Selbstüberschätzung führt ins Sektierertum

Von Wolfgang Reinicke-Abel

Ich möchte mit meiner Antwort versuchen, einen Beitrag zur Strategiedebatte der DKP zu leisten. Im Artikel von Blach und Rodermund geht es um nicht weniger als um die inhaltliche wie auch sprachliche Entsorgung einer seit über dreißig Jahren andauernden und geführten Strategiediskussion und Gesellschaftsanalyse in der gesamten – nicht nur deutschen – Arbeiterbewegung.

Angesichts der Formierung eines zunehmend autoritär auftretenden bürgerlichen Staates, dessen Geheimdienste inzwischen anscheinend völlig „freie Hand“ haben, sei aber schon zu Beginn die Frage erlaubt, wem Verbalradikalismus nützt. Die im Text deutlich werdende Selbstüberschätzung führt geradewegs ins Sektierertum und damit in die Bedeutungslosigkeit einer deutschen kommunistischen Partei. Daher möchte ich Willi Gerns („Revolutionäre Strategie in nichtrevolutionären Zeiten“, Essen 2016, S.22) zitieren, der den selbsternannten Vertretern der Vorhut der Arbeiterklasse Folgendes ins Stammbuch schrieb: „Dabei wollen wir (um Missverständnisse zu vermeiden) zunächst klären, was unter Vortrupp (Avantgarde) zu verstehen ist. Mit dem Begriff wurde in der Vergangenheit von regierenden kommunistischen Parteien ja nicht wenig Schindluder getrieben. Aus ihm wurde der ‚Führungsanspruch’, die Allwissenheit der Partei und die Bevormundung des ganzen gesellschaftlichen Lebens abgeleitet. Dieses Avantgardeverständnis hat wesentlich zur Entfremdung der Partei von den Massen und damit zur Niederlage des realen Sozialismus beigetragen.“

Es geht in dem Beitrag von Rodermund und Blach um die Entsorgung des nach wie vor gültigen Parteiprogramms von 2006 – auf dessen Grundlage ich Mitglied der Partei wurde – und im Grunde um die Absage an jegliche Form von Strategie, mithin, um die Entsorgung von Wissenschaftlichkeit und objektiver, materialistisch-dialektischer Analyse gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt. Es scheint, dass diesbezüglich im Vorfeld des Parteitages nächstes Jahr ein Testballon gestartet werden soll. Auch wenn – wie ich vermute aus rein taktischen und im Kontext des Artikels nicht nachvollziehbaren Gründen – die Anti-Freihandelsbewegung aus der Nicht-Denkbarkeit (?) fortschrittlicher Bündnisse mit Teilen der nichtmonopolistischen Bourgeoisie ausgenommen wird, sei der Hinweis erlaubt, dass gerade meine Arbeit als Kommunist in der Bewegung gegen CETA und TTIP ein gutes Beispiel für die nach wie vor realistische strategische Ausrichtung auf eine antimonopolistische Demokratie ist.

Der Marxismus ist stark genug, die revolutionäre Ungeduld in Schach zu halten und Widerstand dagegen zu leisten: Da ist zum Einen der Respekt vor den Realitäten als methodologischer Grundsatz, die wissenschaftliche Objektivität als ethisches Ideal. Nur so konnten sie die mit der Realität gar nicht oder schlecht vermittelte Programmatik des utopischen Sozialismus hinter sich lassen, nur so an wirkliche Kämpfe anknüpfen und sich mit ihnen identifizieren – die die beiden Autoren Blach und Rodermund in ihrem Artikel zuerst ignorierten und anschließend verkannten –, nur so die kommunistische Zielsetzung aus der Analyse der wirklichen Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft gewinnen. Und bei alledem befolgten Marx und Engels ernsthaft die Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit. Dies sei den beiden Autoren zur Beachtung empfohlen, die das Denken dadurch unergiebig machen – und noch unergiebiger für eine Revolution –, dass sie ihm ein Befolgen kurzfristiger, scheinbar praktikabler Parolen („Raus aus der Nato“, „Raus aus der EU“ „Stellungskrieg, Guerillakrieg“) abverlangen.

Da der Kapitalismus auf privatem Eigentum an Produktionsmitteln beruht, muss sich jede Kritik an ihm mit der Eigentumsfrage befassen. Somit sind Marxisten davon überzeugt, dass jeder kleine Restaurantbesitzer und Geschäftsinhaber und jeder Eigentümer eines auf Selbstausbeutung beruhenden Betriebs versteht, dass nicht die Kommunisten seine Gegner sind, sondern das monopolisierte Kapital. Soviel zum schwankenden Kleinbürgertum im Artikel von Blach/Rodermund.

