre noch ein plausibler Grund gewesen, aber eine Single-Frau Ende 30? Da mußte was dahinterstecken. Womit sie ja nicht im Unrecht waren.

Dennoch hatten sie sich freundlich um mich gekümmert, mir ausgiebig den Aufgabenbereich der Abteilung erläutert, mich in die Technik der Kameras eingeführt und geduldig die ersten Aufnahmen mit mir geprobt.

Nach der langen Zeit in sozialer Isolation hatte die Bereitschaft, alles positiv aufzunehmen, sich in meinem Innern ausgebreitet wie der fliegende Albatros seine Schwingen. Nichts wollte ich in Bezug setzen zu dem, was ich aus der BRD kannte. Ich wollte alles neu und aus dem neuen Zusammenhang heraus betrachten und verstehen.

Dann war ich aber doch überrascht, daß ich erschrocken war über den äußeren Eindruck der materiell-technischen Ausrüstung in der Photo-Abteilung: chemiezernagte Becken und Schalen, ausgetretene Fußböden, schäbige Möbel, der schmucklose Pausenraum. Ich schluckte und dachte: „Kann ich mich hier wohl fühlen?“

Sehr bald sollte ich feststellen, daß dieser erste Eindruck sich völlig auflöste, daß die äußere Glanzlosigkeit nichts anderes als die Geschichte einer langen, vertrauten Nutzbarkeit war. Mein Blick auf meine Umgebung wurde familiär und beziehungsreich, das ästhetische Bedürfnis richtete sich wie von selbst auf den inneren Wert und machte die Betrachtung des Äußeren überflüssig. Als ich später an meinen ersten Eindruck dachte, konnte ich ihn nicht mehr nachempfinden.

Ich habe mich äußerst wohl gefühlt in unserer alten Photographie. Sie hatte etwas Anarchohaftes an sich, gegenüber der hochmodernen Scannerproduktion ein Stockwerk über uns, die das Hätschelkind der Betriebsleitung war. Eine moderne, elektronische Oase in der sonst bescheidenen Automatisierung. Wir waren mit unserem Sammelsurium an uralten mechanischen und neuen halbautomatischen Zweiraumkameras die „Freaks“ unter den Photographen, bei denen es öfter mal chaotisch zuging. Uns gefiel das. Wir waren «der Haufen da unten», mit dem kein Staat zu machen und kein Wettbewerb zu gewinnen war. Zu uns kam nur selten der Meister und noch seltener der Abteilungsleiter. Wir benötigten sie einfach nicht. Wir kriegten unsere Aufträge und die Termine. Dazwischen regelten wir alles selbst. Selbst Renate, unsere Brigadeleiterin, war eigentlich überflüssig, aber sie gehörte nun mal zu unserem Biotop.

Außer einer relativ modernen, leistungsfähigen Import-Kamera für Offset war unsere Technik aus der DDR. Die Kameras waren robust, zweckmäßig und nicht sehr reparaturanfällig, dafür die Entwicklungsmaschinen um so mehr. Wenn die Entwicklungsmaschinen versagten, kam die Produktion aller Betriebszeitungen ins Stocken, für die wir u. a. täglich die Fotos reproduzierten. Die Maschinen waren unser Augapfel, und dieser Umstand zwang uns zu einem kollektiven Liebesleben mit den zwei Betriebshandwerkern. Der eine war ein Schwätzer, der andere ein Säufer, aber sie verstanden was von ihrer Arbeit. Die Handwerker waren die Könige der DDR, im Land. Wolfgang und Willi, die zwei Experten, kamen zu jeder Kaffeepause und waren eine feste Größe bei jedem Geburtstags-, Einstands-, Ausstands-, Prämien- oder anders begründeten Umtrunk. Jeder von uns war mal dran, sich ihrer Stimmungen anzunehmen und Komplimente zu verteilen. So sicherten wir uns ihre Bereitschaft zur sofortigen Unterstützung, wenn es Probleme mit den Maschinen gab.

Über die Arbeit wuchs die Vertrautheit miteinander.

Ich hatte im Untergrund zum Fälschen und Herstellen von Dokumenten schon viel in dem Metier herumexperimentiert. Eigentlich brauchte ich nur noch zu lernen, wie Farbauszüge gemacht werden. Ich wurde sehr schnell selbständig in allen Arbeitsabläufen und machte meinen Facharbeiterabschluß.

In der BRD ist Arbeit etwas anderes als in der DDR. „Zeit ist Geld“, sagt der Kapitalismus. In ihm ist meine Arbeitskraft eine käufliche Ware, die allein der Profitmaximierung dient. Ich, der Mensch, bin die Ware, und an mir ist nur wichtig, welchen Gewinn ich dem Arbeitgeber einbringe. Ist sein Profit nicht mehr gesichert, spiele ich keine Rolle mehr. Nicht mehr als Arbeitskraft und schon gar nicht als Mensch. Dann bin ich sozialer Ballast und habe keine Existenzberechtigung mehr. Dann hänge ich strampelnd im „sozialen Netz“ oder falle dadurch oder suche zu überleben im Schatten des Legalen, im Trüben der Gesellschaft oder bin nutzlos und arm. Wer will das schon? Darum muß ich um meinen Arbeitsplatz kämpfen, muß besser sein als die anderen, die natürlich auch besser sein wollen. Die Konkurrenz treibt uns voran und regiert uns. Sie stellt uns gegeneinander und ist eine zuverlässige Barrikade gegen die Entwicklung freier, solidarischer Verhältnisse. Das ist die effizienteste Ausbeutung des Individuums und beruht auf der Ausschaltung verbindender zwischenmenschlicher Beziehungen.

„Zeit ist Leben“, sagt der Sozialismus. Arbeitszeit ist Lebenszeit. Nahezu die Hälfte seines Lebens verbringt der Mensch auf seinem Arbeitsplatz, und sie darf ihm nicht gestohlen werden, nicht getrennt werden von den Bedürfnissen, Problemen, Wünschen, Erfordernissen seines Gesamtlebens. Soziales Verhalten, soziale Beziehungen, Gesundheit, Kultur, Bildung, Geselligkeit sind elementare menschliche Bedürfnisse, die während der Arbeitszeit nicht ausgeschaltet werden dürfen. Die Arbeitskraft ist nicht vom Menschen zu trennen. Sie ist kein käuflicher Teil, keine Ware, sondern ein Wert, der als kollektives Vermögen zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Anliegen eingesetzt werden muß.

Das ist die Philosophie des Sozialismus: Aufhebung der entfremdeten Arbeit. Aber wie so vieles ist auch dieser Prozeß in der Unreife der Verhältnisse, in der Abhängigkeit vom Weltmarkt und im schwachen sozialistischen Bewußtsein steckengeblieben, verkam unbegriffen zum berühmten „sozialistischen Schlendrian“. Dennoch drückte sich dieser Ansatz zur Aufhebung der Trennung von Leben und Arbeit als neue soziale Qualität in den Beziehungen der Leute aus. Sie waren vom Prinzip her konkurrenzfrei und offen zueinander. Natürlich gab es auch Neid und Konkurrenz, aber als privater Ausdruck, nicht als fremder, objektiver Druck, dem die Menschen nicht entweichen können. Arbeit war Existenzsicherheit, gesellschaftliche Integration, Geselligkeit. Sie hatte einen zentralen moralischen Wert, und das Ansehen im Kollektiv war nicht zuletzt davon abhängig, wie verantwortlich man mit der Arbeit und den gesetzten Zielen umging. Die Herabsetzung bzw. die Zurückweisung einer Kollegin lief immer zuerst über die Herabsetzung der Arbeitsleistung. Sie bestimmte auch die tatsächliche Position im Kollektiv, nicht die Qualifikation oder die gesellschaftliche Funktion.

Da war Schnuffi, unser Parteisekretär. Er war Arbeiter in der Beschichtungsabteilung, schüchtern, nicht redegewandt und völlig überfordert mit seiner Funktion. Das störte ihn nicht. Er war stolz auf sie und hingebungsvoller Anhänger der Partei. Schnuffi hatte gerade für seine fünfköpfige Familie eine blitzneue Vier-Zimmer-Wohnung im Neubaugebiet Gorbitz bezogen, in dem es noch nichts gab, keine Straßen, keine Gestaltung, keine Geschäfte, nur die Straßenbahn. Und jeden Morgen um halb sechs stapfte er durch den Lehm zur Haltestelle. Wenn er von der Arbeit kam, trommelte er die Neueingezogenen zusammen und begann, Sträucher und Bäume zu pflanzen. Schnuffi ließ nichts auf die Partei kommen und nichts auf das Wohnungsbauprogramm.

Aber Schnuffi wurde nicht für voll genommen und nur mit Spott bedacht. Ich mochte ihn ganz gern. Ich habe einen Schutzinstinkt für ungelenke Menschen, an denen sich gerne die Gemeinschaft ergötzt. „Was habt ihr gegen ihn“, fragte ich Rita, die ihre Funktion in der Gewerkschaft auch ernst nahm. „Ach, Schnuffi, der kann noch nicht mal richtig Platten beschichten“, sagte sie. Was nicht stimmte, er konnte es so gut oder schlecht wie jeder andere. „Außerdem hat er uns verpetzt, weil wir in der Spätschicht manchmal Wein trinken.“ Aha! Schnuffi als Partei, mutterseelenallein, im Kampf um die Auslastung der Arbeitszeit.

Die Arbeit hatte in der DDR einen ethisch-moralischen Wert. Die Atmosphäre am Arbeitsplatz war kooperativ, entspannt, familiär bzw. von subjektiven Beziehungen zueinander bestimmt. Der Umgang miteinander, auch mit dem Meister, Abteilungsleiter usw., war hierarchiefrei und nicht autoritär.

Die Abschaffung entfremdeter Arbeit, die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben war eine Kernforderung der revolutionären Linken in den sechziger und siebziger Jahren. Wir haben das in der Illegalität praktisch gelebt, und auch in der DDR war diese Spaltung des Seins schon sehr weit aufgehoben. Ich habe das deutlich als gesellschaftliche Weiterentwicklung empfunden, aber für die DDR-Leute war das Normalzustand, dem sie keine besondere Qualität beimaßen.

Sie hatten eine starke Beziehung zu ihrer Arbeit und zu dem, was sie kollektiv geschaffen haben. So gesehen empfanden sie sich durchaus selbstbewußt als Produzenten. In Berlin traf ich zwei junge Männer, die mich angeheitert nach der Kaufhalle fragten. Ich wußte nicht, wo sie war, und der eine junge Kerl sagte: „Weeste, ick bin extra mit meinem Kumpel, der ist nämlich aus Leipzig, weeste, also ick bin extra mit ihm hieraus jeloofen, um ihm die Kaufhalle zu zeigen, die ick jebaut hab, icke selbst, und jetzt muß ick se ooch finden, meene Kaufhalle.“ Er war nicht der Architekt, er war Bauarbeiter.

Wir waren alle in der Gewerkschaft. Wer nicht in der Gewerkschaft gewesen wäre, wäre gesellschaftlich verwaist. Die Gewerkschaft war für alle sozialen Belange, Wünsche, Ausnahmefälle zuständig. Freilich standen ihre Aktivitäten nicht dem Programm der SED entgegen, aber sie hat in Problem- oder Konfliktfällen die Interessen der Werktätigen gegen die staatliche Leitung durchgesetzt.

Karin, die den Mischa heiratete, hatte das Parteibuch. Mischa, drei Jahre freiwillig bei der NVA gewesen, war Kandidat der Partei. Rita hätte auch gern den Mischa geheiratet, aber Karin war eben zielstrebiger gewesen. Rita war in der Partei und in der AGL. Sie war ein freundlicher, ausgeglichener Mensch, aber sie schwieg unentschieden, wenn es um politische Fragen und allgemein unbefriedigende Zustände ging. Sie faſte zuerst Vertrauen zu mir, und einmal fragte ich sie: „Warum bist du eigentlich in der AGL und in der Partei, wenn du doch nichts vertrittst, wo’s drauf ankommt?“

„Und warum erzählst du kaum was aus dem Westen?“ konterte sie.

„Weil ihr alles, was ich zu drüben sage, mit miesen Beispielen von hier auslöscht. Ich hab es satt, gegen eure Vorstellung vom Konsumparadies anzureden. Sie ist ja unerschütterlich. Ihr wollt ja gar nichts hören, denkt doch nur an den Intershop.“

„Nein, das stimmt nicht. Ich möcht ja auch nicht tauschen, nicht wirklich, aber ich möchte es gern selbst kennenlernen und erfahren.“ Ja, das hatte ich ihr voraus. Die Nichterfahrung von Kapitalismus machte die Leute unentschieden, ob sie den Sozialismus wollten oder nicht. Ein Verhängnis, das Folgen hatte.

Es waren noch viele andere gesellschaftliche Funktionen im Kollektiv verteilt: gewerkschaftliche wie Kinderkommission, Kulturkommission, Ferienkommission, Kassierung oder DSF, FDJ usw. Sie wurden untereinander verschoben, weil es eine monatliche Zulage, je nach Einordnung bis zu 70 Mark, für sie gab. Dies schien eine stillschweigende Übereinkunft in unserer Abteilung zu sein, die ich sehr lange nicht bemerkte. Das war später in Magdeburg anders. Da haben wir vorher diskutiert, wer sich für die jeweilige Funktion eignet oder nicht, und dann haben wir gewählt.

