Warum die „postneoliberale Transformation“ nicht stattfindet – Blick in die neue „Z.“

Rechtsruck nüchtern beurteilt

Von Lucas Zeise

Die aktuelle Ausgabe der Z.:  „Rechtsentwicklung in Europa“, Z. Nr. 112, Dezember 2017 Einzelheft 10 Euro. Zu bestellen bei: www.neue-impulse-verlag.de

Die aktuelle Ausgabe der Z.: „Rechtsentwicklung in Europa“, Z. Nr. 112, Dezember 2017 Einzelheft 10 Euro. Zu bestellen bei: www.neue-impulse-verlag.de

Die Redaktion der Zeitschrift „Z. – Marxistische Erneuerung“ nimmt im neuen Heft eine politische Lagebeurteilung der Bundesrepublik im Licht der Bundestagswahlen vor. Die Autoren Jörg Goldberg, André Leisewitz, Jürgen Reusch und Gerd Wiegel konstatieren angesichts des Erfolges von FDP und AfD einen Rechtsruck. Das werde auch nicht dadurch relativiert, dass auch die CDU/CSU gegenüber diesen Parteien stark verloren hat, denn wenn man das Wahlergebnis nach Blöcken aufteile, so habe der aus diesen vier Parteien bestehende rechte Block gegenüber dem linken Block aus SPD, Grünen und Linkspartei im Vergleich zur vorigen Wahl die Mehrheit gewonnen. Die AfD kann nach Meinung der Autoren als „Verselbstständigung einer politischen Tendenz am rechten Rand der Union zu einer eigenständigen Partei“ gewertet werden, deren „Führungspersonal sich aus dem rechtskonservativen Spektrum von CDU/CSU, aus rechten Bewegungen und rechtsextremen bis neofaschistischen Kleinparteien und Gruppen speist“.

Wie kommt es, dass bei der relativ positiven Wirtschaftsentwicklung anders als üblich die Regierungsparteien massiv abgestraft wurden, fragen sich die Autoren. Die Antwort darauf ist nicht absolut neu, aber plausibel. Man sollte sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Die in Umfragen ermittelte Zufriedenheit der Mehrheit mit ihrer ökonomischen Lage habe eben einen ansehnlichen Teil der Menschen nicht erfasst. Sie hätten Grund für Angst vor sozialem Abstieg und Angst, die Modernisierungsverlierer zu sein. Das Gefühl, von den Modernisierern, dem Regierungskartell, belogen und betrogen zu werden, sei besonders in Ostdeutschland weit verbreitet und nach den Erfahrungen der Menschen mehr als verständlich. Dass sich dieses Gefühl rechts und anlässlich des Umgangs mit den Flüchtlingen äußere, habe auch damit zu tun, dass besonders die Regierungsparteien dieses Thema in Verbindung mit Terrorismus und innerer Sicherheit in enger Zusammenarbeit mit den Leitmedien gerade im Wahlkampf zum bestimmenden gemacht haben.

Ein Aufsatz von Klaus Dräger (Frankfurt) resümiert die Wahlen 2015 bis 2018 in anderen europäischen Ländern. Auch da Rechtsruck allerorten – mit den bemerkenswerten Ausnahmen von Portugal und Britannien. Im Ergebnis hätten die Wahlen die Konsequenz gehabt, dass der dominierende Kurs des Neoliberalismus ungebremst fortgesetzt werden konnte. Dräger weist zu Recht darauf hin, dass die etablierten Parteien im Regelfall nur wenig zögern, mit den neuen Formationen weiter rechts gemeinsame Sache zu machen und sie in das etablierte Politiksystem einzubeziehen. Er führt dazu die frühen Beispiele in Italien und Österreich und die mittlerweile mehrfach erprobte Praxis in einigen skandinavischen Ländern an.