Unter der Überschrift Grundfragen der Aktionseinheit, wird es von Blach/Rodermund als Fehler bezeichnet, „die betriebliche durch eine gewerkschaftliche Orientierung zu ersetzen“. Dabei gehe es darum, „die Gewerkschaften zu ändern“. Die bereits oben erwähnte Selbstüberschätzung und das Wunschdenken feiern auch hier fröhliche Urstände. Wie kann ich nun realistischerweise Gewerkschaftsmitglieder – ergo die Arbeiterklasse – von klassenbewussterem Handeln überzeugen? Wie sieht unsere Konzeption aus? Was kann an die Stelle der kapitalistischen Eigentumsverfassung treten? Mit solchen strategischen Fragen rückt die Frage des Eigentums in den Mittelpunkt der strategischen Debatte.

Mitarbeitergesellschaften, echte Mitbestimmung und ein umfassendes Genossenschaftswesen mögen alleine eine andere Wirtschaftsordnung nicht hervorbringen können. Diese neuen Eigentumsformen sollten aber dennoch wichtige Bestandteile einer neuen Ordnung sein, die – im Unterschied zum vergangenen Realsozialismus – auf der Pluralität unterschiedlichster Eigentumsformen beruhen müssen. Dies bedarf einer intensiven Debatte – auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, unserem wichtigsten Verbündeten im Kampf für eine bessere Gesellschaft.

Beim Beharren auf einem weiten, politischen Klassenkampfbegriff befindet man sich in Übereinstimmung mit Lenin und hier vor allem mit dessen Aussagen in der Schrift „Was tun?“: „Die Aneignung von Klassenbewusstsein und die Teilnahme am revolutionären Klassenkampf hat das Verständnis der gesellschaftlichen Totalität in all ihren Aspekten zur Voraussetzung.“ Neben Lenin bezieht sich der italienische Philosoph und Marxist Losurdo auch auf Antonio Gramsci, der verlangt hatte, dass die Arbeiter auch „als Angehörige einer Klasse denken, die sich anschickt, die Bauern und die Intellektuellen zu führen, einer Klasse, die nur dann siegen und den Sozialismus aufbauen kann, wenn ihr die große Mehrheit dieser gesellschaftlichen Schichten hilft und ihr folgt. Gelingt ihr das nicht, wird das Proletariat nicht zur führenden Klasse.“ (A. Gramsci, La costruzione del partito communista, Turin1971, S. 145) Dies steht in eklatantem Widerspruch zu den Autoren Blach und Rodermund, die in der Aussage „fortschrittliche Bündnisse mit Teilen der nichtmonopolistischen Bourgeoisie … sind zumindest in absehbarer Zeit nicht denkbar“ gipfelt. Losurdo kommt hingegen zu folgender Schlussfolgerung: „Letztlich hat sich das Organisationsmodell der Internationale deshalb als inadäquat erwiesen, weil sie oftmals von einem Klassenkampf in seiner reinen Form ausging, der sich doch ziemlich selten so zutrug, und weil sie eine sozialistische Revolution in ebenfalls reiner Form erwartete, wie sie indes niemals eingetreten ist und auch niemals eintreten wird.“ (Domenico Losurdo, Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Köln, 2016, S. 210)

Die lohnabhängig Beschäftigten müssen sich angesichts des staatsmonopolistischen Kapitalismus mit den unteren Schichten der Bourgeoisie (mit kleinen Gewerbetreibenden, kleinen Selbstständigen und Freiberuflern sowie Landwirten) verbünden. Und schließlich müssen wir uns an vier Schichten der Bevölkerung wenden, die in einer progressiven Konvergenz zu besonderen Verbündeten der Arbeiterklasse werden können: Junge Menschen, Studenten, Intellektuelle und Künstler. Dies steht im krassen Gegensatz zur Haltung der Autoren Blach und Rodermund, bei denen „Schwankende Schichten wie die Intelligenz oder kleine Selbstständige … ebenfalls gewonnen oder neutralisiert (!) werden [müssen].“

Der historische Materialismus bietet, da er von der Natürlichkeit der Menschen, von ihren Elementarbedürfnissen ausgeht, durchaus die Möglichkeit der Entwicklung jenes Gesellschaftsentwurfs, mit dessen Hilfe der innere Zusammenhalt der Welt als auch die Perspektive ihrer Entwicklung beschrieben werden können. Es gibt daher auch keinen Anlass, sich von ihm zu verabschieden oder ihn gar zu entsorgen (s. o.). Daher möchte ich mit einem Zitat von Robert Steigerwald (R. Steigerwald in: E. Lieberam/J. Miehe (Hg.): Arbeitende Klasse in Deutschland, Bonn 2011) schließen: „ Aber die Arbeiterklasse allein wird die Dinge nicht schultern, und das braucht sie auch nicht, bei der Lösung sehr entscheidender Fragen hat sie ernste Bündnispartner! Denn Anfangen mit der Lösung unserer Aufgaben sollte man nicht, indem man sich gegen die anderen [eben angeführten] Bewegungen stellt …“

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"Selbstüberschätzung führt ins Sektierertum", UZ vom 10. März 2017



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