Die gesellschaftliche Funktion hat zunächst überhaupt nichts über das politische Bewußtsein ausgesagt. Leider nicht. Auch das Parteibuch nicht. Aus Mischa wurde ich auch nicht schlau. Er trug selbstredend bei jeder Demonstration die Fahne und war eine feste Größe bei jeder Friedens- und Extraschicht. Immer zuverlässig, hilfreich, fachlich kompetent und intelligent. Der nette Junge, den Jungen und Mädchen gern zum Freund hätten, der junge Typ Facharbeiter, den die Partei suchte, dem sich die politische Zukunft fast wie von selbst ebnete, sofern er sich nicht bewußt entzog, um einen anderen Weg zu gehen. Wenn aber Max, der alte Faschist, vom Leder zog, und das tat er bei allen sich bietenden Gelegenheiten, dann sagte Mischa auch nur: „Ach, Max, reg dich doch nicht auf.“ Er hockte in jeder Spätschicht mit Max zusammen, und ich wunderte mich, wie das zusammenpaßte, denn Max war ein hinterhältiger Intrigant, ein biedermännischer Hetzer und Sozialismushasser, aber ein feiger, der nach oben beflissen servil war und hernach Großmäuligkeit ausspuckte. Ein dickbäuchiger Stammtischbruder übelster Sorte. Ich konnte ihn nicht ausstehen und er mich nicht. Aber Mischa und Rita verstanden sich ausgezeichnet mit Max und kungelten dieses und jenes mit ihm aus. Mischa war Kandidat, ich habe nichts davon gemerkt, daß er auch Kommunist war.

Thomas kommt als Lehrling zu uns. Sein Vater ist hoher Funktionär bei der Bezirks-Staatssicherheit. Niemanden interessiert das. Viel interessanter ist sein Punk: Ausgefallene Klamotten, die er sich selber näht, schöne gestylte Haare, nachdrückliches Beharren auf seiner Individualität. Thomas’ politisches Interesse geht über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes hinaus. Wenn nicht viel zu tun ist, hockt er in der Dunkelkammer und liest. Wir diskutieren über die Entwicklung in Polen, und er ist ausgezeichnet informiert über die gemeinsame Rolle des Vatikans und der CIA zur Unterstützung der Solidarnosc. Er ist achtzehn, steht auf Phil Collins und Grönemeyer und macht sich leidenschaftliche Sorgen um den Kommunismus. Ich bringe ihm ein Buch von Plechanow mit. Plechanow gibt es in der DDR nicht. Ich hatte es im Gepäck gehabt. „Wenn das mein Alter sieht“, sagt er.

Chaled stammt aus Ramallah. In den besetzten Gebieten hatte die Intifada begonnen, und in seiner Heimatstadt toben heftige Kämpfe. Den ganzen Tag läuft das Radio. Er will keine Information verpassen. Er ist nahe dran, seine Ausbildung hinzuschmeißen, um ins Kampfgebiet zu gehen. Wir verstehen uns auf Anhieb. Er leidet auch ein bißchen unter der für uns unpolitischen Gewöhnlichkeit des Arbeitsalltags. Chaled hat eine hohe Achtung vor der Politik der DDR und ihrer Solidarität. Das entspricht seiner Erfahrung als ausländischer Bürger. „Aber die Partei wird nicht richtig respektiert“, sagt er. „Das ist in der SU ganz anders, dort hat sie eine starke Autorität.“ Sein Bruder studiert in Kiew.

Chaled fängt auf dem Betriebsfest eine Schlägerei mit Wolf an. Der hat einen Ausreiseantrag laufen, und weil das immer sehr lange geht, haben sich alle daran gewöhnt und ihre anfängliche Befangenheit, Ablehnung, Unsicherheit oder heimliche Bewunderung im täglichen Umgang wieder vergessen. Nur Chaled läßt keine Gelegenheit aus, ihm seine Verachtung zu zeigen. Nach ein paar Schnäpsen ruft er ihm „Demark-Herzchen“ und „Verräter“ zu. Es droht ein „politisches Vorkommnis“, worauf keiner Lust hat. Die Berichte! Wir trennen die beiden und müssen Chaled den Rest des Abends in Schach halten.

Wolf ist der typische Wirtschaftsflüchtling. Seine Gespräche laufen alle auf verächtliche Hinweise hinaus, was es alles in der DDR nicht gibt. Er hat gerade seinen Trabi bekommen, auf den er mehr als zehn Jahre gewartet hatte. Jetzt rast er wie ein Verfolgter mit höchster Drehzahl durch die Straßen und bremst nur mit quietschenden Reifen. An dem „Scheißtrabi“ soll nichts mehr zu gebrauchen sein, wenn er rübergeht. Am liebsten würde er die ganze DDR kurz und klein machen. Die BRD, das ist Freiheit. Freiheit ist, in Läden zu gehen und zu kaufen, was er haben will. Ihm ist nicht zu helfen, er soll gehen.

Wolf war der einzige, den ich getroffen habe, der die DDR wirklich zum Teufel wünschte. So manche kokettierten mit dem Westen, aber er war ihnen nicht geheuer, und seine Verlockungen waren die Verlockungen des Lasters, das wohl süß, aber am Ende nicht kalkulierbar war. Selbst Max, der alte Faschist, sagte, als ich ihm genüßlich die Lieblingsparole der Antikommunisten aus der BRD „Dann geh doch nach drüben“ zuwarf: „Ach, nö, hier hab ich doch alles: meinen Betrieb, meine Familie, meine Arbeit, meinen Garten, meine Wohnung …“ Aus eben dieser Sicherheit heraus konnte er über alles, was DDR war, herziehen. Vor allem die Schokolade! Die Schokolade und der Kakao aus der DDR waren das Letzte! Ich kann nichts dafür, aber mir hat auch die Schokolade aus der DDR geschmeckt.

Veronika, unsere FDJ-Sekretärin, ist Lithographin. Sie kommt nach der Schicht herunter, und wir beide entwickeln eine Unmenge der schönsten Che-Guevara-Fotos. Sie will sie zum zentralen FDJ-Treffen in Berlin mitnehmen. Wir diskutieren über den Guerillakampf. „Er war ein politischer Abenteurer“, sagt die gestrenge Partei aus ihr.

„Aha“, sage ich, „und warum entwickeln wir hier einen Haufen Fotos von ihm und nicht von Ernst Thälmann?“

„Trotzdem“, beharrt sie, „objektiv war sein Kampf falsch.“ Objektiv, das sind in der DDR immer die Beschlüsse der Partei. Aber die Begeisterung verbindet sich auch in der DDR lieber mit revolutionären Außenseitern. Über Tamara Bunke wird deshalb nicht offiziell gesprochen. Über mich schweige ich selbstverständlich auch.

Veronika hat, mangels anderer Kandidaten, Jochen zum FDJler des Monats auserkoren. Sein Bild und ein kleiner Artikel erscheinen in der Betriebszeitung. Jochen ist der Sohn von Konrad und Lehrling bei uns. Konrad ist Abteilungsleiter der gesamten Photographie, zeigt sich aber selten bei uns unten. Sein Sohn ist so ungewöhnlich, daß mein Beschützerinstinkt geweckt ist. Der achtzehnjährige Jochen ist von angreifbarer Bereitwilligkeit, Gutherzigkeit. Er öffnet jeder und jedem die Tür, trägt die Taschen, gibt seinen Stuhl her, stellt sich immer hintenan und gibt seinen Platz in der Warteschlange ab, springt für jeden ein und auf, ist allem und allen positiv zugewandt, ist tief christlich (seine Familie gehört zur adventistischen Religionsgemeinschaft). Jochen lächelt bei schlechten Witzen, raucht nicht, trinkt nicht, ißt, was auf den Tisch kommt, ist nie zornig, meckert nie, arbeitet doppelt so viel wie andere, erforscht und probiert Neuerungen. Er scheint ein Engel zu sein. Ein intelligenter dazu, mit freiem Blick aus großen blauen Augen. Er hat es nicht leicht, er wird belächelt, ungerecht verspottet. Über seiner Wißbegierde und Experimentierfreude vergißt er manchmal seine Tagesarbeit, dann gibt es Grund, ihn anzumachen. Sie bemühen sich, ihn nicht ernst zu nehmen, aber das ist nicht ehrlich. Es ist auch Neid, Verwunderung darin versteckt. Ich achte auf Jochen. Es fasziniert mich, wie vollkommen ungeschützt und unberechnend er sich ausliefert. Ich nehme ihn ernst, das spürt er, das ist meine Hilfe für ihn.

Nun ist er FDJler des Monats, der Träumer, der Streber nach dem Guten und Besten, der kleine unbewußte Jesus.

„Warum Jochen“, frage ich Veronika, „er ist doch völlig unpolitisch.“

„Das ist doch egal“, sagt sie, „er ist so schön positiv, und unser Motto ist doch: Jeden erreichen, keinen zurücklassen. Bestimmt können wir ihn noch agitieren.“

Ich hoffe, es ist ihnen nicht gelungen. Er benötigte keine Ideologie zur Entwicklung seiner sozialen Kräfte. Er hatte alles überreich in sich.

Während meiner Ausbildung zur Facharbeiterin gab es natürlich auch Staatsbürgerkunde. Mein Stabü-Lehrer war überzeugter Marxist-Leninist, so mein Eindruck. Er ließ mich nur eine Arbeit schreiben, dann sagte er: „Du brauchst nicht mehr zum Unterricht zu kommen, du weißt ja mehr als ich.“ Da staunte ich, mein Wissen über marxistische Theorie war wirklich nicht sehr ausladend. Ein Jahr später sah ich ihn im Blaumann in der Kantine sitzen. Er war in die Produktion versetzt worden, nachdem er einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Seine Tochter hatte illegal das Land verlassen. Er hatte sie alleinerziehend großgezogen. Nun wollte er zu ihr, nachdem er ein Jahr lang versucht hatte, sie zu vergessen. Das verstand wirklich jeder, auch der Parteisekretär, aber die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus konnte er nun weiß Gott nicht mehr unbefangen lehren.

Monika und Renate schaffen zusammen an einer Kamera. Sie sind typische DDR-Frauen: qualifiziert, verheiratet, ein Kind, doppelt belastet, sie arbeiten verkürzt, um ihre Töchter um ein Uhr aus der Schule zu holen. Lange sind sie sehr skeptisch mir gegenüber, und ich fühle mich befangen in ihrer kühlen Nähe.

Später lerne ich Renate etwas besser kennen und stelle fest, daß die Zurückhaltung in ihrer Natur liegt und nur wenig mit mir zu tu hat. Sie hätte gern meine Freundschaft gewonnen und ich die ihre, aber ich fühlte mich noch viel zu unsicher für Genauigkeit und Offenheit, wußte noch zu wenig vom DDR-Leben, um Verhaltens- und Ausdrucksweisen richtig zu deuten, einschätzen und einordnen zu können. So hielt ich lieber eine künstliche Distanz aufrecht.

Das war in den dreieinhalb Jahren in Dresden mein bestimmendes Verhältnis zu den Leuten, mit denen ich täglich zusammenkam: diese freundliche Distanz zur einzelnen Person, als Schutz vor allzu großem Interesse, und eine allgemeine aufgeschlossene Aktivität im Kollektiv. Letzteres ist mir natürlich, aber ersteres war kontrollierte Gestaltung. Gegenüber Männern klappt das vorzüglich, Frauen, wenn die Konkurrenz nicht zwischen ihnen steht, suchen Vertrautheit, Solidarität, Nähe zueinander. Das konnte ich nicht in Anspruch nehmen und habe es oft genug bitter vermißt. Denn immerhin war ich in dieser Hinsicht von meinem Leben im Untergrund verwöhnt.

Endlich habe ich eine eigene Wohnung. Sie ist schrecklich klein, wenn ich nicht allein in ihr bin. Ein Zimmer, Küche, Bad. Sie kostet 36 Mark. 36 Mark für 34 Quadratmeter! Ich verdiene jetzt achthundert Mark. Mir gegenüber wohnt eine geschwätzige, boshafte Witwe. Ich versuche, ihr aus dem Weg zu gehen, aber sie lauert mir auf und schwätzt mich verrückt mit ihrer Neugier. Sie hat mit allen Streit und will sich mit mir verbünden, bevor es die anderen vielleicht tun. Sie ist aufdringlich wie eine durstige Mücke. Ich bin zu nachgiebig und denke über einen rabiateren Befreiungsschlag nach. Sie ist kein netter Mensch, sie ist eine Plage. Dann kommt mich Halim öfter besuchen, ein schöner, großer irakischer Mann. Sie sieht ihn abends kommen und morgens gehen, ab da will sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ab da habe ich Ruhe.

Um Punkt sechs steige ich jeden Morgen in die Straßenbahn vor meinem Wohnblock. Sie hat erst zwei Stationen hinter sich und ist schon proppe voll. Prohlis ist ein Neubauviertel mit etwa 17000 Bewohnern, viel zu wenigen Kaufhallen und viel zu wenigen Straßenbahnlinien.

Die dreiviertel Stunde Fahrt kostet 15 Pfennige. So wenig, daß die Leute das Schwarzfahren unanständig finden. Wenn sie in die Straßenbahn einsteigen, halten sie ihre Monatskarte kurz hoch. Wenn sie eingezwängt in der Mitte stehen und keine Monatskarte haben, geben sie ihren Fahrschein von einer Person zur nächsten, und wer dem Entwerter am nächsten steht, der entwertet ihn, und der Fahrschein wandert auf demselben Weg wieder zurück. Wer keinen hat, fragt seine Mitfahrer. Ich bin manchmal schwarzgefahren, aus reiner Vergeßlichkeit, mit schlechtem Gewissen. In der BRD bin ich aus reinem Protest gegen die hohen Fahrpreise nur schwarzgefahren. In der Illegalität mußte ich aus Vorsicht natürlich immer einen Fahrschein haben.

Wer zu spät zur Arbeit kommt, entschuldigt sich: „Die Straßenbahn ..“ Sie ist die glaubwürdigste, obgleich die alltäglichste aller Erklärungen, denn jeder weiß: Unser öffentliches Verkehrswesen ist abenteuerlich und unberechenbar.

Nach etwa einem halben Jahr Dresden bin ich zu einem Auto gekommen. Ich hatte für vieles noch nicht das richtige Gefühl, und mit dem Besitz eines Ladas hatte ich mich über meine Mitmenschen erhoben, ganz ohne Absicht. Ich konnte noch nicht wissen, daß der Lada in der DDR so etwas wie die Mercedes-SL-Klasse in der BRD war. Nach meinen Nochwestmaßstäben war das ein bescheidenes durchschnittliches Auto.

