Beschäftigte beenden jahrzehntelange Niedriglohnpolitik am Klinikum Nürnberg

So sehen Sieger aus

Als ich am ersten Streiktag der „Klinikum Nürnberg Servicegesellschaft“ (KNSG) Streikposten beziehe, ist es einige Minuten nach fünf. Es ist Anfang Mai. Alles riecht nach neuem Tag und Sonnenaufgang, auch wenn es noch nicht vollständig hell ist.

Ich nehme noch einen kurzen Schluck aus meinem Kaffeebecher, packe die gelbe Postkiste mit den Infomaterialien und laufe das kurze Stück vom Auto zum Haupteingang des Klinikums Nürnberg-Süd. Alle bisherigen Streikauftaktkundgebungen am großen Kommunalen Klinikum Nürnberg mit seinen zwei Standorten fanden im Norden statt. Das dortige Krankenhaus liegt wesentlich zentraler, das Rathaus und die Innenstadt sind fußläufig erreichbar, die Krankenpflegeschule befindet sich in direkter Nachbarschaft. Wenn die Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitsbereich streiken, schallen laute Sprechchöre durch die Straßen: „Arbeitstag? – Streiktag!“

Ich bin gern im Süden. Hier kenne ich mich aus. Es ist das nächstgelegene Krankenhaus zu meinem Zuhause. Wahrscheinlich alle Mitglieder meiner Familie waren hier – wenn sie ernsthaft krank waren, starben oder auf die Welt kamen. Ich arbeite nicht selbst am Klinikum. Ich unterstütze die Kolleginnen und Kollegen, weil ich aus eigener Erfahrung als Pflegekraft, Patientin und Angehörige weiß, wie wichtig Solidarität ist. Und dass es wichtig ist, dass dieser Kampf gewonnen wird. Für die Kolleginnen und Kollegen der KNSG geht es darum, zu verhindern, dass sie weiter in die Armut rutschen. Denn das Servicepersonal, Reinigungskräfte, Küchenpersonal, Haustechniker und viele andere Berufsgruppen, die für das Funktionieren eines Krankenhauses unbedingt notwendig sind, wurden vor Jahren ausgegliedert. Ihre Bezahlung lag kaum über dem Mindestlohn. Bei den Tarifverhandlungen im Frühjahr hatte die Klinikleitung Lohnerhöhungen im Bereich einiger Cent angeboten. Aleksander Bozinovski, beschäftigt im Warentransport und Mitglied der Tarifkommission, antwortet: „Das Angebot ist nicht akzeptabel. Eine Patientenversorgung ohne den Service: Undenkbar! Deswegen haben Ausgliederung und Niedriglöhne in einem Krankenhaus nichts verloren. Der Oberbürgermeister spricht von ‚Gerechtigkeitslücken‘. Das ist erstens eine Verharmlosung, zweitens wollen wir endlich Taten sehen. Meine Kollegen und ich werden für den TVöD kämpfen!“ Die Arbeiterklasse kann nicht nur Erfahrungen im gemeinsamen Kampf sammeln, sondern vor allem lernen, dass Ausgliederung und Niedriglohn sich gegen sie als Klasse richten, dass der Druck auf Teile der Klasse den Druck auf die gesamte Klasse erhöht. Da ist es aus meiner Sicht sehr naheliegend, sich den Wecker zu stellen und im Süden Position zu beziehen.

Im Eingangsbereich angekommen funktioniere ich einen Tisch der Corona-Einlass-Kontrolle, die zu dieser Uhrzeit noch völlig verwaist ist, um. Der Tisch wird Infostand und Mini-Barrikade zugleich. Auf den großen, roten Plakaten, die ich aufhänge, stehen die zwei entscheidenden Worte: „Heute Warnstreik“. Mein Anliegen ist jetzt bereits aus einigen Metern Entfernung erkennbar.

Dann kommt auch schon der erste Bus mit den Kolleginnen und Kollegen der Frühschicht an. In einer wuseligen, sich halblaut unterhaltenden Traube kommt der erste Pulk auf mich und meine Warnstreikaufrufe zu. Bereits einige Meter vor mir lösen sich die ersten Kolleginnen aus dem Schwall der Ankommenden, begrüßen mich und sich untereinander. „Heute ist Streiktag!“ und „Wir schaffen das, wenn wir zusammenhalten!“ Mut und Kampfbereitschaft liegen in der Luft. Viele schnappen sich selbstständig und mit großer Selbstverständlichkeit ihre Warnsteikaufrufe, um sie an die nächste Gruppe ankommender Mitarbeitender zu verteilen. Sehr viele davon reagieren ausgesprochen positiv, auch wenn das Pflegepersonal nicht selbst zum Streik aufgerufen ist. Den meisten ist noch gut im Gedächtnis, wie aktiv, kämpferisch und solidarisch sich die Kolleginnen und Kollegen der KNSG an den Streikaktionen im Rahmen der Tarifrunde Öffentlicher Dienst im vergangenen Herbst beteiligt haben – obwohl sie davon nicht selbst profitiert haben. Dem damaligen Aufruf zum Solidaritätsstreik folgten viele KNSGler mit einem beeindruckenden Elan und jeder Menge Wut im Bauch. Denn seit vor gut 20 Jahren die vormals direkt im Klinikum Beschäftigten in die Servicegesellschaft KNSG ausgelagert wurden, reicht vielen das Geld gerade zum Überleben. Von den gut 1000 Beschäftigten der KNSG arbeiten einige noch mit Altverträgen zu Bedingungen des TVöD. Die Mehrheit aber hat viel schlechtere Verträge, was Einkommensverluste von mehreren hundert Euro im Monat bedeutet. 14 Millionen Euro brachte das dem Klinikbudget jedes Jahr. Diese Ungerechtigkeit wollen die Kolleginnen und Kollegen nicht länger hinnehmen. Brigitte Zeller, Teamleitung der Reinigung und Mitglied der Tarifkommission meint: „Seit einem Jahr arbeiten wir in der allerersten Reihe der Pandemiebekämpfung und sind einem stark erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die Arbeit mit Schutzkleidung ist sehr anstrengend. Aber weder wurden die Flächen angepasst, noch haben wir dauerhaft mehr Personal bekommen. Die hohe Belastung macht auf Dauer krank und sorgt für eine hohe Fluktuation. Gerade deshalb unterstütze ich die Forderung nach TVöD für alle in unserem Haus! Ein Krankenhaus, eine Belegschaft.“

