Zum 200. Geburtstag von Georg Weerth

Poet eines neuen Menschenbilds

Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, war von rheinischen Eltern in Detmold geboren, wo sein Vater geistlicher Superintendent war. Als ich mich 1843 in Manchester aufhielt, kam Weerth als Kommis seiner deutschen Firma nach Bradford, und wir verbrachten viele heitere Sonntage zusammen. 1845, als Marx und ich in Brüssel wohnten, übernahm Weerth die kontinentale Agentur seines Handlungshauses und richtete es so ein, dass er sein Hauptquartier ebenfalls in Brüssel nehmen konnte. Nach der 1848er Märzrevolution fanden wir uns alle in Köln zur Gründung der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘ zusammen. Weerth übernahm das Feuilleton, und ich bezweifle, ob je eine andere Zeitung ein so lustiges und schneidiges Feuilleton hatte.“ So Friedrich Engels Ende Mai 1883 über seinen Freund Georg Weerth.

1836 begann Weerth eine Kaufmannslehre. In der Firma seines Onkels in Bonn lernte er etwas später Industrie und Handel des Rheinlands sowie ihre Kapitäne kennen. Schon im nächsten Jahr ging er in die Industriestadt Bradford und machte Bekanntschaft mit Engels. Durch ihn und eigene Beobachtung erlebte Weerth den bereits weiter entwickelten englischen Kapitalismus sowie die Klassenkämpfe des organisierten Proletariats.

Mit Engels, der damals an „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ arbeitete, sah Weerth die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und identifizierte sich mit den klassenbewussten Proletariern. Durch Engels lernte Weerth die Ideen des Frühsozialismus und Führer der englischen Arbeiterbewegung kennen sowie 1845 auch Marx; er knüpfte Kontakt mit dem revolutionären Flügel der Chartistenbewegung. All das führte zu einer grundlegenden weltanschaulichen Einsicht: Nicht nur galt es, das Elend der arbeitenden Klasse als Kehrseite des enormen technischen Fortschritts zu begreifen, sondern auch, dass diese Klasse dazu bestimmt war, den Kapitalismus zu stürzen. 1845 zog er nach Brüssel und arbeitete hier mit Marx und Engels für die deutsche „Brüsseler Zeitung“. 1847 wurde er Mitglied des Bundes der Kommunisten.

Schon 1845 stellt Weerth in der Skizze „Das Blumenfest der englischen Arbeiter“ keine abgestumpften Industriearbeiter dar, sondern selbstbewusste Proletarier. Es entsteht erstmals in deutscher Literatur ein neues Menschenbild, das direkt aus dem Erlebnis des kämpfenden Proletariats entsteht: Arbeiter als klassenbewusste, kämpfende Menschen mit einem entwickelten ästhetischen Sinn:

„In der Schenke ‚Zur alten Hammelsschulter‘ öffnete man aber die Fenster, denn die Nacht war gar zu köstlich. Die Sterne funkelten so lustig, als freuten sie sich über die armen kleinen Menschen da unten auf der Erde, über die Arbeiter in Yorkshire, die trotz aller Tyrannei dennoch so herrliche poetische Feste feiern.

Jawohl, poetische Feste! – Denn ist ein Blumenfest englischer Arbeiter (…) von um so viel größerer Bedeutung, weil es ohne allen äußern Anlass aus dem Volke entsprungen ist. Darin liegt denn auch ein Beweis, dass der Arbeiter neben seiner politischen Entwicklung noch einen Schatz von warmer Liebe für die Natur in seinem Herzen bewahrt hat, eine Liebe, welche die Quelle aller Poesie ist und die ihn einst in den Stand setzen wird, eine frische Literatur, eine neue, gewaltige Kunst durch die Welt zu führen.“

Mit historisch-materialistischem Verständnis fasst Weerth hier bildhaft die dem Proletariat inhärente Kraft als industrielles, kämpferisches wie auch als ästhetisches Vermögen, als Kraft der Zukunft.

Weerths Lieder und Gedichte gehören zur besten Lyrik des Vormärz. Nochmal Engels: „Worin Weerth Meister war, worin er Heine übertraf (weil er gesunder und unverfälschter war) und in deutscher Sprache nur von Goethe übertroffen wird, das ist der Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust.“

In seinem Gedicht „Die Industrie“ artikuliert Weerth den Doppelcharakter kapitalistischer Industrie: Auf der einen Seite „sitzt sie auf dem finstern Thron,/Und geißelnd treibt zu unerhörter Fron,/Tief auf der Stirn des Unheils grausen Stempel,/Den Armen sie zu ihrem kalten Tempel!“. Gleichzeitig ist sie es, die die Waffen für die Befreiung produziert: „Und wer sie schmieden lernte, Schwert und Ketten,/Kann mit dem Schwert aus Ketten sich erretten!“ Befreit, nimmt diese Industrie einen neuen Charakter an, und sie selbst erscheint als Vorbedingung ihrer eigenen Befreiung: „Verwandelt steht die dunkle Göttin da –/Beglückt, erfreut ist Alles, was ihr nah!/Der Arbeit Not, die niemand lindern wollte,/Sie war’s, die selbst den Fels beiseite rollte!“