„Du mit deinem dicken Lada“, hörte ich sie dann öfters sagen, und das war genauso, wie ich früher „der mit dem dicken Mercedes“ gesagt hatte. Etwas proletarische Verachtung, etwas spießbürgerlicher Neid. Langsam kriegte ich das Gefühl, mich für das Auto entschuldigen, es erklären zu müssen, und versuchte, den Blick darauf zu entschärfen. Ich sozialisierte es, wo immer sich Gelegenheit dazu bot.

Jedenfalls tauschte ich nach einer Zeit den Wagen gegen einen kleineren. Zum Trabi allerdings konnte ich keinerlei Zuneigung entwickeln. Ich blieb bei meiner Meinung: Die Entwicklungsingenieure haben allesamt die Prügelstrafe verdient.

Dann errege ich die Aufmerksamkeit meines Parteisekretärs: „Du liest immer das ND und die Einheit. Willst du nicht in die Partei eintreten?“

„Das reicht?“ frage ich. „Ich will doch nur wissen, wie die Partei Probleme sieht. Aber die kommen gedruckt ja gar nicht vor.“

„Warum auch, die kennen doch eh alle. Es ist wichtig, die positiven Seiten und Beispiele zu verbreiten.“

Das ND ist ein tägliches Ärgernis. Einmal, weil es so großseitig ist, daß ich es in der Straßenbahn nicht lesen kann, ohne den Kopf der vor mir sitzenden Person zu bedecken. Zum anderen, weil die Suche nach Informationen zwischen den Zeilen selten erfolgreich und daher frustrierend ist. Ich erfahre im ND, wer mit welcher Funktion wo gerade hingefahren ist und sich mit wem gerade in brüderlichem Einverständnis ausgetauscht hat. Worüber? Dazu finde ich nichts. Von einem Treffen der Generalsekretäre aller ost- und westeuropäischen kommunistischen Parteien, zwei Spalten je vierzig Zeilen lang, erfahre ich nicht mehr als deren Namen und daß es stattgefunden hat. Kein Inhalt, keine Analyse. Die Redaktion ist nicht bei Trost oder unverschämt. Den innenpolitischen Teil überblättere ich gleich, er ist eigentlich auch gar nicht da. In der DDR gibt es ja keine Innenpolitik. Es gibt nur den gemeinsamen Kampf für die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes und den gemeinsamen Kampf um die Durchsetzung der Beschlüsse der Partei. Das ist im Grunde beides dasselbe. Im nicht vorhandenen innenpolitischen Teil treten die positiven Menschen und Zustände aus ihrem problembehafteten Alltag und verlangen die Überzeugung des guten Beispiels. Das ist rührend bis kitschig, vor allem aber falsch. Vielleicht noch als pädagogisches Konzept für die Kinderkrippe geeignet. Die Leute in der DDR sind aufgeklärt, sie wollen ernst genommen werden, wollen, daß über Verantwortlichkeit (auch ihre eigene) und Realität geredet wird. Trotzdem war ich in der DDR nicht schlechter informiert. Anders, gewiß, und ich mußte mich mehr kümmern.

Wenn ich in Berlin war, ging ich als erstes in die Rathauspassage am Alex und kaufte alle Zeitungen und Periodika, die ich in der Provinz (die Dresdener mögen mir verzeihen) nicht bekam: Granma (Cuba), Prisma (Lateinamerika), Herald Tribune, L’Humanité, Morning Star etc. … Ich fand, die Leute in der DDR waren besser und richtiger über die Welt (wenn ich mal die BRD aus der Welt lasse) informiert als die bundesrepublikanischen. Oder könnte eine Arbeiterin von Siemens mir etwas über die Eremitage in Leningrad erzählen? Wüßte sie, wer Mandela, wer Daniel Ortega ist? Weiß ein Handwerker aus Peine etwas über die Entwicklung in Vietnam? Wenn es ungewöhnlicherweise doch der Fall wäre, hätte es gewiß nichts mit den Tatsachen, sondern mit den Geschichten der Bild-Zeitung zu tun.

Hingegen wußte natürlich auch kein gewöhnlicher DDR-Mensch etwas über den Diskussionsstand in der feministischen Bewegung oder über die aktuellen Diskursthemen der westlichen Intelligenz- und Kulturschicht. Allerdings: Wer außerhalb dieser Schicht wußte sonst schon davon?

Ich lebe hier im Gefängnis mit Frauen zusammen, durchschnittlich intelligenten Frauen, die wissen nicht, wer der Bundeskanzler ist. Undenkbar sowas in der DDR. Die bessere, im Sinne von richtigere, Informiertheit der DDR-Gesellschaft hat natürlich mit der Kollektivität in der DDR zu tun. Kollektivität ist menschliche Kommunikation.

Im Westen kommen die Leute außer am Stammtisch kaum noch zusammen. Die Vereinzelung und Individualisierung ihres Arbeits- und Lebensstils macht die Kommunikation und die Diskussion mit mehreren Menschen zur Ausnahme. In der DDR war die kollektive Kommunikation das Übliche. Jede Nachricht, jede Neuheit wurde verbreitet, begutachtet, hin und her gewendet, ausgebaut und bekam ihre Wertbestimmung zwischen wichtig und unwichtig, richtig und falsch.

Nach der Spätschicht fahre ich zu Ruth. Sie ist natürlich betrunken. Ich weiß nicht, warum ich wieder und wieder zu ihr fahre, obgleich ich sie stets im selben Zustand vorfinde, der mich ekelt. Ich will nicht akzeptieren, daß die Sucht sich einfach einen Menschen schnappt und ihn zur Kreatur macht. Sie mag die DDR nicht, das ganze Leben mag sie nicht. Ihre Wohnung sieht genauso aus. Trostlos. Ich will, daß sie die DDR liebgewinnt und auch das Leben. Durch mich.

Dann wacht sie auf, nach langem Kampf mit dem Alkohol, und zeigt mir die schönsten Ecken von dem kleinen Land. Das Bilatal, die sächsische Schweiz, die uralten Kiefern der Boddenlandschaften im Norden, den einsamen melancholischen Darß, und an der Stubbenkammer stellen wir Caspar David Friedrichs Gemälde der Kreidefelsen photographisch nach. Hiddensee im Novembersturm, als alle Bäume, Sträucher und Menschen dem jagenden Wind vom Meer nur in Schräglage standhalten.

Die tiefgrünen mecklenburgischen Wälder, in denen wir uns verlaufen und nächtigen müssen, die ruhigen freien Seen mit ihren Mücken, Fröschen und leisen Wellen, von keiner Touristikindustrie belästigt, von keinen Nobelvillen und Privatgeländen verstellt. Es ist unser aller Land. Keine Frage. Wir fahren immer drauflos. Im durchorganisierten FDGB-Ferienland durchaus ein Abenteuer. Die DDR hat erst-, zweit- und drittklassige Ferienheime, aber die Jugendherbergen sind immer große Klasse. Manchmal schlafen wir eben auch im Auto.

Ruth geht nicht los ohne ihr Fernglas. Sie steigt den Tieren und Vögeln nach, lauscht, guckt und staunt, bis sie sich davonmachen. Sie vergißt sogar mich, ist plötzlich verschwunden, und ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist. Wir streifen durch die Lande und fühlen uns überall zu Hause. Der Schnaps hatte sie fast schon zerstört, jetzt ist sie eine Frau mit Persönlichkeit, mit entfalteten Interessen

Entpuppung aus einem dunklen Kokon. Sie steuert direkt auf jemanden zu, wenn sie etwas möchte, unvermittelt und laut. Mir ist das peinlich, ich bin zurückhaltend, warte auf günstige Gelegenheiten, Atmosphären … Sie ist unberechenbar, elementar und rückhaltlos in ihren Bedürfnissen und Forderungen. Unverschämt und unvernünftig wie ein Kind. Beansprucht alles für sich. Sie übernimmt keine Verantwortung, dafür bin ich da. Sie ist vollkommen unpolitisch. Die Welt bin ich.

Ich kann ihr meine Vergangenheit nicht zumuten. Sie ist nicht fähig, damit umzugehen, und wird sie als Pfand gegen mich verwenden, wenn sie sich verlassen glaubt. „Die Frau ist nichts für dich“, sagen die Genossen aus Berlin. „Was lädst du dir da auf?“

„Ich weiß, ich weiß“, sage ich.

Wir sind auf Rügen, auf diesem mit weichen Hügeln bedeckten Zipfel, der wie ein tastender Finger in den Greifswalder Bodden hineinfühlt. Ein warmer, farbenglühender Herbst hat uns eingeladen. Die Insel ist nahezu frei von Urlaubern und breitet sich hingebungsvoll und schön vor uns aus. Wer Rügen kennt, versteht, wovon ich rede.

Wir schnuppern. In der Luft hängt Räucherduft und zarter Seegeruch. Wir sehen das Lotsenboot im kleinen Tissower Hafen liegen. Auf dem Bootssteg steht eine Räuchertonne, die drei zum Boot gehörenden Männer stehen und sitzen drum herum. Ungeniert tritt Ruth auf sie zu, schaut sich die im Tonnenofen hängenden Fische an und wundert sich laut, daß es Forellen sind. Die Männer laden uns ein, mit ihnen zu essen und zu trinken. Es sind zwei Ingenieure und der Lotse. Sie erzählen uns, daß der Greifswalder Bodden halb See- und halb Brackwasser hat und für die Forellenzucht geeignet ist. Gerade waren in einer Zuchtanlage die Netze gerissen, und zwanzigtausend Tonnen Forellen hatten das Weite gesucht. Eine ansehnlich große Schüssel voll steht nun frisch geräuchert auf dem Tisch in der Kajüte. Wir trinken Bier und später Wein dazu. Die Männer zeigen uns ihr Schiff. Es ist klein, aber hochseetüchtig und steckt voll modernster Technik, worauf sie enorm stolz sind und behaupten, kein Lotsenboot in der DDR sei besser ausgerüstet als das ihre …

„Dies ist ein amerikanischer Computer. Er ist teurer als das ganze Schiff“, sagt Heiner. Sie haben sich gleich mit Vornamen bekannt gemacht. „Wann können wir sowas endlich selbst entwickeln? Die Kosten, so ein Gerät hinter dem Rücken der Cocom-Liste zu kriegen, sind eigentlich nicht mehr akzeptabel.“

„Warum können wir nicht einfach so ein Gerät auseinanderbauen, analysieren und nachbauen?“ frage ich.

„Schön wär’s“, sagen sie, „aber das geht nicht. Wenn wir die Chips analysieren wollten, würden sie sich selbst zerstören. Die amerikanischen Hersteller haben diesen Selbstzerstörungsmechanismus mit eingebaut.“

Wir essen, trinken, diskutieren, bis die Nacht herangedunkelt ist. Wir reden miteinander nicht, wie Fremde es tun, sondern wie alte Bekannte oder Kollegen mit gemeinsamen Problemen und gemeinsamen Vorlieben. Es ist die DDR, die uns verbindet. Wir freuen, grämen, wundern und ärgern uns über sie. Das hat sie verdient, auch den Spott und die Achtung, die wir im ständigen Wechsel über sie ausschütten.

Halim sagte mir mal: „Wenn die arabischen Männer zusammenkommen, reden sie über Frauen oder Politik, wenn zwei Westdeutsche zusammenkommen, geht es um Essen und Geld.“ Ich füge hinzu: „Wenn zwei DDR-Menschen zusammenkommen, reden sie über die Arbeit und die DDR.“ Die DDR ist wie ein großes Projekt, an dem sich alle zu schaffen machen. Positiv oder negativ.

Als wir das Schiff verlassen, weht eine zart kühle, mitternächtlich frische Brise vom Bodden. Ich habe das glückliche Gefühl, daß alle sozialistischen Menschen Schwestern und Brüder sind und Rügens Schönheit ewig und unverkäuflich ist. Ja, ich bin ziemlich berauscht, und der Boden unter mir schwankt, als tanze noch das Meer unter mir. Auch wenn ich es schon vorher wußte, hat dann der Einzug schlechter Geschichte gezeigt, daß nichts ewig ist, und der Kapitalismus, daß nichts unverkäuflich ist.

Meine alltäglichen Grundversorgungen wie Essen, Wohnen, Kleiden usw. gingen früher im Untergrund recht flüchtig, spontan und planlos vor sich. Sie liefen allgemein unbeachtet, so nebenher ab, waren in der Regel von Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit bestimmt. Mobilität und Mimikry widersprachen jeder Besitzanhäufung und allen unabänderlichen Vorlieben. Was in der Illegalität Sinn hatte, konnte ich als Gewohnheit, als Stil, auch in der DDR, im Land der großen sozialistischen Planung, nicht ablegen. Obwohl ich mit meiner privaten Planlosigkeit immer wieder auf die Nase fiel.

Christa kommt aufgeräumt aus der Pause zurück. „Kinder, ich war auf Nahrungssuche, und was finde ich? Frottee-Tücher!“ Sie legt einen Stapel der erworbenen Handtücher auf den Tisch. „Wer geht noch mal und holt für alle ?“ Es wird eine Liste gemacht, wie viele jeder will. Ich sage: „Für mich nicht, ich brauche jetzt keine.“ Alle gucken mich verwundert an: „Na und?“

Dem System ist einfach nicht beizukommen: Wenn es etwas gibt, rennen alle hin und kaufen es in Mengen. Egal, ob sie es grad brauchen oder nicht. In kürzester Zeit ist die Ware wieder aus allen Regalen der Stadt verschwunden. Wenn ich etwas brauche, gehe ich los und suche danach bis zur Entnervung. Ohne Erfolg

„Siehst du“, sagen dann die Kollegen. „Du mußt kaufen, wenn es da ist, nicht wenn du es benötigst.“ Dem habe ich mich aber bis zuletzt widersetzt. Auch wenn es mich manchmal viel Zeit gekostet hat. Es war auch eine geheime Weigerung, die Tatsache anzuerkennen, daß es nach vierzig Jahren Planwirtschaft noch nicht möglich war, z. B. einen Bohrer Nr. 3 zu kaufen, wenn ich ihn brauchte, sondern das ganze Land offensichtlich in einer geheimen Verschwörung gegen mich zur selben Zeit und über Monate hin mir nur den Bohrer Nr. 5 anbot. Oder daß ich Wollsocken eben nur im Sommer kriegte und nicht, wenn es kalt war.