Anfang Mai, vor dem Südklinikum, hieß dieser Kampf morgens um kurz vor sechs vor allem eins: sehr viele Gespräche führen. Gespräche mit Kolleginnen in befristeter Anstellung, die sich von ihren Vorgesetzten eingeschüchtert fühlen. Drohungen haben die Runde gemacht, dass Verträge bei einer Streikbeteiligung nicht verlängert werden sollen. Gespräche darüber, wie wichtig es ist, zusammenzustehen, jetzt erst recht, sich nicht einschüchtern zu lassen, durchzuhalten, mehr zu werden. Gespräche untereinander, wie wichtig es ist, sich am Streik zu beteiligen, jetzt, hier, heute. Und Gespräche mit den Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen, denen von der Klinikleitung via Presse erzählt wird, der Streik sei verantwortungslos und gefährde das Patientenwohl. Doch die Kolleginnen und Kollegen wissen es besser: Die Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigen im Krankenhaus sind verantwortungslos – der Alltag gefährdet die Gesundheit aller.

Die Stimmung ist beeindruckend. Ich bin zur Streikgelderfassung eingeteilt und während ich zig Formulare heraussuche, ausfülle und abhefte, stehen bereits die ersten Kolleginnen am Mikrofon und erklären, warum sie sich heute am Streik beteiligen. Für die Allermeisten ist es das erste Mal überhaupt, dass sie vor so vielen Menschen sprechen. Ein Kollege überlegt kurz, was er sagen soll, dann stimmt er aus voller Kehle „Bella Ciao“ an. Für ihn ist damit alles gesagt, und viele der Umstehenden singen mit. Ein Redebeitrag folgt dem anderen. Sie wollen sich nicht länger einschüchtern lassen, sich zur Wehr setzen, sich nicht länger als Mitarbeitende zweiter Klasse fühlen. Und viele sagen, wie wütend sie sind.

Tezel Can arbeitet im Patiententransport und sie ist Betriebsrätin. Sie sagt: „70 Prozent unserer Belegschaft sind Frauen, viele davon alleinerziehend. Die Mieten in Nürnberg steigen noch schneller als in München – unsere Löhne nicht. Viele Kolleginnen wissen nicht, wie sie ihren Kindern einen Wunsch erfüllen sollen. Altersarmut ist programmiert – es gibt Kolleginnen, die nach 40 Jahren Arbeit mit 600 Euro in Rente gehen. Weder wir noch unsere Kinder sind Menschen zweiter Klasse. Wir fordern einen gerechten Lohn für unsere Familien und unsere Kinder! Wir müssen bereit sein, dafür zu kämpfen! Unbefristet streiken können nur Gewerkschaftsmitglieder.“

Aber am Eindringlichsten ist die Kollegin, die schlicht ihren Kontoauszug in die Höhe hält und den Versammelten in sehr gebrochenem Deutsch zuruft, dass bereits jetzt, zur Mitte des Monats, fast kein Geld mehr übrig sei, um für ihre Familie einzukaufen. Daran soll, daran muss sich etwas ändern.

Ein halbes Jahr später sind die Vorbereitungen zur KNSG-Party am 2. Oktober in vollem Gange. Die Kolleginnen und Kollegen haben es geschafft. Sie haben mit einer fast unvorstellbaren Willenskraft an ihrer Forderung „TVöD für die KNSG“ festgehalten. Sie haben sich organisiert. Sie hatten die Unterstützung ihrer zuständigen Gewerkschaft in dieser Auseinandersetzung und eine politische Unterstützungsstruktur. Und sie hatten den Glauben an die eigene Stärke. Mit alldem haben sie sich unter mehr als schlechten Vorzeichen ihren Erfolg, die Rückkehr in den TVöD, erkämpft. Darauf: Hoch die Tassen! So kann es funktionieren.

Ein Video mit einem kurzen Einblick in den Streik findet sich bei Youtube: kurzelinks.de/KNSG

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"So sehen Sieger aus", UZ vom 1. Oktober 2021



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