„Der Geist von ’68“ und Dokumentarfilme aus Mittel- und Osteuropa

Sehenswertes auf der Berlinale

Von Hans-Günther Dicks

Es soll Menschen geben, die sich schon am 12. Februar mit Schlafsack in den Arkaden am Potsdamer Platz in Berlin einquartiert haben, um als erste an den Vorverkaufsschaltern der heute beginnenden Berlinale zu stehen. UZ-Leser haben vermutlich Wichtigeres zu tun, auch wenn ein Programmteil des Festivals unter der kühnen Forderung „Rote Fahnen für alle!“ steht. Dahinter verbirgt sich eine Reihe deutschsprachiger Kurzfilme der 1960er Jahre, die dem rebellischen Geist der „68er“ nachspüren will. Sie tut dies vor allem in ihren filmischen Ausdrucksformen, deren künstlerische Sprengkraft gegen das verstaubte „Papas Kino“ heutige Zuschauer kaum mehr ahnen. Die Betonung des Experimentellen, die zudem wichtige Beispiele politisch eingreifender Filme z. B. von Harun Farocki u. a. auslässt, macht den Titelslogan allerdings zum puren Etikettenschwindel.

An den Geist der „68er“ erinnerte auch Festivaldirektor Dieter Kosslick bei der Vorstellung des Hauptwettbewerbs und der Berlinale-Specials am Beispiel von Fernando Solanas‘ „Die Reise zu den vergifteten Dörfern“, der als Special gezeigt wird. Sachlich und ohne Pathos schildert der heute 82-jährige Argentinier seine Reise auf den Spuren von Monsanto und Glyphosat in seinem Land – mit einer Nüchternheit, die den aufwühlend revolutionären Geist seines 1968 (!) entstandenen Meisterwerks „Die Stunde der Hochöfen“ allenfalls erahnen lässt. Im Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Bären stehen 19 Filme, ergänzt um weitere fünf, die „außer Konkurrenz“ laufen. Eröffnet wird der Wettbewerb heute Abend mit „Isle of Dogs“ von Wes Anderson, einem Animationsfilm über einen Jungen auf der Suche nach seinem Hund. Ein sicherlich brisanter Titel kam erst ganz zum Schluss in die Konkurrenz, nämlich Erik Poppes „Utøya – July 22“ über den norwegischen Rechtsterroristen Erik Brejvik und sein Massaker an linken Jugendlichen. Mit vier Titeln ist das Gastgeberland diesmal recht stark vertreten, darunter Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“, der eine Episode aus dem Leben Romy Schneiders aufgreift, und Thomas Stubers „In den Gängen“, dessen Liebesgeschichte sich in der Arbeitswelt, genauer: in den Gängen eines großen Warenlagers abspielt. Besonders gespannt sein darf man auf Christian Petzolds Spielfilm „Transit“, der den Stoff von Anna Seghers‘ berühmten Roman aus dem Marseille der 1940er Jahre in die heutige, wieder zum Fluchtort für viele Emigranten gewordene Hafenstadt verlegt.