Das Einkaufen war für die DDR-Leute ja oft eine frustrierende Plage. Aber die andere Seite war auch sehr bemerkenswert: Die unerwartete Überraschung und Befriedigung, wenn Langersehntes und Gesuchtes endlich und plötzlich zu finden war. Eine Entspannung und ein Genießen war da. Die tägliche Versorgung und die Befriedigung des Konsumreizes hat in der DDR einen großen Teil an Energie, Interesse und Zeit absorbiert, ohne daß der Konsum allerdings dieser konzentrierte, unlimitierte Lebensinhalt wie im Westen war.

Politische Mobilisierung heißt in der DDR: erhöhte Anstrengung bei der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes oder der Friedensschicht. Seit Tagen agitiert die Partei für eine ExtraSchicht für den Frieden. Nach dem Motto: Dein Arbeitsplatz, dein Kampfplatz für den Frieden. Wiederum nach dem Motto: Ist die sozialistische Wirtschaft stark, ist der Sozialismus stark, ein starker Sozialismus sichert den Frieden. Das versteht jeder. Wer kommt, tut das freiwillig, ins Gebet wird keiner genommen. Nur: Unser Filmmaterial ist knapp kontingentiert. Wenn wir eine Schicht mehr fahren, wird uns am Monatsende das Material für eine Schicht fehlen. Nun denken wir: Na gut, in Wolfen wird ja auch eine Friedensschicht gemacht und bei allen anderen Zulieferbetrieben auch, dann müßte auch überall mehr produziert und geliefert werden.

Es funktioniert aber nicht. Leider. Am Monatsende drücken wir uns dann mit Kaffeetrinken durch die Schicht. Wir haben kein Material mehr. Und der Friede ist auch nicht sicherer. Aber die FDJ, die Partei und die Gewerkschaft rechnen „eine große gesellschaftliche Zustimmung zur Friedenspolitik des Sozialismus“ ab und sind zufrieden.

Ein „großer Erfolg“ sind auch immer die Subotnik-Tage. Ein oder zwei im Jahr. Eine richtige kollektive Wühlerei allerorten. Damit es sich auch richtig lohnt, haben wir schon einige Wochen vorher angefangen, alles verwildern zu lassen.

Kollektive Einsätze für gesellschaftliche Ziele über die normale Arbeitszeit hinaus sind natürlich kein Zwang. Wer sich daran beteiligt, und das sind immer außerordentlich viele, tut das mit einer bestimmten Befriedigung und dem Verständnis, etwas Richtiges und Notwendiges zu tun. Ich habe daran nur auszusetzen, daß dieses Verständnis sich mit organisierten Höhepunkten zufriedengibt und nicht weit genug in die alltägliche Praxis reicht. Das sozialistische Bewußtsein ist gesamtgesellschaftlich beileibe nicht reif in der DDR, aber es ist da. Ich kann es überall fühlen. Der Westen kennt keine Kollektivität, er verabscheut sie als potentiellen Hort von Subversion und Selbstorganisierung. Eine seiner gründlichsten und ersten Aktivitäten nach der Machtübernahme bestand darin, dieses noch unausgereifte Bewußtsein zu denunzieren, lächerlich zu machen oder einfach für nicht vorhanden zu erklären.

Wir sind eine kleine GST-Delegation aus verschiedenen Orten des Bezirks Dresden. Die polnische Schwester-Organisation hat gemacht und die Visa-Pflicht wieder eingeführt worden. Eine uns zu einem Freundschaftswettkampf eingeladen. Maria, unsere Delegationsleiterin, Ruth und ich besteigen in Dresden den Zug, nach und nach kommen Lohmann und Groter, die zwei LPG-Bauern aus Niesky, hinzu, Kallman, der Kraftwerksingenieur, Petra, die FDJ-Sekretärin, und Maike, die Ökonomin. Maria ist laut, herzlich, überschwenglich. Sie begrüßt uns alle mit einem Schnaps aus ihrem Reiseset. Alle kennen sie, und sie kennt alle. Maria hat Geschichte. In den fünfziger und sechziger Jahren war sie eine berühmte Fünfkämpferin in der DDR-Nationalmannschaft und hat Medaillen errungen. Dann stürzte sie vom Pferd, und ihre Sportkarriere war beendet. Seitdem ist sie GST-Funktionärin. Beliebt und bekannt als stand- und trinkfeste Frohnatur mit den größten Erfahrungen und besten Beziehungen zu den Schwester-Gesellschaften in den anderen sozialistischen Staaten. Maria ist um die Fünfzig, von gehöriger Fülle und temperamentvollem Aussehen und Auftreten. Sie ist direkt bis zur Derbheit, aber nicht unbedacht oder willentlich verletzend. Sie ist klug, sieht und erkennt schnell einen falschen Zug, eine versteckte Lüge, ein verborgenes Problem. Sie ist Kommunistin, das macht sie mir noch sympathischer

Bevor wir die Grenze passieren, sagt sie: „Wehe, ihr meckert in Polen über das Essen oder sonstige Dürftigkeiten. Grund genug werdet ihr dazu reichlich finden, aber ich erwarte von euch Höflichkeit und Takt gegenüber unseren polnischen Freunden. Der Sozialismus ist schließlich auch bei uns nicht, was er sein sollte.“

„Was denkst du denn von uns“, grinst Lohmann aus Niesky, „wir sind doch keine Bauern.“

Die Grenze ist so martialisch gesichert, als fürchteten die Polen immer noch einen Überfall vom westlichen Nachbarn. „Vor 1980 war das hier einfacher, viel freundschaftlicher. Aber seit den Aufständen der Solidarnosc in Polen ist sie wieder dicht gegenseitige Abschottung aus Angst vor dem unkontrollierten Hin- und Herfluten staatsfeindlicher Elemente“, erklärt Maria.

Die weiten, wohlbestellten Agrarflächen der DDR haben wir hinter uns gelassen. Jetzt rollt der Zug bedächtig durch die polnische Landschaft. „Schaut euch das an“, sagt Groter kopfschüttelnd, „Kleinbäuerei wie vor hundert Jahren.“ Auf den kleinen Parzellen sehen wir die Familie vom Kind bis zu den Großeltern wirtschaften. Ein Pferd zieht mit dem Pflug die Furchen.

„Das ist die katholische Kirche, sie hält die Bauern in ihren alten Traditionen fest und verschließt sie gegen kollektive Bewirtschaftung. Sie bekämpft den Sozialismus. Darum produzieren die Bauern auch nur soviel, daß gerade ihre Sippe genug hat und ein kleiner Überschuß zu unerhört teuren Preisen in die Stadt getragen werden kann. So sind die Städte natürlich nicht satt zu kriegen. Die billigen staatlichen Läden sind leer, und auf dem Markt gibt es schwindelerregende Preise. Wenn der Staat die Macht der Kirche nicht bricht, wird Polen immer ein rückständiges Land bleiben.“ Groter ist ein überzeugter Genossenschaftsbauer, welche Schwierigkeiten es auch immer in der LPG geben mag. Die grundsätzliche Vernünftigkeit von Kollektivwirtschaft wird von solchen Problemen nicht in Frage gestellt. Ich hab ihm erstaunt zugehört und freue mich heimlich. Mit solchen Leuten ist der Sozialismus noch nicht verloren. Da sitzt er mit seinen groben Kordhosen, dem gestärkten Hemd unter der biederen Strickweste, in der einen Hand den kleinen Schnapsbecher, in der anderen die Klappstulle, das rote Gesicht auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet, nachdenklich spricht er mit klarem Durchblick gegen die trübschmutzige Scheibe des Abteils.

Wir sind eine offizielle Delegation, und bestimmt haben sich die polnischen Genossen bemüht, uns dementsprechend zu bewirten. Niemand verliert auch nur ein Wort der Unzufriedenheit oder Kritik, aber ich bin kraß überrascht, soviel Mangel und grelle Widersprüche vorzufinden. Im Hotel fallen die Türklinken heraus, die Gardinen von den Fenstern, die Toilettenspülung funktioniert nicht, Frühstück, Mittag- und Abendessen sind so armselig und knapp, daß wir nicht satt werden. Aber wir sind tapfer, es gibt schließlich größere Not. Gott sei Dank läßt sich der schlechte Zustand immer mit einem noch schlechteren vergleichen. Vom Sozialismus reden wir aber nicht mehr.

Einen Nachmittag verbringen wir im Stadtzentrum mit dem architektonisch wunderschönen Marktplatz. Kleine Textil und Lederwarengeschäfte, elegant und sündhaft teuer wie westliche Boutiquen, daneben nahezu leere Regale in den Fleischer- und Lebensmittelläden. Wir suchen etwas zu essen, ein Pfirsich kostet 10 Mark, die Restaurants sind leer und bieten uns nur Kaffee. Ich trinke den schlechtesten Kaffee meines Lebens. Aber es ist mehr die Atmosphäre, die Summe aller kleinen Dinge: Gleichgültigkeit und Rückzug. Abweisung aller Verantwortung.

Den Wettkampf hatten die polnischen Schwestern und Brüder gewonnen. Weil aber im Sozialismus – auch im polnischen niemand leer ausgehen soll und die Völkerfreundschaft so wichtig ist und Medaillen nun wirklich immer genug vorhanden sind, kriegten auch wir alle eine. Auf der Rückreise sagt Petra: „Wißt ihr was? Ich habe den Verdacht, daß wir nur nach Polen geschickt worden sind, damit wir unsere gute alte DDR schätzen lernen.“

An der GST will die BRD ja gerne die Durchmilitarisierung der DDR-Gesellschaft beweisen. Auch das ist grundfalsch. Nirgendwo ist mir so ein militaristischer, chauvinistischer Geist begegnet, wie er in jedem Schützenverein, jeder Korporation und schlagenden Verbindung von Kufstein bis Flensburg zu finden ist.

Dann, nach dreieinhalb Jahren Dresden, fährt Beate, die mich kennt und mich undurchsichtig findet, in die Bundesrepublik.

Nachts steht sie gelangweilt auf einem Großbahnhof und wartet auf den Anschlußzug. Sie betrachtet müde die vielen Reklameschilder. Zwischen ihnen hängt ein großes Fahndungsplakat gesuchter Terroristen. Sie studiert es und ist plötzlich hellwach. In dem Foto der gesuchten Inge Viett erkennt sie die ihr gut bekannte Eva-Maria Sommer aus Dresden.

Als sie zurückkommt, ißt sie bei uns zu Abend. Sie sagt nichts, aber ich spüre ihre Blicke öfter und in gezwungener Unauffälligkeit auf meinem Gesicht und meinen Händen. Sie sucht die Narbe, die als besonderes Merkmal auf dem Fahndungsplakat ausgewiesen ist. Meine Beobachtungen sind undeutlich, vielleicht nur eine Projektion, denke ich, nachdem sie gegangen ist. Beate wartet ein paar Tage, dann erzählt sie es Ruth. „Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast.“

Mir ist sofort klar, was das bedeutet: Dresden vergessen, alles vergessen, was jetzt ist, verschwinden. Ich ringe um einen Entschluß. Soll ich die Situation vor dem MfS verheimlichen, einfach so tun, als wenn nichts wäre? Ich möchte es. Ich will nicht weg aus Dresden, ich fühle mich wohl, habe Wurzeln geschlagen im Betrieb, in der Stadt, privat. Jetzt bin ich gerade sicher geworden, freier, beweglicher und unabhängiger. Es ist verdammt schwer gewesen, mich einzuleben und Nähe zu entwickeln. Nein, es geht nicht! Ich habe mich verpflichtet, alles für meine Sicherheit und Geheimhaltung zu tun. Das ist eine politische Entscheidung. Ein Fehler kann unübersehbaren politischen Schaden für die DDR bedeuten. Ich weiß schon jetzt nicht mehr, wie viele bereits von meinem gefährlichen Geheimnis wissen. Ich kann mich nicht in ihre Hand begeben. So rufe ich in Berlin an und erkläre die Lage.

Ich muß tolle Geschichten erzählen, warum und wohin ich gehe. Niemand darf meine Spur verfolgen können, ich muß aus dem Kreis der mir lieb gewordenen Menschen verschwinden und möglichst schnell mein Bild, die Erinnerung an mich zum Verlöschen bringen.

Es fällt mir unsagbar schwer. Es gibt Momente, in denen ich glaube, daß ich nicht noch einmal – zum wievielten Male nun schon? – von vorn anfangen kann, es emotional nicht mehr schaffe. Ich lebe immer intensiv, gehe oft verschwenderisch mit meinen körperlichen und seelischen Energien um, bin emotional schwerfällig. Verhältnisse, Beziehungen, die ich bewußt aufbaue und entwickle, gehen tief. Entsprechend schmerzhaft sind die Brüche.

Im Häusermeer von Berlin-Marzahn versuche ich, mich mit der Situation abzufinden. Es wird jedesmal schwerer, und fast erliege ich der Furcht, daß mein Leben jetzt ein ewiges Provisorium sein wird. In der Illegalität waren immer nur die äußeren Bedingungen provisorisch gewesen. Die innere Stabilität und Energie waren nicht berührt von einem Wohnungswechsel, einer Ortsveränderung, einem Landeswechsel. Das gehörte zum Wesen der Illegalität und zerriß nicht die Beziehungen in der Gruppe und nicht das gemeinsame Handeln. Jetzt aber mußte ich jede Bindung und Verbindung durchschneiden, Gefühle und Sehnsüchte abtöten, Menschen aus meinem Leben streichen, als wäre ihr Auftauchen darin nur ein Versehen gewesen.

Ich bin ganz in die Abhängigkeit des MfS zurückgeworfen und muß ganz neu beginnen, um wieder selbständig zu werden.

