ver.di gegen Berufsverbote

Die Beschlusslage von ver.di Baden-Württemberg – einstimmig beschlossen von der Landesdelegiertenkonferenz am 21.3.2015 in Ulm war als Antrag G052 auch Thema des ver.di-Bundeskongresses am 24.9.2015 in Leipzig und wurde dort einstimmig als Arbeitsmaterial an den Bundesvorstand überwiesen (weil er tarifpolitische Forderungen enthält, die Tarifkommissionen aber autonom sind, und auch weil die geforderte Einrichtung einer Kommission mit Kosten verbunden ist).

Berufsverbote und „Extremismusklauseln“ im Tarifvertrag

1. ver.di verurteilt, dass nicht alle Bundesländer den sog. „Radikalenerlass“ von 1972 beziehungsweise entsprechende Nachfolgeregelungen in Gänze aufgehoben haben, und fordert, dass dies umgehend geschieht. Die Abschaffung der sog. „Regelanfrage“ beim „Verfassungsschutz“ genügt nicht.

2. ver.di wird alle „Extremisten“klau-seln bzw. entsprechende Bezüge aus entsprechenden Tarifverträgen beseitigen. ver.di soll sich dafür einsetzen, dass auch in den Ausführungsbestimmungen zum Beamtenstatusgesetz keine solchen Bestimmungen enthalten sind.

3. ver.di Baden-Württemberg setzt sich konkret dafür ein, dass BewerberInnen für den Öffentlichen Dienst nicht mehr eine „Belehrung und Erklärung“ im Sinne des Beschlusses vom 02. Oktober 1973 der damaligen Landesregierung unterzeichnen müssen.

4. ver.di wird auf Bundesebene eine Arbeitsgruppe gründen, die sich mit den gesellschafts- und gewerkschaftspolitischen Auswirkungen des „Radikalenerlasses“ befasst.

5. ver.di setzt sich für eine umfassende Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen der Berufsverbote ein.

Begründung:

Der sog. Radikalenerlass wurde von den Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit dem damaligen Bundeskanzler 1972 beschlossen. Die Praxis, die sich daraus entwickelte, wurde 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) als unvereinbar mit dem Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf) bezeichnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 1995 in einem konkreten Fall fest, dass gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen wurde. Damit verstößt diese Art von Berufsverboten auch gegen die 2010 im Amtsblatt der EU veröffentlichte „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. Sie verstößt gegen die EU-“Richtlinie zur Schaffung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung vom 27.11.2000–2000/78/EG“ und deren deutsche Umsetzung, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006.

Dennoch haben bis heute nicht alle Bundesländer den „Radikalenerlass“ aufgehoben. In Baden-Württemberg wird auf Formularen, die selbst studentischen Hilfskräften an Hochschulen und Rotkreuzhelfern an Kliniken vorgelegt werden, bis heute Bezug genommen auf die Umsetzungsrichtlinie der Landesregierung von 1973, nach dem damaligen Innenminister bekannt geworden als „Schieß-Erlass“. Die Wirkungen dauern bis heute an. In diesem Bundesland wurde noch 2004–2007 – bis er mehrere Prozesse gewann – einem Realschullehrer der Zugang zum Schuldienst verwehrt, weil er einer antifaschistischen Initiative angehörte. Die „Regelanfrage“ war zu diesem Zeitpunkt längst abgeschafft; der Inlandsgeheimdienst wurde von sich aus aktiv, um ihm beruflich zu schaden. Bis heute muss dieser Kollege sich gegen seine ständige Bespitzelung durch Geheimdienste wehren.

Seit Bestehen des „Radikalenerlasses“ wurden jahrzehntelang – bis zur Abschaffung der „Regelanfrage“ beim „Verfassungsschutz“ – Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger einer Gesinnungsprüfung unterzogen. Vermutlich Tausende wurden daraufhin nicht eingestellt, ohne dass dies mit der Überprüfung begründet wurde. Hunderte wurden mit Berufsverbot belegt, darunter auch zahlreiche Mitglieder der ver.di-Quellgewerkschaften ötv und DPG*. Bei keinem Einzigen konnte irgendein dienstliches Fehlverhalten oder gar eine Straftat als Begründung angeführt werden. Eine Rehabilitierung der politisch Gemaßregelten steht bis heute aus.

* ötv: Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr;

DPG: Deutsche Postgewerkschaft;

beide gingen 2001 in der neu gegründeten Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di auf.

Selbst in Tarifverträge haben vergleichbare „Extremismusklauseln“ Eingang gefunden, wie damals im von der ötv abgeschlossenen Bundesangestelltentarifvertrag (BAT). Sie sind heute noch in unterschiedlicher Ausprägung in den Nachfolgetarifverträgen TVöD, TV-L und Tarifverträgen von Sonderbereichen (z. B. Universitäts- und Landeskliniken) enthalten und sollten umgehend beseitigt werden.

Das Beispiel zeigt, dass eine Aufarbeitung der Praxis des „Radikalenerlasses“ und der Berufsverbote mit ihren gesellschafts- und gewerkschaftspolitischen Folgen in unserer Gewerkschaft bis heute nicht erfolgt ist.

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"ver.di gegen Berufsverbote", UZ vom 13. November 2015



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