Triviales und Machtpolitik

Lucas Zeise zur EU der verschiedenen Geschwindigkeiten

Das Politpersonal der Europäischen Union feiert in einer Woche 60 Jahre Existenz des mittlerweile ziemlich großen Staatenbundes. Am 25. März 1957 wurde im Vertrag von Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Vorläuferorganisation der heutigen EU, gegründet. Eigentlich waren zu diesem  Fest auch politische Visionen geplant. Dem Publikum sollte ein Bild davon vermittelt werden, wie EU-Europa in zehn Jahren dastehen werde. In Rom, vor 60 Jahren, war die Sache noch klar. Ziel war eine Zollunion und ein gemeinsamer Markt zwischen den sechs Gründungsstaaten Frankreich, Italien, den drei Benelux-Ländern und Westdeutschland. Der Zweck für alle Beteiligten (und der USA, die das Projekt wohlwollend förderten) war auf dem Höhepunkt des kalten Krieges die Stärkung der kapitalistischen Verhältnisse, die Zurückdrängung der kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien und die Einbindung der BRD. Für Letztere war der ökonomische Vorteil des heimischen freien Marktes am größten.

Der Kalte Krieg wird heute schmerzlich vermisst. Die mühsam erlernte Gegnerschaft zum kapitalistischen Russland reicht nicht aus, um 28 (und nach Britanniens Ausscheiden nur 27) Regierungen zur Formulierung  einer gemeinsamen Perspektive zu veranlassen. Zwingend ist da nichts. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker legte am 1. März ein Papier vor, das fünf Perspektiven der möglichen EU-Weiterentwicklung entwarf. Die fünfte Variante, die stärkere Integration bis hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“, will niemand mehr, obwohl es nach Lenin unter den obwaltenden kapitalistischen Verhältnissen eine reaktionäre Logik hätte. Unter Junckers anderen vier Szenarien scheint die Vorstellung von den verschiedenen Geschwindigkeiten bei den Regierungen, besonders bei der wichtigen in Berlin,  am meisten Zustimmung zu finden. Juncker hatte sogar eine bemerkenswert tiefsinnige Erkenntnis beizutragen: „Die Europäer, die sich nicht bewegen, werden weniger weit kommen als die, die voranschreiten.“

Hier wird offensichtlich Großes gedacht. Und dieses Große wird auch inszeniert. So lud François Hollande, der noch amtierende Präsident Frankreichs, die Ministerpräsidenten Deutschlands, Italiens und Spaniens ein, und zwar nach Versailles, dieses prächtige Schloss, in dem Ludwig XVI. das Ende seiner Herrschaft erlebte. Man tut der EU des Monopolkapitals vielleicht Unrecht, wenn man sie mit der Adelsherrschaft in Frankreich von damals vergleicht. Aber die Abhängigkeit vom Finanzsektor und dessen Krisenanfälligkeit ist schon sehr ähnlich. Die vier in Versailles kümmerten sich nicht um schnöden Finanzkram, sondern propagierten die EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Und darauf wird es hinauslaufen. Der EU-Gipfel in Brüssel vier Tage später, bei dem alle Chefs beieinander waren, widersprach dem nicht.

Das mit den verschiedenen Geschwindigkeiten ist ein alter Hut. Der heutige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat es (zusammen mit einem gewissen Karl Lamers) im Jahr 1994 in Worte gefasst. Die Praxis ist eingeübt.  Der EU-Vertrag sieht schon heute vor, dass neun oder mehr Staaten gemeinsame Vorhaben beschließen können. Und unter dieser Klausel sollte, wenn man Schäuble glaubt, eigentlich die Finanztransaktionssteuer beschlossen werden. Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise ist daraus nichts geworden. Nicht weil es rechtlich nicht geht, sondern weil es Schäuble und seine Kollegen nicht wollen, denn es wäre den Finanzkonzernen lästig.

Mit oder ohne verschiedene Geschwindigkeiten bleibt die EU ein Verband zur Geschäftsförderung des Finanzkapitals. Ein straff geführtes Imperium wird die EU so schnell nicht. Die Losung von den verschiedenen Geschwindigkeiten lässt alles offen. Das nutzt den Starken. Deutschland ist dabei, die bilateralen Militärbeziehungen zu einer Reihe kleiner EU-Länder zu intensivieren: Einer von vielen Schritten, um das Bündnis noch deutscher zu machen.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Triviales und Machtpolitik", UZ vom 17. März 2017



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