Es dauert fast ein halbes Jahr, bis ich das verzweifelte Gefühl der Verlassenheit und Überforderung bezwungen habe. Wieder und wieder ermuntert von den Genossen: „Du mußt darüber hinwegkommen, du kannst neu anfangen.“ Irgendwann ist meine Lebensfreude und Lebensneugier auch wieder da, und wir machen uns an die Arbeit für eine neue Legende für die neue Zukunft.

Diesmal sollte es Magdeburg sein. Lustlos, widerstrebend hatte ich akzeptiert. Es war nicht einfach gewesen, eine angemessene Arbeit für mich zu finden. Meine Voraussetzungen waren jetzt zwar besser, weil ich fähig war, als DDR-Bürgerin aufzutreten, aber: eine DDR-Bürgerin in meinem Alter, mit meiner Selbständigkeit, meinem Habitus und gesellschaftlichem Denken hat in der Regel eine zumindest mittlere Karriere in Beruf und Gesellschaft gemacht, hat studiert, hat Leitungsfunktionen. Nun hatte ich gerade auf dieser Ebene noch keine Ahnung von der DDR. Das staatliche und parteiliche Innenleben, die Mechanismen von Leitung und Funktion waren mir noch unbekannt.

Am Ende brachten wir doch alles zu einer schönen runden Legende zusammen: untere Leitungsebene mit einem Ökonomiestudium, zuvor mit Ehemann dessen elterlichen Familienbetrieb geführt. Nach Tod des Mannes nun eine Neuorientierung jenseits der Familienenge.

In dieser Geschichte war ganz wunderbar meine bisherige gesellschaftlich-politische Abstinenz aufgehoben. Nun mußte nur noch ein Arbeitsbereich für mich gefunden werden, in dem nicht gerade meine unzureichenden Kenntnisse über die sozialistische Ökonomie als erstes gefragt waren, sondern das, was ich wirklich einzusetzen hatte: Organisationsfreude, Gespür und Gelenkigkeit im Umgang mit Menschen und Beziehungen.

Ich war also in der Provinz gelandet. Immerhin war ich jetzt in einem riesigen Kombinat, und dies schien mir größer und unübersichtlicher als die ganze Stadt Magdeburg. Auch nach drei Jahren war es mir nicht gelungen, alle Betriebsteile und Strukturen kennenzulernen, bei weitem nicht! Im VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“ wurden Dieselmotoren und Industrieanlagen gebaut. Es war Arbeits- und Lebensbezug für 9000 Menschen. Im Magdeburger Stammbetrieb für etwa 6.000. Auf dem Betriebsgelände habe ich mich in den ersten Monaten nur verlaufen.

Die Betriebe und besonders die Kombinate in der DDR waren für alle oder doch fast alle Bedürfnisse der Beschäftigten und ihrer Familien zuständig: für eine umfassende Gesundheitsversorgung, für das soziale und kulturelle Leben, für die Aus- und Weiterbildung, für Wohnungsbeschaffung, für die Betreuung der Kinder, für die Bereitstellung von Urlaubsplätzen, für soziale Unterstützung, für die Betreuung der Rentner und manches mehr. Z.B. hatte der Bereich Sozialwesen einen jährlichen Kultur- und Sozialfonds von 12 Millionen Mark. Das war allein der betriebliche Anteil. Die Betriebsgewerkschaft wirtschaftete aus eigenen Fonds. Sie hatte übrigens Kontrollautorität über die sozialen Leistungen. Ohne Gewerkschaft lief gar nichts. Als gewerkschaftliche Vertrauensfrau hatte ich keine Interessenkonflikte mit meiner gleichzeitigen Funktion als staatliche Leiterin. Die gewerkschaftlichen Belange hatten Priorität. Wir fragten uns manchmal, wer eigentlich mehr zu sagen hatte im Betrieb, der Betriebsparteiorganisator oder der Betriebsgewerkschaftsleiter. Das wurde durchaus in jedem Konfliktfall neu entschieden. Nun sind ja generell gegeneinanderstehende Interessen in der DDR nicht durch Konfrontation, sondern durch Ausbalancierung gelöst worden. Das entsprach der Politik der einheitlichen Linie und dem grundsätzlichen sozialistischen Verständnis von kooperativer Gemeinsamkeit.

Nein, am Geld hat es nie gelegen, wir konnten Gelder mit vollen Händen ausgeben. Nie habe ich so viele gesellschaftliche Gelder in Belegschaftshänden gesehen. Die Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung war enorm. In meinem Arbeitsbereich – Kinderferienaustausch, Kinderferienlager – verfügte ich über mehr als eine Million pro Jahr. Ich war nicht sehr selbstherrlich, aber ich hätte durchaus recht selbstherrlich mit manchen Summen umgehen können. Und das konnte fast jede Sachbearbeiterin im entsprechenden Arbeitsbereich.

Die staatliche Politik der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hat die Gewerkschaft und das betriebliche Sozialwesen mit großer ideologischer Autorität zur Durchsetzung ihrer Pläne ausgestattet. Manchmal packte ich mit heimlichem Vergnügen diese Autorität aus. Wenn mir die Bauabteilung zum dritten Mal das Material für die Instandsetzung der Ferienlager verweigerte, weil sie hinten und vorne nicht mit ihren knappen Kontingenten zurechtkam und deshalb andere Prioritäten setzte, kam ich dem zuständigen Leiter zu guter Letzt mit dem strengen Spruch: „Hast du nun die Politik der Partei zur Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik mit unterschrieben oder nicht, Genosse?“ Also, meistens half das.

Kommandowirtschaft ist ein politischer Begriff, der nichts anderes klarmacht als die Verachtung der Bourgeoisie für eine vernünftige Idee. Nämlich, der Wirtschaft ihren anarchischen, profitorientierten Selbstlauf-Charakter zu nehmen und sie den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen. Diese Idee ist wirklich nicht sehr vollkommen in der DDR. realisiert worden, und dafür gibt es viele gute und schlechte Gründe. Ganz abgesehen davon, daß umwälzende Ideen ganze Epochen zum praktischen Reifen brauchen, da das Experimentieren und Erkennen einer Generation dazu nicht ausreicht.

Ein Plan ist ja kein Kommando. Er kann falsch, mangelhaft, unrealistisch oder was weiß ich alles sein. Seine Realisierung an der Basis war überhaupt nur möglich durch die Entwicklung und Mobilisierung von Beziehungen, Überzeugungen, Kontakten, Interaktionen. Dies war unsere tägliche Wirklichkeit, mit der wir unsere Verantwortlichkeiten und Aufgaben wahrnahmen. Ein Abenteuer, weil es eben gerade nicht möglich war, etwas anzuordnen, zu befehlen oder anzufordern. Das konnte man natürlich machen aufgrund der Leitungskompetenzen, aber damit funktionierte nichts. Man mußte sich immer mit den Leuten auseinandersetzen. Zusammenkommen, in Beziehung treten, die Interessen austauschen. Das ist spannend und menschlich, das Ergebnis meist offen. Kategorien wie ökonomisch-zeitlich uneffektiv passen hier überhaupt nicht hin. Sie sind aus einem anderen Lebensverständnis, in dem Lebensqualität nur noch mit Geld identifizierbar ist. Der Kapitalismus tötet die direkte Kommunikation zwischen den Menschen. Da wird durch die Maschine, durch die Technik kommuniziert. In der DDR waren alle für alle Probleme zuständig. Ihre Regelung erforderte das ständige Miteinander.

Wenn die Gemüse-LPG mich anruft und nach Ferienplätzen für ihre Kinder fragt, diskutiere ich erst mal die Probleme der Frischgemüseversorgung in den Ferienlagern. Wir treffen uns, wir lernen uns kennen, wir verhandeln. Ich bekomme Gemüselieferungen fürs Ferienlager, sie bekommen ihre Plätze.

Ich teile mein Büro mit Steffi, Petra und Siegrid. Sie haben mich unfreundlich empfangen und wollen mir gleich zeigen, daß sie keine neue Chefin brauchen. Dabei bin ich bis oben voll mit Bereitschaft, alles gemeinsam anzupacken. Selbstverständlich übertrage ich mein Verständnis vom kollektiven Kampf auf meinen praktischen Alltag. Sie lassen mich glatt damit sitzen. Ich trage etwas Unkonventionelles in ihren bequemen sozialistischen Gang hinein. Das begucken sie mißtrauisch. Ich soll alles so machen, wie sie es immer gemacht haben und wie es immer recht und schlecht geklappt hat. Eifersüchtig wachen sie über ihre Beziehungen im Betrieb, ohne die ich nichts in Bewegung bringen kann. Besonders Petra. Schon viele Jahre im Betrieb, will sie mich nicht reinschauen lassen und ihre Kenntnisse nicht teilen. Sie dreht die Dinge nach ihrem Belieben und ihren Interessen. Sie ist schlau, korrupt, wendig und nimmt alle Vorteile wahr. Sie ist an keiner Veränderung interessiert, dies würde nur ihr System durcheinanderbringen. Sie lebt im und vom Betrieb wie die Made im Speck.

Mein Schreibtisch wackelt und zieht Fäden an meiner Hose. Sie haben mir den ältesten und kleinsten hingerückt. Ich sage nichts. Wieso sollte ihn auch jemand anders bekommen, ich wollte schließlich keine Chefin sein. Auf meine Fragen schieben sie mir in den ersten Tagen immer nur einen Stoß Aktenordner hin und sagen: «Da steht alles drin.» Es gibt zwei Telefone. Sie haben sie aus meiner Reichweite plaziert und lassen mich jedesmal um eines bitten. Nach einer Woche haben sie mich soweit: Total geladen, herrsche ich sie an, was hier vorgeht, was los ist! Sie tun so, als wüßten sie nicht, wovon ich rede. Wahrscheinlich bin ich in einer Schlangengrube gelandet, denke ich. Aber, immerhin tröstlich, in einer sozialistischen. Es dauert eine Zeit, bis ich mich mit meinem Weg durchgesetzt habe.

Wir haben im Harz und in der Altmark ein Ferienlager. Ein drittes als Austauschobjekt an der Ostsee. Insgesamt circa 1000 Ferienplätze für den Sommer, einschließlich Austauschplätze für Polen und die damalige CSSR.

Die Betriebsberufsschule, die Hochschulen des Bezirks, die FDJ, die Gewerkschaft des Betriebs, des Kreises, des Bezirks, die Versorgungseinrichtungen der Kommunen, die Bürgermeister, die Bezirkshygieneämter, das Jugendamt, die Reichsbahn, die medizinische Abteilung, die Bauabteilung, das Kulturhaus, die Graphik- und Agit-Prop-Abteilung im Betrieb, die Betriebszeitung, die Kinderkommission, die Transportabteilung usw., sie alle sind eingebunden in die Vorbereitung und Durchführung des Kinderferiensommers, der in meinem Büro organisiert wird. Tatsächlich: Um jedem Kind drei Wochen nahezu kostenlose Ferien anzubieten, stehen die halbe Republik einen Sommer lang und ich das ganze Jahr im Streß. Der gesamte Feriensommer ist etwa zehn Wochen lang.

Sozialwesen und Bildung waren Direktorenbereiche. Es waren die ideologisiertesten Bereiche. Als 1989 die Unruhen im Betrieb begannen, wurde als erster dieser Direktor von der Belegschaft angegriffen und dann gestürzt.

Die Leute in der DDR haben eine starke Identifikation mit ihrem Betrieb gezeigt. Alles ist ziemlich unbewußt und selbstverständlich. Eine ähnliche Identifikation wie zwischen zwei lange miteinander lebenden, voneinander abhängigen und füreinander verantwortlichen Personen. Sie kennen ihre schlechten und guten Seiten, sie haben ihre Unzufriedenheiten, aber sie trennen sich nicht. In der DDR kündigt selten jemand, und noch seltener wird jemandem gekündigt. Ein neuer Betrieb bedeutet immer auch gleich einen neuen Lebensbereich, und den muten sich die Menschen nicht gerne zu. Beziehungen sind von langer Dauer und geben dem Leben Sicherheit und Sinn.

Im Kombinat kriege ich langsam Erfahrung mit der Hierarchie und dem, was ich in der DDR als autoritär identifiziert habe. Das unterscheidet sich gewaltig von dem, was der Westen meint, wenn er die DDR pauschal als autoritär kennzeichnet.

Die DDR hat in ihrem Versuch, den Sozialismus zu praktizieren und zu behaupten, unter vielen Merkwürdigkeiten auch diese hervorgebracht: die unwirkliche Ebene des Autoritären und die wirkliche Ebene des Antiautoritären. Die Hierarchie im Betrieb hatte ihren offiziellen Ritus, ihren Orderstrang von oben nach unten, und der wurde auch ernsthaft rituell eingehalten, aber die persönlichen Verbindungen der Leute im Betrieb machten die Hierarchie unwirksam, neutral, oft überflüssig. Diese Beziehungen verhinderten die Übertragung der autoritären Strukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. In der DDR hatte kein Lehrling Angst vor seinem Meister und wir nicht vor Achim, unserem Abteilungsleiter. Eher schon umgekehrt. Und privat hatte Frau Doktor ihren Garten neben dem Elektriker, Herr Direktor ist befreundet mit dem Gewerkschaftsleiter, der wiederum Brigadier ist. Und Christel, als ökonomische Sachbearbeiterin, hat, wenn sie als Delegationsleiterin die Kinder nach Polen ins Ferienlager begleitet, plötzlich die Autorität, als Vertreterin des SKL und der DDR allgemein aufzutreten und zu wirken.

Meine erste Parteiversammlung war ein verblüffendes Erlebnis. Ich hatte als Vertreterin der staatlichen Leitung daran teilzunehmen, da die FDJ-Arbeit in unserem Bereich und der Vorbereitungsstand des Feriensommers Thema der Versammlung waren. Der Direktor eröffnet, umreißt knapp die Probleme und fordert ebenso knapp Lösungsvorschläge. An seiner Seite sitzt der Parteisekretär. Das muß so sein. Detlef, der Parteisekretär, kann ohne Unterbrechung eine Rede ohne jeglichen Inhalt vortragen. Das tut er auch diesmal, und alle schweigen. Er ist allerdings auch Abteilungsleiter und hat nach seiner Ansprache über seine Arbeit zu reden. Der Direktor schneidet ihm seine Rede kurz und bündig ab. Er will konkrete Fakten. Die Stimmung ist gespannt und hochoffiziell, als würde sich niemand hier kennen. Vor der Versammlungstür hatten alle ihre Persönlichkeit an den Haken gehängt.