Letztendlich ist dieser Befreiungskampf die Voraussetzung einer freien Gesellschaft, in der mit der die Freiheit die entfesselte Sinnlichkeit der Menschheit erreicht wird: „Und die Natur mit zaubervollem Kusse/Lockt die Lebend’gen fröhlich zum Genusse!“

Wie schon „Das Blumenfest der englischen Arbeiter“ geht auch Weerths Lyrik über die Darstellung des Elends hinaus, zeigt die klassenbewusste Arbeiterklasse, deren Menschlichkeit und Kraft. Sein Gedicht „Sie saßen auf den Bänken“ hat die Reaktion englischer Arbeiter auf den schlesischen Weberaufstand zum Gegenstand:

Sie saßen auf den Bänken,
Sie saßen um ihren Tisch,
Sie ließen Bier sich schenken
Und zechten fromm und frisch.
Sie kannten keine Sorgen,
Sie kannten kein Weh’ und Ach,
Sie kannten kein Gestern und Morgen,
Sie lebten nur diesen Tag.

Sie saßen unter der Erle –
Schön war des Sommers Zier.
Wilde, zorn’ge Kerle
Aus York und Lancashire.
Sie sangen aus rauhen Kehlen,
Sie saßen bis zur Nacht,
Sie ließen sich erzählen
„Von der schlesischen Weberschlacht“.

Und als sie Alles wussten, –
Thränen vergossen sie fast.
Auffuhren die robusten
Gesellen in toller Hast.
Sie ballten die Fäuste und schwangen
Die Hüte im Sturme da;
Wälder und Wiesen klangen:
„Glück auf, Silesia!“

Weerth stellt hier selbstbewusste, sinnliche Proletarier mit einem internationalistischen Begreifen ihrer gemeinsamen Sache mit den schlesischen Webern dar. Beide Gedichte sind aus der Perspektive des kämpfenden und siegesbewussten Proletariats geschrieben und bestärken dieses Klassenbewusstsein.

Aus dem deutschen Handelsleben

1846/47 nahm Weerth ein Romanprojekt in Angriff – eine zeitgenössische Darstellung der deutschen Gesellschaft. Anhand von drei Familienchroniken und aus der Perspektive der Arbeiterbewegung plante er, den fortschreitenden Kapitalismus und die Entwicklung der Arbeiterklasse zum Klassengegner der Bourgeoisie darzustellen. Doch gelang ihm dieser große Wurf, seine marxistischen Einsichten künstlerisch umzusetzen, letztendlich nicht.
Eine Figur des Romans, die des Herrn Preiss, überlebt jedoch in „Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben“, Weerths reifstem Prosawerk. Preiss kennt nur eine Devise: Geld machen. Hier hört jede Menschlichkeit auf. Durch die Konfrontation mit der Märzrevolution wird Preiss zu einer komischen Figur. Ihm graut vor der Revolution, die seine kommerziellen Interessen bedroht, er passt sich den wechselhaften Schicksalen der Zeit jeweils an, um seine finanziellen Interessen zu sichern und rechnet letztendlich mit einem Ministerposten. Die Skizze endet: „Auf das ganz unbegründete Gerücht hin, dass der Herr Preiss Ministerpräsident werde, warfen ihm rohe Proletarier aber noch selbigen Abends die Fenster ein.“

Erneut vermittelt Weerth eine historisch-optimistische Perspektive der Gegenwehr des Proletariats, der Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Revolution ist eben noch nicht vorbei. Preiss’ Verspottung zeigt die vermeintliche Schwäche der Herrschenden, ihre Überwindbarkeit, im Lachen über sie ist man der eigenen Befreiung ein Stück näher.

Das Feuilleton als politische Waffe

Im Februar 1848 ging Weerth nach Köln und arbeitete in der von Marx geleiteten „Neuen Rheinischen Zeitung“. Das Feuilleton, das sich in dieser Zeit auch in Deutschland wachsender Beliebtheit erfreute, wurde für Weerth zu einem Mittel im politischen Kampf.

071102 Zyklus Weerth 3 - Poet eines neuen Menschenbilds - Das Blumenfest der englischen Arbeiter, Friedrich Engels, Georg Weerth, Karl Marx, Neue Rheinische Zeitung, Vormärz - Kultur
Weerth-Zyklus von Robert Diedrichs, Blatt Drei. (Bild: Robert Diedrichs)

Weerths wohl bekanntester Beitrag ist der zwischen August 1848 und Januar 1849 erschienene satirische Roman „Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski“, der erste deutsche Feuilletonroman. Die politische Satire zielt auf das preußische Junkertum und dessen konterrevolutionäre Umtriebe. Vorbild ist Fürst Lichnowski, den Heine bereits in Atta Troll als Schnapphahnski aufs Korn nimmt. Lichnowski vertrat 1848 als Abgeordneter im Frankfurter Parlament die zutiefst reaktionären Interessen der preußischen Junker.

