Colum McCanns „Apeirogon“ ist ein Buch für den Frieden

Unzählige Facetten, eine Botschaft

Angesichts der jüngsten Eskalation der Gewalt im Nahen Osten und Irlands Verurteilung der De-facto-Annexionspolitik Israels ist der Roman „Apeirogon“ des irischen Autors Colum McCann lesenswerter denn je.

Anders als das Pentagon hat ein Apeirogon eine unendliche Anzahl von Seiten. Der Titel verweist auf die unzähligen Facetten, die diesen Roman ausmachen. Doch der unbestrittene Kern ist, dass der Staat Israel sich anhaltender Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem palästinensischen Volk schuldig gemacht hat.

McCann erzählt die wahre Geschichte des Palästinensers Bassam Aramin und des Israelis Rami Elhanan und deren Töchter: Die zehnjährige Abir Aramin, 2007 durch ein Gummigeschoss getötet, und die 13jährige Smadar Elhanan, die 1997 Selbstmord­attentätern zum Opfer fiel. Aramin und Elhanan lernten sich über die israelisch-palästinensische Organisation Combatants for Peace (Kämpfer für Frieden) kennen.
Die ungewöhnliche Romanstruktur ähnelt den Abläufen eines ruhelosen Geistes. Er scheint von einem Gedanken zum nächsten zu „springen“, wobei der neue Gedanke durch einen Aspekt des vorherigen ausgelöst wird. Manche Tangenten sind flüchtig, während andere Schlüsselaspekte des komplexen Romangewebes bilden.

Dieser Erzählstil erlaubt es McCann, ein Netzwerk von geografisch wie historisch globalen Verbindungen zu schaffen. Menschenrechtsverletzungen bilden ein Muster, das den Nahen Osten einschließt. Gummigeschosse wurden erstmals vom britischen Staat im Norden Irlands eingesetzt und töteten dort Kinder. In Palästina ist „Gummigeschoss“ gar ein Euphemismus, denn nur die Beschichtung des Geschosses ist aus Gummi. Auch der Einsatz von todbringendem Sprengstoff wird in vielen Tangenten ergründet, einschließlich des Abwurfs der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA.

Der Verstand kann, muss er ein Trauma verarbeiten, nicht ohne Unterbrechung daran denken, sondern kehrt immer wieder zu der Tragödie zurück, umkreist sie und erfasst sie nur langsam über eine längere Zeitspanne. Ebenso verliert McCann die Ermordung der Mädchen nie aus den Augen. Jedes erneute Aufgreifen des Themas fügt neue Aspekte hinzu, ihre Geschichten und die ihrer Familien treten immer deutlicher hervor.

Der Roman ist wie Tausendundeine Nacht aufgebaut, zählt 500 aufsteigende Abschnitte und 500 absteigende – mit dem Mittelteil 1001. Das Persönliche wird in einen größeren politischen Zusammenhang gestellt, ohne dass einer der beiden Stränge den anderen aus den Augen verliert. So wendet sich McCann dem konfliktreichen Norden seiner Heimat Irland zu, um Parallelen herzustellen. Hier schwenken die Nachfahren der elisabethanischen Siedler, die Unionisten, israelische Flaggen, während sich die Gemeinschaft, die sich von einer Kolonialmacht besetzt fühlt, mit den Palästinensern identifiziert.

Man hat McCann vorgeworfen, „die Kolonisierung Palästinas als ‚komplizierten Konflikt‘ zwischen zwei gleichermaßen schuldigen Seiten darzustellen“. Doch verteidigt oder entschuldigt McCann den israelischen Staat nie, seine Position ist klar. So erzählt er die Geschichte des „Nukleartechniker(s) Mordechai Vanunu, der im Kernforschungszentrum von Dimona in der Negev-Wüste in der Lithium-6-Produktion tätig gewesen war, zu achtzehn Jahren Haft verurteilt, weil er Informationen über das geheime israelische Atomwaffenprogramm preisgegeben hatte“.

Auf wessen Seite die USA im Nahostkonflikt stehen, wird in mehreren Episoden deutlich, zum Beispiel als Bassam Aramin auf einer Untersuchung der Todesursache seiner Tochter besteht (nachdem er die Autopsie bezahlen musste). Die Richterin reist allen Widerständen zum Trotz an den Tatort und stellt „die Verantwortung des israelischen Staates“ fest.

„Das Urteil der Richterin stieß in einigen israelischen und amerikanischen Zeitungen auf scharfe Kritik.“
Und als Aramin US-Senator John Kerry in seinem Büro besucht, wird festgestellt: „Die amerikanische Waffe. Der amerikanische Jeep. Die amerikanische Ausbildung. Das amerikanische Tränengas. Der amerikanische Dollar als zentraler Bestandteil der israelischen Staatsgewalt.“

Die Eltern von Smadar Elhanan stehen nicht auf der Seite ihres Staates. Ihr Vater, Rami, hat seine Position im Laufe der Zeit entwickelt, während ihre Mutter Nurit offen Palästinenser unterstützt und häufig Beschimpfungen und Morddrohungen erhält. Abir Aramins Vater, Bassam, wurde mit 17 für sieben Jahre inhaftiert, weil er Steine geworfen hatte.

Gegen Ende des Romans kehrt McCann noch einmal zu seinem titelgebenden Wort zurück: „Von griechisch apeiron: das Unbegrenzte, das Unbestimmte. Auch von der indogermanischen Wortwurzel her: versuchen, riskieren.“

McCann riskiert einiges. Darunter den Verkauf der Filmrechte an Steven Spielberg, der in einem „Spiegel“-Interview bekannte: „… von meiner frühesten Jugend an bin ich ein glühender Verteidiger Israels. … (nötigenfalls) wäre ich bereit, für die USA wie für Israel zu sterben.“

Wie viele Seiten von McCanns Apeirogon werden übrig bleiben – fünf oder sechs?

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"Unzählige Facetten, eine Botschaft", UZ vom 2. Juli 2021



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