Margrit, AGLerin, ist in der Partei und Ökonomin in der Hauptabteilung. Und außerdem schläft sie, wie ich weiß, mit dem Direktor, was nur insofern interessant ist, weil der Direktor ihr keinen Wimpernschlag lang Wohlwollen zollt. Sie trägt ihren routinierten Bericht vor. Berichte müssen unbedingt von zwei Dingen handeln: von den Mängeln und von den großartigen Anstrengungen zu ihrer Bewältigung. Margrits Bericht wird mit scharfen Worten als zu routiniert und innovationslos abgekanzelt. Nicht besser ergeht es allen weiteren Vortragenden. Dann ist Steffi an, die frisch gekürte FDJ-Sekretärin. Wir haben lange an dem Bericht herumgedoktert, weil es nichts zu schreiben gab.

Die FDJ-Arbeit liegt in unserem Bereich am Boden. Die Jugend hat kein Interesse daran. Steffi ist ganz unpolitisch und hat nicht viel mit der Partei am Hut. Eher das Gegenteil. Aber als sie gefragt wurde, ob sie die Funktion als FDJ-Sekretärin übernehmen wollte, sagte sie gleich zu. Verwundert wollte ich von ihr wissen, warum. „Ach, warum denn nicht“, sagte sie nur, und ich dachte mir, daß es wohl das gesellschaftliche Ansehen ist, das mit einer solchen Funktion verbunden ist. Steffi ist die einzige, die vom Direktor für ihren Vortrag gehätschelt wird. Als junges FDJ-Pflänzchen wird ihr Kredit eingeräumt. Alle anderen werden hart kritisiert und bekommen undiskutierte Maßnahmen mit strikten Terminfestlegungen angeordnet. Es gibt überhaupt keine Diskussionen. Das macht einfach keiner in der Versammlung. Und da sitzen kompetente, eloquente Leute am Tisch, eben vor der Tür noch locker und souverän, jetzt stumm, gebannt, ergeben.

Als Leiterin auf unterster Stufe habe ich wohl die meiste Freiheit, den größten Spielraum in der Realisierung meiner Aufgaben. Aber bei Achim, meinem Abteilungsleiter, geht es schon los. Wenn ich ein Protokoll schreibe, steht da genau drin, was war und was nicht war. Achim schreibt es dann um. Schwächt hier ein bißchen ab, neutralisiert da ein bißchen. Er bringt es auch in die offiziellen Sprachstanzen. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, daß die völlig unnötig sind. Dann kriegt es der Hauptabteilungsleiter. Der «verbessert» dann hier und da noch mal ein wenig, und der Direktor hat ein Papier auf dem Tisch, in dem kein brisantes Problem mehr drinsteht.

Um dreißig Kinder für drei Wochen in die CSSR zu schicken, muß ich einen Maßnahmeplan, einen Personalplan, ein inhaltliches Programm, jeden Monat einen Zwischenbericht zum Stand der Realisierung schreiben, eine Schulung für die Delegationsmitglieder, mehrere Versammlungen mit der Betriebs-, Kreis- und Bezirksgewerkschaft organisieren, müssen siebenfache Kaderbögen, Devisenformulare ausgefüllt werden usw. Für die Kindergruppe nach Polen wird ebenfalls ein Maßnahmeplan, ein Programm usw. gemacht. Für die beiden Ferienlager selbstverständlich auch noch einmal. Das Berichts- und Dokumentierwesen war in der DDR geradezu terroristisch und hat fünfzig Prozent der produktiven Zeit aufgesogen. Als alle Abteilungen aufgerufen waren, Software für ihren Bereich zu entwickeln, haben Steffi und ich als erstes an ein Maßnahmeplan-Programm gedacht.

Ich war ja nicht in der Partei, mußte mich nicht ihrer unmittelbaren Autorität unterwerfen und mich auch nicht mit ihren Ritualen auseinandersetzen. Aber ich konnte ihre Autorität nutzen. Wenn ich alle eigenen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und es nicht erreichte, daß der Produktionsdirektor die Leute zur Begleitung der Kindertransporte freistellte, dann ging ich zu Egon, dem Parteileiter des Bereiches, und sagte: „Wer bitte schön übernimmt die Verantwortung, wenn die Ferientransporte nicht gesichert werden können?“ Und weil ich wußte, daß die Partei letztendlich für alles zuständig war, hängte sich Egon ans Telefon und nahm den Genossen Direktor in die Pflicht.

Es reizte mich schon, ich wäre gern in die Partei gegangen. Schon weil so viele drin waren, die ich gern rausgeschmissen hätte, weil sie die Partei mit Opportunismus, Inkompetenz, Autoritätshörigkeit und Stillstand mästeten. Aber ich durfte nicht. „Das geht nicht“, sagten die Genossen aus der Hauptstadt. „Vor der Partei können wir deine Legende nicht verbergen, vor der Partei müssen wir die Hosen runterlassen.“

Magdeburg hat ein immer ausverkauftes Kabarett, und ich habe beste Beziehungen zum Kabarett. So etwas ist Gold wert. Zur Erfüllung unseres Kulturplanes gehen wir jetzt immer ins Kabarett. Einmal geht auch der Direktor mit, weil er nicht ahnen konnte, was er da auszuhalten hat. Das Programm fällt scharf und geistreich über die Agitationsphrasen und primitive Argumentationslogik in der Parteiliteratur her. Wir schlagen uns vor Vergnügen auf die Schenkel, das übrige Publikum ebenfalls. Unser Direktor verläßt empört die Vorstellung. Er erträgt die Wirklichkeit der DDR nicht mehr, sobald sie in Frage gestellt ist.

Als die DDR zusammenbricht, gehe ich zu ihm und frage ihn, was in meiner Kaderakte steht. Er weiß, auf welche Weise ich in den Betrieb eingegliedert wurde, jetzt will ich wissen, was die Kaderakte davon an Informationen enthält. Es ist nicht abzusehen, in wessen Hände die Kaderakten fallen werden.

„Ihre Akte ist völlig normal und unauffällig“, sagt er, während ich sie durchblättere. Als ich gehe, setzt er resigniert hinzu: „Das haben wir alles Gorbatschow zu verdanken.“

Es fällt mir schwer, den allgemeinen ökonomischen und kulturellen Stillstand in der DDR zu erkennen. Ich finde mangelhafte Zustände vor, aber ich habe ihre Prozesse bis zu diesem Tag nicht begleitet, weiß kaum etwas über sie. Ich erfahre den Zustand als neu und darum auch als veränderbar. Das unterscheidet mich von fast allen DDR-Leuten.

Als Hanna weiß, daß ich aus dem Westen komme, fragt sie mich: „Wie findest du die DDR?“ Ich denke lange nach, welche Beschreibung zu meinem Empfinden paßt. «Wie im Pionierstadium», antworte ich. Für mich beginnt der sozialistische Aufbau nicht 1945, sondern 1982. Ich halte alles noch für machbar. Die vierzig Jahre Anstrengung lasten nicht auf meinem Buckel. Ich finde, daß vierzig Jahre erst ein Anfang sein können für den epochalen Versuch, die Menschheit vom Kapitalismus zu befreien. Und ich finde, in der DDR ist schon allerhand geschehen. So ist meine grundsätzliche Haltung zu allen Erscheinungen positiv, unbenommen aller Kritik und meiner Wut über manches. Aber was hatte der Fortschritt dem Kapitalismus denn Besseres als die DDR entrissen? Es gab keine weiterreichende, weiterentwickelte Alternative als diese Republik. Alles, was sich innerhalb des kapitalistischen Systems sozialistisch nennt, ist verbunden und gefangen mit diesem. Ist immer nur gedachte, unerprobte und machtlose Utopie.

„Du redest, als kämest du frisch von der Parteischule“, sagt Hanna lachend, und es klingt, als würde sie sagen: Du bist voller Illusionen über die DDR. Aber ich finde nur, daß alles, was der Sozialismus will, besser ist und mehr Zukunft hat als das, was der Westen will. Hanna ist Direktorin einer POS. Ihr Vater war Fabrikarbeiter und wurde als Soldat im ersten und zweiten Weltkrieg verheizt. Ihre Mutter war Fabrikarbeiterin und erlebte die berufliche Entwicklung ihrer Tochter als ungewöhnliches Glück. Im Westen wäre Hanna wohl auch Fabrikarbeiterin, Verkäuferin oder Friseuse geworden. Hanna ist eines der vielen Beispiele für den kollektiven Aufstieg der Arbeiterklasse in der DDR. Sie findet: Die DDR hat sich gelohnt, mein Leben hat sich gelohnt.

Mein Direktor muß der Belegschaft an jedem Ersten des Monats Rechenschaft über den Stand der Planerfüllung ablegen. Abteilungen, die durchhängen, müssen sich erklären und bekommen Sonderauflagen. Der Direktor ist nicht beliebt. Er führt autoritär und arbeitet bis in den späten Abend in seinem Büro. Er erwartet von seinen Mitarbeitern die gleiche Disziplin und Hingabe an den Betrieb und den Sozialismus.

Mit Macht und unbedingt will die DDR ihren hoffnungslosen Rückstand in der Computerentwicklung aufholen. Alle Abteilungen sollen plötzlich Softwareprogramme entwickeln für ihre Arbeitsabläufe. Schwungweise werden wir zu Lehrgängen in die Betriebsakademie delegiert. Eine große Hektik, ein großes Durcheinander an Aktivitäten bricht aus. Lausmann aus der Versorgung reist durch die Republik auf der Suche nach Programmen, Achim sitzt den ganzen Tag vor dem einzigen Computer in der Hauptabteilung und vergißt alle anderen Termine. Steffi und ich brüten über eigenen Programmen. Wir schütteln den Kopf, unsere Arbeit ist nicht zu programmieren, sie hängt an Personen und Beziehungen. Es gibt ständig Sondersitzungen in Sachen Cad-Cam. Alle sind konfus und unter Druck. Dieses Fieber ist nach einer entsprechenden Direktive der Regierung überall in der Republik ausgebrochen. Als dann das Fluchtfieber beginnt, erlischt das Cad-CamFieber. Die Leute verharren jetzt gebannt und warten auf irgend etwas Wichtigeres.

In einer Diskussion mit den Genossen von der Staatssicherheit beklage ich das niedrige Niveau politischer Analysen in der Parteipresse und anderen Publikationen. Hans bringt mir daraufhin Literatur von der Parteischule mit. Nach zehn Minuten schlafe ich darüber ein. In der Republik wird nicht mehr nachgedacht, da wird nur noch abgeschrieben. Die tagespolitischen Formulierungen ersetzen die theoretisch-geistige Auseinandersetzung. Ich fürchte um die Köpfe der Menschen. Wir können ja den Kapitalismus nicht materiell besiegen, das wird jeden Tag deutlicher. Aber die DDR vernachlässigt auch die Entwicklung der geistigen Waffen gegen ihn. In der Grundsatzerklärung von SED und SPD hat der Sozialismus nur noch hängende Ohren und einen wedelnden Schwanz. Die ökonomischen Zwänge reißen alle Abgrenzungen zur Sozialdemokratie nieder. Dagegen kann sich kein geistiger Widerstand entwickeln, denn es gibt keine kritische Diskussion darüber. Die Partei will die Menschen nicht mehr vom Kommunismus überzeugen, sondern nur noch von sich selbst. Sie hat immer recht.

Der Drang an die kapitalistischen Fleischtöpfe ergreift die Leute. Mit angehaltenem Atem starren die im Land Bleibenden auf das ungarische Szenario. Was wird die DDR-Regierung machen? Die Regierung macht gar nichts, die Partei schweigt. Die Dinge werden sich selbst überlassen. Unser Ferienlager wird im Sommer 1989 von ersten Auflösungserscheinungen gekennzeichnet. Von einem zum anderen Tag verschwinden die Freundschaftsleiter, DDR-Kinder rotten sich gegen die BRD-Kinder zusammen und ziehen durchs Lager: „Bundis raus, Bundis raus.“ Jugendliche aus der Umgebung verwüsten das Gelände. Im Lager wird gesoffen, die ärztliche Versorgung bricht zusammen, der Arzt ist auch auf dem Weg nach Ungarn. Eltern holen die Kinder aus den Ferien und reisen gen Westen. Jeden Tag bekomme ich ein Vorkommnis auf den Tisch. Es ist schon rührend, aber alles wird zur Normalität herunterberichtet. Krise ? Es gibt keine Krise.

Ich bin heilfroh, als der Feriensommer vorüber ist und die Kinder wieder in der Verantwortung der Eltern sind. „Paß auf“, sagt Sigmar, „in den nächsten Jahren werden unsere Kinder auf der Straße herumhängen und in der Pfütze spielen, wie im Westen.“ Genauso ist es.

Jetzt sind es schon Zigtausende, die in den Westen ziehen. Im Betrieb fehlen überall Leute. Die Leiter schauen auf die Partei, die Partei ist sprachlos. In der Belegschaft zeigen sich öffentlich noch keine oppositionellen Bewegungen, aber die Belegschaftsversammlungen verlaufen in angespannter, abweisender Ruhe. Es ist zu spüren, alle warten auf ein Zeichen, eine Gelegenheit, in den heraufziehenden Aufstand gegen die Verhältnisse einzuhaken.