Engels dazu: „Diese Schnapphahnski-Feuilletons sind 1849 bei Hoffmann u. Campe gesammelt als Buch erschienen und noch heute äußerst erheiternd. Da aber Schnapphahnski-Lichnowski am 18. September 1848 mit dem preußischen General von Auerswald (ebenfalls Parlamentsmitglied) die den Frankfurter Barrikadenkämpfern zuziehenden Bauernkolonnen spionieren ritt, bei welcher Gelegenheit er und Auerswald von den Bauern verdientermaßen als Spione totgeschlagen wurden, richtete die deutsche Reichsverweserschaft eine Anklage gegen Weerth wegen Beleidigung des toten Lichnowski, und Weerth, der längst in England war, bekam drei Monate Gefängnis, lange nachdem die Reaktion der ‚N. Rh.Ztg.‘ ein Ende gemacht hatte. Diese drei Monate hat er denn auch richtig abgesessen, weil seine Geschäfte ihn nötigten, Deutschland von Zeit zu Zeit zu besuchen.“

Nach kurzzeitiger Unterbrechung aufgrund des Verleumdungsverfahrens gegen die Zeitung erschienen neue Episoden ab Dezember 1848 mit dem Hinweis, dass Schnapphahnski nicht etwa nur einen bestimmten Adligen meint, sondern das preußische Junkertum generell.

Der Roman endet: „Ja, vorüber war die große kölnische Domfarce, bei der all die hohen Herrn mit den schönsten Phrasen im Munde, aber den Groll im Herzen, unter dem Jubel des törichten Volkes all die feinen Pläne ersannen, welche bald in den standrechtlichen Erschießungen Wiens, in der Oktroyierung der preußischen und österreichischen Verfassung und in dem Lächerlichwerden der Frankfurter Versammlung so treffliche Früchte tragen sollten.

Ja, vorüber war dies Fest des widerlichsten Kokettierens mit dem dummen souveränen Michel, und wir würden vielleicht noch darüber lachen, wenn uns durch den schimmernden Haufen dieser ‚volksfreundlichen‘ Fürsten, dieser feilen Knechte und dieser düpierten Volksrepräsentanten nicht die kugelzerrissenen Leichen der Proletarier von Paris, von Wien und Berlin angrinsten, wenn durch dieses Gewirr der heuchlerischsten Versicherungen, der schamlosesten Lügen nicht die Sterbeseufzer der zertretenen Polen, der Hilferuf der gefolterten Ungarn und der Racheschrei der verwüsteten Lombardei zu uns herübertönten, wenn nicht das blutige Haupt eines Robert Blum vor unsre Füße rollte – doch genug! der Humor ist versiegt; das Buch ist zu Ende.“

Dieser Feuilletonroman führt die Tradition literarischer Publizistik Börnes und Heines fort, die mit Weerth ihren bedeutendsten Höhepunkt erreicht. Mit Weerth vollzieht sich in Deutschland der Übergang zur sozialistischen Literatur.

Nach der Konterrevolution resignierte Weerth und begann wieder im Handel zu arbeiten. Engels dazu: „1850/51 reiste er im Interesse einer anderen Bradforder Firma nach Spanien, dann nach Westindien und über fast ganz Südamerika. Nach einem kurzen Besuch in Europa kehrte er nach seinem geliebten Westindien zurück.“

Weerth korrespondierte weiterhin mit Marx und Engels, starb jedoch, nur 34-jährig, 1856 in Havanna an Gelbfieber.
Engels noch einmal: „Dabei unterschied er sich von den meisten Poeten dadurch, dass ihm seine Gedichte, einmal hingeschrieben, total gleichgültig waren. Hatte er eine Abschrift davon an Marx oder mich geschickt, ließ er die Verse liegen und war oft nur schwer dazu zu bringen, sie irgendwo drucken zu lassen.“ Nur während der „Neuen Rheinischen Zeitung“ war das anders. Warum, zeigt folgender Auszug eines Briefes von Weerth an Marx, Hamburg, 28. April 1851:

„Ich habe in der letzten Zeit allerlei geschrieben, aber nichts beendigt, denn ich sehe gar keinen Zweck, kein Ziel bei der Schriftstellerei. Wenn Du etwas über Nationalökonomie schreibst, so hat das Sinn und Verstand. Aber ich? Dürftige Witze, schlechte Spaße reißen, um den vaterländischen Fratzen ein blödes Lächeln abzulocken – wahrhaftig, ich kenne nichts Erbärmlicheres! Meine schriftstellerische Tätigkeit ging entschieden mit der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘ zugrunde. (…)

Wir haben uns nicht kompromittiert. Das ist die Hauptsache! Seit Friedrich dem Großen hat niemand das deutsche Volk so sehr en canaille behandelt wie die ‚Neue Rheinische Zeitung‘. Ich will nicht sagen, dass dies mein Verdienst war; aber ich bin dabei gewesen …“

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"Poet eines neuen Menschenbilds", UZ vom 18. Februar 2022



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