Erneut gestiegen scheint der Anteil von Dokumentarfilmen und Filmen aus Ost- und Mitteleuropa in den Nebenreihen. So geht der Schweizer Nicolas Wargnières, Sohn einer jugoslawischen Mutter, in Belgrad auf die Suche nach dem, was blieb von „Edinstvo i bratsvo“, dem Slogan Titos, der sein Land in Einheit und Brüderlichkeit zusammenhielt, bis die NATO-Bomben das alte Jugoslawien und auch sein Renommierhotel „Hotel Jugoslavija“ in Trümmer legten; leider trübt seine sehr private Nachdenklichkeit oft die Schärfe seiner politischen Analyse. Der Ungar Àrpád Bogdán nimmt rassistische Überfälle von Rechtsradikalen auf eine Roma-Siedlung aus den Jahren 2008 und 2009 als Stoff für drei lose mit einander verknüpfte Episoden seines Spielfilms „Genezis“. Die in München lebende Polin Alexandra Wesolowski besucht aus Anlass einer Goldhochzeit ihre Familie. In „Impreza – Das Fest“ lässt sie uns teilhaben an ihrer gewachsenen Entfremdung von den immer reaktionäreren, der Propaganda der PiS-Regierung erlegenen Ansichten ihrer Verwandtschaft. Für ein jüngeres Publikum drehte der Schweizer Germinal Roaux „Fortuna“, eine sympathische, aber leicht frömmelnde Geschichte um ein äthiopisches Flüchtlingsmädchen, das in einem Kloster in der Schweiz vorläufige Zuflucht findet. Aus Österreich kommt „Waldheims Walzer“, eine Chronik der Affäre um den zeitweiligen UN-Generalsekretär und späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim und seine verschwiegene Nazi-Vergangenheit. Aus Material von TV-Sendern und Eigenaufnahmen baut die bekannte Dokumentaristin Ruth Beckermann eine leicht ironische Betrachtung über das eigene Mitwirken gegen Waldheims Wahlkampagne; die im Berlinale-Text behauptete Aktualität im Zeichen der schwarz-blauen Koalition Kurz/Strache muss man sich allerdings hinzudenken.

Peter Švrcek heißt der Held in „Až prijde válka“ („Wenn der Krieg kommt“) des jungen Tschechen Jan Gebert, und was der in der Slowakei entdeckt und beobachtet hat, ist so unglaublich, dass man seinen Dokumentarfilm fast für ein Fake halten möchte. Wochentags besucht Peter eine Akademie für Führungskräfte im korrektem Zivil – an den Wochenenden kommandiert er im Kampfanzug mit illegalen Rangabzeichen einige Dutzend Mitglieder seiner „Slovenskí Branci“ („Slowakische Rekruten“) bei Übungen und Aufmärschen, die von den örtlichen Behörden lässig bis hilflos beobachtet werden, aber sich des Wohlwollens von Ministerpräsident Robert Fico sicher sein können! Die pseudo-elitären Aufnahme- und Beförderungsrituale der Truppe und Švrceks Führungsanspruch erscheinen zwar fast lächerlich, doch wenn ihr Führer sich anschickt, in die Politik zu gehen und eine Partei zu gründen, vergeht einem rasch das Lachen.

Während Gebert sich auf das reine Beobachten beschränkt, zeigen Almudena Carracedo und Robert Bahar in „The Silence of Others“, welche Wirkung Dokumentaristen erzielen können, wenn sie sich politisch einsetzen für eine Sache. Ihre Sache ist der Kampf einiger Angehöriger von Opfern der Franco-Diktatur in Spanien um ein würdiges Andenken der Toten und die strafrechtliche Verfolgung der noch lebenden Täter. Letztere nämlich sind auch heute noch durch das berüchtigte „Amnestie-Gesetz“ von 1977 vor Bestrafung geschützt und alle Versuche, die nach dem Völkerrecht nie verjährenden Taten juristisch zu ahnden, wurden von den spanischen Behörden vereitelt. Carracedo und Bahar haben sechs Jahre lang zwischen Madrid und Buenos Aires das Auf und Ab in diesem Kampf begleitet und dabei Szenen von erschütternder Eindringlichkeit eingefangen – unbedingt ansehen! Weitere sehenswerte Titel: „Den pobjedy“ von Sergej Loznitsa über das jährliche Gedenken im Berliner Treptower Park, „Al Gami‘ya“ über einen widerständigen Stadtteil von Kairo und Karim Ainouz‘ Beobachtungen auf dem „Zentralflughafen THF“ in Berlin.

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Über den Autor

Hans-Günther Dicks (Jahrgang 1941), Mathematiklehrer mit Berufsverbot, arbeitet seit 1968 als freier Film- und Medienkritiker für Zeitungen und Fachzeitschriften, für die UZ seit Jahrzehnten.

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"Sehenswertes auf der Berlinale", UZ vom 16. Februar 2018



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