Was in Leipzig die Montags-Demos, sind in Magdeburg die Montagsgebete im Dom. Hanna und ich gehen hin. Es ist brechend voll. Das düstere Dominnere ist mit Kerzen erhellt. Wir drängeln uns durch die Katakombenatmosphäre bis zum Podium. Ein Redner nach dem anderen ergreift das Mikrophon. Es sind tatsächlich nur die Männer. Der Applaus ist frenetisch, wenn die Partei und der Sicherheitsapparat angegriffen werden. Überhaupt wird ständig geklatscht. Die Reden sind aggressiv, sie machen Stimmung. Ein Mann steht stumm unterm Kirchenbogen und hält am Stab ein Plakat über die Köpfe: SED = Verbrecherpartei. Ein Typ im 68er Outfit mit Baskenmütze erobert das Mikrophon. Er geißelt den Sozialismus, das Bildungswesen, stellt sich als Opfer von Parteipolitik und Staatssicherheit dar, ruft die gängigen Parolen: SED raus, Stasi raus, wir sind das Volk … Die Menge trampelt. „Schau an, den kenn ich doch“, sagt Hanna. „Der ist Lehrer, eine pädagogische Null, ein Faulpelz, nichts ist von dem jemals gekommen! Wenn unsere Zukunft jetzt von solchen Charakteren abhängt. Hier spielt er das Opfer. „Wir sind ein Volk“ wird skandiert, und über die Mikrophone erschallt eine tragende, halb singende Stimme. Sie trägt ein Gebet in den aufgeheizten Lärm.

„Komm, laß uns gehen“, flüstere ich. „18. Jahrhundert, hier sind wir die Ketzer.“ Wir drängeln zurück, die unnatürliche Stimme erfüllt den Dom bis in den letzten Winkel und treibt uns dem Ausgang zu.

„Beten wir für die friedliche Vereinigung mit unseren Schwestern und Brüdern in der Bundesrepublik …“ Eine Gruppe schwarzberockter Kirchenmänner verstellt uns den Weg nach draußen. Ich will mich wütend hindurchzwängen, sie pressen einfach ihre Bäuche aneinander und halten mich so in ihrer Mitte fest, dabei schauen sie an mir vorbei, als wäre nichts.

„Zwingt mich nicht in euren Mummenschanz“, zische ich in ihre anonymen Gesichter und bin schon bereit, mir den Weg mit den Fäusten freizuschlagen. Hanna beruhigt mich. Endlich sind wir durch und draußen. Vor der Tür werden faschistische Flugblätter verteilt. Der himmlisch-dramatische Singsang wird mit Lautsprechern auf den Domplatz übertragen, er verfolgt uns noch eine Weile bis in die Stadt hinein. Genauso stelle ich mir die Konterrevolution vor.

Als Erich Honecker abgesetzt wird, geht es auch im Betrieb offen los. Alle neuen politischen Gruppen sind da. Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, Vereinigte Linke, Sozialdemokratische Partei. Das Neue Forum gewinnt die Meinungsherrschaft. Absetzungen von Direktoren und Funktionären wird gefordert, Entpolitisierung des Betriebs, die SED bzw. was von ihr noch übrig ist und die Gewerkschaft werden massiv angegriffen, Teile der Belegschaft legen die Arbeit nieder und ziehen vors Hauptgebäude. Der Generaldirektor rudert angestrengt zwischen den stürmischen Druckwellen und Forderungen umher, gibt hier nach, rettet dort und behält im Ganzen das Heft in der Hand. In den Leitungsetagen sind Angst und Unsicherheit ausgebrochen, wessen Kopf wird als nächster fordert? Es gibt irrationale Anwürfe, wilde anonyme und offene Denunziationen, Mobverhalten. Die Betriebszeitung ist Forum für Vernunft und Unvernunft. Mich regt alles so auf, daß ich meine öffentliche Zurückhaltung in politischen Fragen aufgebe und mich einschalte. Die Illusion, die Sorglosigkeit, mit der alles über Bord gekippt wird, ohne überhaupt einen Begriff davon zu haben, was an seine Stelle treten wird, das lockt mich aus der Reserve, denn ich weiß nur zu gut, was kommen wird. Ich habe auch nichts mehr zu verlieren, denn es gibt keinen Zweifel mehr für mich, daß in wenigen Monaten alle Macht wieder dem Kapitalismus gehören wird.

Für die Betriebszeitung Motor des Karl-Liebknecht-Kombinats schreibe ich folgenden Artikel:

„Nach vorn denken ist gefragt! Kollegin Schnell, Abteilung Sozialwesen, parteilos.“

Im letzten Motor waren vier Beiträge vom Neuen Forum zu lesen, und da hab’ ich den Brief von Peter Schumacher gleich mitgezählt. Ich muß sagen, „sie kotzen mich an“, um mal mit den Worten des Kollegen Killinger zu sprechen. Daß ihr keine Antworten auf die brennenden Probleme unseres Landes, ja nicht mal unseres Betriebes habt, ist bekannt. Bei eurem politischen «Weitblick), der nicht weiter als bis zur nächsten Kreisstelle des ehemaligen MfS reicht, bei eurer beschränkten und verbissenen Anti-SED-PDS-Politik, wundert dies auch keinen denkenden Bürger.

Kollege Killinger, ich möchte behaupten, daß du mit offenen Augen schläfst, wenn du die Möglichkeit eines neuen Schnitzlers, einer Nasi, Stasi etc. heraufbeschwörst. Schau dich mal um, vielleicht bemerkst du, auf welchem Stand die rasante Entwicklung zur Verflechtung mit der BRD bereits jetzt schon ist. Und dies ist erst der Anfang einer nicht mehr umkehrbaren Entwicklung. Einer Entwicklung, die bewältigt werden muß mit gesellschaftlichen Kräften unseres Landes, die in der Lage sind, die damit verbundene Instabilität und das Anwachsen der irrationalen Elemente in Grenzen zu halten. Wenn dies nicht gelingt, dann gibt es in diesem Land bald nichts mehr zu erneuern.

Ich möchte dich in diesem Zusammenhang auf den Artikel in der Volksstimme vom 18. Januar 1990 aufmerksam machen: (… Die Gewalttätigkeiten in der DDR haben nach Worten des ehemaligen hochrangigen USA-Diplomaten George Kennan einen solchen Grad erreicht, daß sich die vier Mächte auf die Notwendigkeit der Etablierung einer Übergangsregierung einrichten sollten … Eine Möglichkeit, Gefahren zu bannen, bestünde darin, daß die vier Mächte USA, UZSSR, Großbritannien und Frankreich die Ordnung in der DDR aufrechterhalten. Die BRD sollte daran beteiligt werden …)

Liebe Kollegen Killinger, Kelch und Weigelt, ich möchte euch angesichts dieser Möglichkeiten raten, eure Stasi-, Nasi- und Verfassungsschutzschubladen zu erweitern um CIA, FBI, BND, Staatsschutz und wie sie alle heißen mögen. Sicherlich werden unsere Bürger dies bald dringender brauchen. Eure kleinkarierte, dümmliche „Politik der Ausnutzung des Volkszorns“ für Ziele, die keinem richtig deutlich werden, geht an den Problemen der gesellschaftlichen Erneuerung völlig vorbei!

Die Gewerkschaftsfrage, ein brennendes Problem, das in der Zukunft mit der Existenzfrage der Werktätigen verknüpft sein wird!

Es sind Wahlen, und die Werktätigen gehen nicht hin. Was ist los mit unseren Werktätigen, haben sie plötzlich den Verstand verloren? Wir gehen mit Meilenstiefeln auf die freie Marktwirtschaft zu. Deutlich: auf den Kapitalismus! Wie wollen sich die Werktätigen ohne gewerkschaftliche Organisation gegen das Kapital behaupten? Es ist abzusehen, daß unsere Betriebe nicht mehr von einem GD geleitet werden, der durch die sozialistische Schule gegangen ist und in seinem Herzen noch einen Zipfel vom Bestreben der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik trägt, sondern von einem knallharten Management, in dem Begriffe wie Kosteneinsparung, Gewinnerwirtschaftung, Profittransfer im Zentrum des Handelns stehen.

Streik heißt auf der Arbeitgeberseite: Aussperrung, Kündigung, Lohnabzug. Keine Gewerkschaft, keine Beiträge, keine Streikkasse. Was habt ihr in diesen Fragen zur Orientierung der Werktätigen beigetragen?

Einen Bärendienst allerdings hat in dieser Frage Peter Schumacher geleistet. Mitten in der Wahl einem mißliebigen Kandidaten für die BGL noch schnell die Beine weggehauen! Bravo! Eine Glanzleistung der Desorientierung und Vergiftung! Die Uniform der Betriebskampfgruppen getragen zu haben ist nichts Ehrenrühriges, oder willst du Hunderttausende Arbeiter gleich mit diskreditieren? Da kann ich als Vertrauensfrau nur froh sein, daß du ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär bist.

Und was das grüne Bändchen angeht: Dahinter steckt lange nicht immer ein Erneuerer. Ich hab’ im Dom und danach auf der Straße massenhaft Träger des grünen Bändchens gehört und gesehen, die sehr gut wußten, wie uralte antimenschliche Triebe wie Lynch- und Henkergelüste zu schüren sind. Der Begriff Chaot wäre da noch eine Liebeserklärung.

Es geht doch darum: nach vorn zu denken, sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten, die jedem Bürger die Existenz sichert!

Unsere U- und S-Bahnhöfe sind nicht dergestalt, daß Arbeits- und Wohnungslose dort nächtigen könnten. Und ich möchte auch nicht die Peinlichkeit erleben, vor unseren Kaufhäusern (oder wem sie dann auch gehören mögen) von einem Mitbürger um ‘ne Mark angebettelt zu werden.

Ich bitte alle politisch Interessierten, darin mitzuwirken, daß Emotionen, die sich nach jahrelanger Frustration und Enttäuschung entladen, wieder in konstruktive, zukunftsorientierte Bahnen kommen. Alles andere ist verantwortungslos und verspielt die Chance, eine wirklich demokratische, humanistische, soziale und antifaschistische Gesellschaft aufzubauen. «

„Mach dich auf was gefaßt“, flüstert Jörg mir am Morgen der Zeitungsausgabe ins Ohr. Er ist viele Jahre der Redakteur und wird es nicht mehr lange bleiben. Seit Monaten ist der Motor das Sprachrohr der neuen politischen Richtungen. Mein Artikel schlägt zu meiner Verblüffung wie eine Bombe ein. Die Zeitung ist um sieben Uhr in den Abteilungen. Es vergeht nur die Lesedauer der zwei Spalten, und mein Telefon beginnt zu schrillen. Den ganzen Tag lang. Unglaubliche Gemeinheiten und Schimpfworte werden in mein Ohr gebrüllt: „Kommunistensau, SED-Hure, Stasispitzel!“ und haßerfüllte Drohungen: „Warte nur, wir erwischen dich … Wir hängen dich an den Baum …“

Zuerst bin ich nur überrascht, kann es gar nicht fassen, dann packt mich die kalte Wut. Keiner sagt seinen Namen, es sind alles nur Männer. «Kommt nur her», brülle ich zurück, „zeigt euch mal, ihr hinterhältigen Typen.“ Ich knalle den Hörer auf. „Feiges Gesindel, Faschistenpack, das vierzig Jahre nichts zu melden hatte und jetzt Morgenluft wittert.“ Ich bin in Rage, und käme einer dieser Typen jetzt ins Büro, würden wir ihm alle zusammen den Mund stopfen.

Meine Kolleginnen stehen aufgeregt hinter mir. «Du gehst heute nicht allein aus dem Betrieb, wir gehen alle zusammen und nehmen dich in die Mitte.»

„Ach was“, beruhige ich sie, «das sind nur feige Maulhelden, die rotten sich nur in der Masse zusammen.»

Aber nicht nur die haben sich gemeldet, viel mehr noch wollten sich bedanken für den Mut, den es, wie sie meinten, kostet, diesen kleinen Artikel zu veröffentlichen. Das hat mich deprimiert. Die Leute hatten schon aufgegeben und Furcht, sich dem brutalen Sog der niederstürzenden Verhältnisse entgegenzustemmen.

In unserem Büro wird nur noch mechanisch gearbeitet. Wir wissen nicht mehr, was morgen noch gültig sein wird. Unser Direktor ist Zielscheibe von Kritik und Hetze. Sein Kopf wird gefordert, es finden sich kaum Verteidiger. Der Generaldirektor will ihn nicht ohne Gegenwehr opfern und beraumt eine große Aussprache für alle Leute aus dem Bereich Bildung und Sozialwesen an. Am Ende sollen die Vertrauensleute für ihr Kollektiv das Votum und die Begründungen bekanntgeben.

Es wird ein schreckliches Tribunal gegen den Direktor, Hauptanklage ist sein diktatorischer Führungsstil und natürlich seine Funktion als Ideologieträger der SED. Die Anklage ist richtig, trotzdem hasse ich das Kesseltreiben, bei dem am lautesten von den vorherigen Bucklern und Wasserträgern gelärmt und geheizt wird. Ich bin Vertrauensfrau und muß für meine Abteilung den Daumen nach unten halten. In dem Votum liegt etwas Richtiges und Notwendiges, aber auch etwas Gemeines, Mobhaftes, und letzteres bringt mich dazu, deutlich zu machen, daß es nicht mein persönliches Votum ist.

Die Hetze der Bonner Politik, der Einbruch der Westwaren und der unbeschreiblich geschlossene Angriff der westdeutschen Medien auf das Innenleben der DDR machen die Leute kopf- und atemlos. Die Partei hat sang- und klanglos alle ihre Positionen im Betrieb geräumt, der FDGB ist in Auflösung begriffen, Betriebsräte nach westdeutschem Muster werden gewählt, die Betriebskampfgruppe ist aufgelöst. Damit hat die Arbeiterklasse alle ihre Organisationen aufgegeben und liefert sich nahezu schutz- und kraftlos den Organisatoren der Profitwirtschaft aus.