Ein zweiter Schwerpunkt des Heftes wird etwas mühsam unter dem Titel „Weltwirtschaft, G20 und die Nationalstaaten“ zusammengefasst: Zunächst befasst sich dabei Jörg Goldberg, wie er es regelmäßig tut, mit dem aktuellen Zustand der Weltwirtschaft. Das ist auch dieses Mal sehr lesenswert. Nicht schlüssig scheint allerdings seine Auffassung, dass die allseits beklagte Wachstums- und Investitionsschwäche der alten kapitalistischen Zentren nicht in erster Linie auf die vom Neoliberalismus beförderte sinkende Lohnquote und den schlanken Staat zurückzuführen sei. Erstaunlich ist diese Position auch deswegen, weil Goldberg keine plausible andere Erklärung dafür angibt. Goldberg konstatiert, dass sich das Wachstum wichtiger Schwellenländer wie Brasilien und Russland nach einer Krise wieder beschleunigt hat. Der Trend jedenfalls „zur Verschiebung der globalen Produktionsstrukturen zugunsten der Schwellen- und Entwicklungsländer und zu Lasten der entwickelten Länder“ setze sich fort, stellt der Autor fest.

Sehr eigenartig liest sich der Aufsatz von Andrés Musacchio (Buenos Aires/Bad Boll) mit dem Titel „Machtverschiebung, internationale Konkurrenz und die postneoliberale Transformation: Welche Rolle spielt die G20?“. Der Autor konstatiert, dass mit der Krise 2007 die wirtschaftliche Grundlage, das neoliberale Modell, „offensichtlich erschöpft“ sei. Es entwickelten sich „neue Formen der Ausbeutung“. Noch sei „kein neues stabiles Modell entstanden.“ Musacchio scheint zu meinen, dass die G20 bei der Etablierung eines solchen Modells die Führung übernehmen könnten. Es werde aber deutlich, dass es dabei „nicht um die langfristige Planung einer neuen nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft“ gehe. Spätestens seit dem Gipfel von Brisbane 2014 sei deutlich, dass die neoliberale Agenda weiterverfolgt werde. Die vom Autor gestellte Frage „Entsteht eine neue Ordnung?“, beantwortet er selbst mit einem verschwommen formulierten Nein, jedenfalls nicht durch die G20.

Dieter Boris (Marburg) schildert in „Ende oder Neuauflage von NAFTA?“ die Wirkungen dieses größten Freihandelsabkommens zwischen Kanada, USA und Mexiko: Die Deindustrialisierung der USA wurde gefördert, ein Punkt, den Donald Trump in seinem Wahlkampf aufgegriffen hat und der nun im Zuge von „America first!“ geändert werden soll. NAFTA hat vor allem aber die Landwirtschaft Mexikos weitgehend zerstört und damit auch die Emigration der Landbevölkerung in die USA gefördert. Dass es im Zuge der von Trump angestoßenen Neuverhandlungen des Vertrages zu einer Besserung kommt, hält Boris für ziemlich unwahrscheinlich.

Sehr lesenswert ist Peter Wahls (Berlin/Worms) Aufsatz „Wie nationalistisch ist der Nationalstaat“. Wahl argumentiert nicht explizit, aber weitgehend marxistisch und unterscheidet der Sache angemessen zwischen Nation, Nationalstaat und Nationalismus. Nation allerdings ist bei Wahl als „Verdichtung kommunikativer Prozesse“ … und … „kollektiver Identität“ definiert. Das bleibt vor der historisch-materialistischen Betrachtungsweise stehen, wonach sich in der Nation reale Klasseninteressen manifestieren. Das hatte schon Hoffmann von Fallersleben im frühen 19. Jahrhundert erkannt, der den Zollverein als Ausdruck der Nation ironisch preist. Nation ist eben nicht nur Idee, sondern ganz wie die Gesellschaft selber gesellschaftliche Realität.

Wie immer enthält die neue Z.-Ausgabe interessante Tagungsberichte und viele nützliche Buchrezensionen. Unter den sonstigen Aufsätzen seien herausgegriffen der halbjährliche „Streikmonitor“ für das erste Halbjahr 2017 sowie ein Vortrag des Arbeitsrechtlers Rolf Geffken (Hamburg) zur „Gewerkschaftspolitik in Ostdeutschland in den frühen 90er Jahren“. Der Vortrag sollte auf einer Tagung „Ostwind“ im Juni 2017 gehalten werden, was aber nicht geschah. Sowohl der nicht gehaltene Vortrag selbst als auch Geffkens Nachbemerkung dazu sollten Pflichtlektüre für jeden sein, der sich ein wenig über gewerkschaftliche Kämpfe, die Strategien des Kapitals und die Illusionen über das westdeutsche bzw. gesamtdeutsche Rechtssystem informieren will.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Rechtsruck nüchtern beurteilt", UZ vom 15. Dezember 2017



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