Ich hoffe jeden Tag, daß hier und da Bastionen erhalten bleiben. Die Modrow-Regierung macht mir ein paar Wochen Illusionen, aber schnell zeigt sich, daß Bonn fest entschlossen ist, die Herrschaft in der DDR zu übernehmen, und auf keinen Fall eine DDR-eigene Entwicklung zulassen wird. Also keine Unterstützung für die Erneuerung der DDR, sondern letzte Schlacht im 45jährigen Kampf um die Macht. Die DDR wird kurzerhand für bankrott erklärt. Die Westmedien sind bereits die Sieger in der Republik. Sie haben die absolute Meinungsherrschaft. Von allen Seiten wird den DDR-Leuten jetzt klargemacht, daß ihr verschwenderischer Sozialstaat eigentlich schon seit zehn Jahren pleite ist, aber nun in wenigen Tagen wegen Zahlungsunfähigkeit zusammenbrechen wird. Also keine Experimente mehr, Währungsunion und schneller Anschluß als Rettung vor dem drohenden Kollaps, sagt Kohl. Bloß keine demokratische Alternative DDR. Fahrplan und Ziel der DDR-Politik heißt: Abriß, Vernichtung, Auslöschung der DDR. Den Leuten in der DDR darf keine Zeit mehr zum Nachdenken und für autonome Versuche eingeräumt werden. Sie werden jeden Tag mit neuen Enthüllungen, Skandalen und Stasi-Diskussionen beladen, sie und ihr bisheriges Leben werden mit der Macht eines abgebrühten Siegerbewußtseins in den Schlamm gezerrt und unkenntlich gemacht: Es gibt euch nicht, es hat euch nie gegeben. Es hat den Sozialismus nicht gegeben. Ihr wart von Anfang an ein Irrtum der Geschichte. Ihr habt nicht gelebt. Ihr habt umsonst gelebt. Ihr seid betrogen worden, sagen die Sprachrohre des Kapitalismus, aber jetzt kommt das Geld, jetzt kommen die Autos, die Videos. Jetzt kommen die Freiheit und der Wohlstand. Jetzt kommt das Leben. Wer es besser wußte, verstummte in Ohnmacht, aber wohl die Hälfte der Bevölkerung berauschte sich wie an Heroin mit diesen Versprechungen. Sie wählte die «Allianz für Deutschland».

Ich bringe am 18. März die Wahl in meinem Wohngebiet mit über die Bühne. Meine so nette Frau Nachbarin hat mich gebeten, als Wahlhelferin tätig zu sein. Drei Monate später wird sie mich als die gesuchte Terroristin Inge Viett der Polizei melden. Aus Gesetzestreue, wie sie versichern wird. Aus Gesetzestreue wird sie auch vom BKA mein Kopfgeld, 50.000 DM, einfordern.

Am Ausgang der Wahl ist für mich nur interessant, wie viele Leute noch Kommunisten bleiben wollen.

Bevor ich furchtbar enttäuscht, illusionslos, was die weitere Entwicklung bringen wird, in der Nacht vom 18. März 1990 die Augen schließe, rädert zum ersten Mal die konkrete Frage durch meinen Kopf: Wie lange werden sie wohl noch brauchen bis zu meiner Haustür? Was ist noch zu regeln bis dahin?

Einerseits der Rausch, in dem die halbe Republik auf die DM zutaumelt, andererseits die ersten Wellen existentieller Einbrüche. Im Betrieb beginnen die Entlassungen. Frauen, Alte und Schwache zuerst, wie auf dem sinkenden Schiff.

Achim und ich sollen einen Rationalisierungsplan für unsere Abteilung erstellen. Ziel: Personalabbau. Rosi ist 55, jeder weiß, was das bedeutet. „Das können die doch nicht machen, mich einfach rausschmeißen, wenn ich nicht freiwillig geh. Mein halbes Leben hab ich für den Betrieb geschuftet. Nein, Achim wird mich auf keinen Fall rauswerfen.“ Sie ist konfus, sie hat die Entwicklung mit herbeigewählt.

Siegrid macht Halbtagsarbeit in meinem Büro. Sie betreut die Betriebsveteranen. «Ob sie mich rauswerfen? Bestimmt wird mein Arbeitsplatz wegrationalisiert, wen interessieren jetzt noch die Alten? Aber die können mich doch nicht arbeitslos machen.» Sie ist in Panik, nimmt täglich Beruhigungstabletten.

Achim leidet, er bringt es nicht übers Herz zu sagen: Du, du oder du mußt gehen. Ich kann und will nicht in Kategorien von Effektivität und Profit denken. Was sollen wir tun? Wir tun gar nichts und schieben den Plan in den Schreibtisch. Wer weiß, was morgen mit dem SKL und mit unserer ganzen Abteilung ist?

Eine Tochtergesellschaft von Krupp will das SKL haben. Joint-venture ist die neue Zauberformel. Sie erscheint wie ein Schwarm Kometen am Himmel der Restauration, um ebenso schnell wieder zu verlöschen unter den Schleiern von Umschreibungen für die weitere Entwicklung: Abwicklung, Rücküberführung, Warteschleife, Freisetzung … Im Betrieb sollen alle unrentablen Abteilungen aufgelöst werden. Am unrentabelsten sind natürlich die sozialen und kulturellen Einrichtungen. Die Kinderferienlager sollen als erstes abgestoßen und verkauft werden, unser Kulturhaus wird privatisiert und entleert sich mit seinem neuen Namen auch jeden Inhalts. Es heißt jetzt „AMO“. Am Markt Orientiert. Eine Spitzen-Wende-Leistung

In diesem Auflösungszustand organisieren wir trotzdem den nächsten Feriensommer, ohne zu wissen, welche kommunalen Einrichtungen noch arbeiten werden, wer noch Verträge einhalten wird, was morgen noch gültig sein wird.

Die Geräusche des Lebens kriegen unaufhaltsam einen anderen Klang. Überall ist jetzt das Schrillen von Verwirrung und das dumpfe Stöhnen der Ohnmacht. Überall der dröhnende Triumph der Sieger, da, wo sich das neue Uralte über das Zusammenbrechende, Schwindende wälzt. Die DDR wird untergepflügt, und die kapitalistischen Kulturen breiten sich aus wie Unkraut.

Hanna soll als Direktorin abgesetzt werden. Sie ist «systemnah». Sie kämpft nicht mehr um ihre Funktion, da macht sie sich keine Hoffnung auf das Kommende. Die Verwaltung des Bildungswesens ist bereits in Händen der CDU. Rigoros werden sozialistische Inhalte getilgt und durch konservativ-bürgerliche ersetzt.

Flucht ist für mich keine Alternative, obwohl ich sicher bin, daß sich sehr bald die Mündungen von MPs auf mich richten werden und jemand schreien wird: «Keine Bewegung, Sie sind verhaftet!« Mir ist, als ginge ein Zeitalter unter, zu dem ich gehöre. Diesem Untergang kann ich nicht entfliehen. Wohin auch? Und wofür noch? Der Kapitalismus ist überall. Eine Flucht vor dem drohenden Gefängnis wäre eine Flucht in die völlige Zusammenhanglosigkeit. Ins politische, geschichtliche und persönliche Niemandsland. Illegalität hat nur einen Sinn als politische Position, als Fluchtort vor der Justiz ist sie schlimmer als das Gefängnis, weil sie mich als politische Person auslöscht und mir ein Leben aufzwingt, in dem es nichts mehr zu tun gibt, als für die Nicht-Entdeckung meiner Person zu sorgen. Nein, eine zukünftige Fluchtexistenz kommt für mich nicht in Frage, lieber stelle ich mich der unaufhaltsam näherrückenden Verhaftung. Aber ich bin auch viel zu sehr beschäftigt mit den Prozessen meiner Umwelt, um mich innerlich richtig darauf vorbereiten zu können. Ich lasse es auf mich zukommen.

Dann trifft es zuerst Susanne Albrecht. Die Medien toben und verkochen ihre Entdeckung als sensationellen Beweis für das „verbrecherische Wirken“ des MfS. Die Hetze ist unbeschreiblich. Die Leute kommen mit der Bildzeitung in mein Büro: „Stell dir das mal vor, sogar Terroristen haben bei uns gelebt.“

Am Abend bin ich bei einer Bekannten. Mein Fahndungsfoto erscheint groß in den Nachrichten. Ich verschütte vor Schreck die Milch und lenke hastig vom Fernseher ab.

Der Countdown läuft. Wir fahren sehr spät nach Haus. Hanna ist bei mir. Auf dem Weg zur Wohnung wird eine alte Sensibilität in mir wach. Nur als Ahnung, die nicht voll ins Bewußtsein dringt. Dort, wo wir den Stadtring verlassen und in mein Wohngebiet fahren, überholt uns ein mit jungen Männern vollbesetzter Lada. Ich nehme ihn wahr mit dem Hauch eines Beschattungsgefühls. Es ist gleich wieder weg, nur das Aufblitzen einer fast verlorenen Erinnerung aus früherer Zeit. Langsam suche ich den Parkplatz nach einer Lücke ab. Es ist alles besetzt, aber dann rollt ein Wagen aus der Reihe und fährt verschwand ich doch noch eher, als sie verschwinden würden. davon. Wieder zieht ein Atemzug lang diese Ahnung durch meinen Kopf, aber ich freue mich, daß ein Platz frei wird, parke ein. Wir gehen ins Haus, Hanna eine Treppe tiefer, um den Fahrstuhl zu holen, ich will noch schnell den Briefkasten leeren. Dann sind sie da! Vor dem Fahrstuhl Getrampel und Getöse, etwas klirrt zu Boden, es ist Hannas Brille. Ich höre sie schreien: „Hilfe, Polizei, Überfall!“ und „Was fällt Ihnen ein!“. Bevor ich mich umsehen kann, fühle ich die Mündung der Maschinenpistole an meinem Kopf. „Rühren Sie sich nicht! Sie sind verhaftet!“

Es ist der 12. Juni 1990.

Noch gab es die DDR, und darum kämpfte ich tapfer wie Don Quichotte gegen eine Auslieferung in die Bundesrepublik. Die DDR-Staatsanwältin lächelte schwach über mein Beharren auf der Souveränität der DDR. Die Marionettenregierung unter de Maizière regelte gerade die Auslieferung von 17 Millionen DDR-Bürgern an Bonn, was hatte ich da noch zu erwarten? Der DDR-Richter zuckte müde die Schultern, als ich um die Erläuterung der Paragraphen aus dem BRD-Haftbefehl bat. Er kannte sie nicht. Es waren die Strafgesetze der Bundesrepublik.

„Sie haben keine gesetzliche Grundlage, mich auszuliefern“, sagte ich empört. „Ich bin Bürgerin der DDR.“ Er stimmte mir zu. Aber das bedeutete schon nichts mehr. Seine Kompetenzen waren nur noch die einer Schreibkraft. Inoffiziell war die DDR schon seit dem Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ abgeschafft.

Weil ich nicht freiwillig in den Westen wollte, traten nach vier Wochen DDR-Inhaftierung fünf schwerbewaffnete Männer um sieben Uhr früh in meine Zelle und erzwangen meinen Transport nach Westdeutschland.

Vom Hubschrauber aus schaute ich in die wolkenlose Tiefe und nahm Abschied von den weiten Kollektivfeldern. Nun verschwand ich doch noch eher, als sie verschwinden würden.

Es war für viele Jahre mein letzter Blick auf ein reifendes Kornfeld.

Ich war ausgepumpt, leer und nahm in angespannter Gleichgültigkeit und harter innerer Distanz den ganzen neurotischen Terrorismus-Rummel hin. Er hatte sich mit einem sinn- und grundlosen Aufwand, einer Routine auf mich geworfen, daß ich mich in eine andere Zeit katapultiert fühlte. Diese funktionierende Maschine, das war für die BRD. Jetzt hatte ich sie wieder auf dem Hals. Tag und Nacht, ohne ihr entrinnen zu können.

Sie hatten mich mit institutionell vorbereiteter Feindseligkeit in Westdeutschland empfangen. Stahltore, Stahltüren öffneten und schlossen sich. Hautnahe Bewachung klebte an jedem meiner Schritte. Keine Bewegung meines Körpers blieb unbemerkt.

Ich wartete darauf, endlich in eine Zelle gebracht zu werden, um den Troß feindlicher, fremder Körper von mir abtrennen zu können. Zwei Wärterinnen standen vor mir. Ausdruckslos die eine, herausfordernd die andere. Leise auf den Fersen wippend, schlug sie mit leichten drohenden Schlägen den Gummiknüppel in ihre linke Handfläche, starrte mich an mit der provokanten Sicherheit staatlicher Überlegenheit. Ich wandte ihr den Rücken zu, verzichtete darauf, ihr zu sagen, wie lächerlich ihre Aufrüstung gegen mich war. Ich beschloß, daß eine Verständigung mit diesen angesammelten Vorstellungen von mir als Terroristin ungemein viel emotionale Disziplin kosten, aber unerläßlich sein würde, um diese irrationale Atmosphäre gegen mich einzugrenzen. Wir waren Welten voneinander entfernt. Ihre war mir bekannt, das war ein Vorteil, von meiner hatten sie nur einen kriminellen Begriff. Die Ordnung ihrer Welt und ihrer Vorstellungen würde sich jetzt für viele Jahre über mich stülpen, würde mich entprivatisieren und meine eigenen Lebensangelegenheiten als Unordentlichkeit bekämpfen. All mein Persönliches würde sie stören, es würde zwischen diesen Mauern immer illegal sein. Trotzdem würde ich mein Leben für mich organisieren müssen in diesem Apparat, würde mir kleine Oasen als eigenen Raum schaffen müssen. Dies dachte ich, während ich entkleidet, durchsucht und mit der Gefängnishabe beladen wurde. Eine Schüssel, eine Kanne, ein Löffel, eine Tasse … usw. Die Zumessung des Unpersönlichen.

Endlich war ich allein in der Zelle und betrachtete prüfend meine neue Gesellschaft. Tisch, Stuhl, Schrank und Bett schauten mich kühl, aber nicht unfreundlich an. Das Fenster, so groß wie in noch keinem Gefängnis, umarmte mich gleich tröstend, obwohl es nicht mehr als die Tristesse einer grauen Mauer mit Stacheldraht zu geben hatte. Immerhin ließ es die Sonne herein und möblierte den Raum mit den Schatten der Gitter. Weil es sowieso sein mußte, nahm ich entschieden und schnell die Zelle in meinen Besitz. Ich wollte versuchen, diesen kleinen Raum zu meiner Burg und auch zu meinem Schneckenhaus zu machen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Edition Nautilus

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