von 1989–1990

Verkürzte Festansprachen

Hannes Stütz ist Schauspieler, Kabarettist, Liedermacher und Autor. In den 1970er und 80er Jahren war er maßgeblich beteiligt an der erfolgreichen Kulturarbeit der DKP, an der Leitung des „Pläne“-Verlages und an der Organisation von vielen der großen Folkmusik-Festivals in dieser Zeit. Dem „Tag der Deutschen Einheit“, der seit der Wende alljährlich am 3. Oktober als Nationalfeiertag mit viel Pomp inszeniert wird, hat er seine „Verkürzten Festansprachen“ gewidmet. Hannes Stütz hat sie verfasst in den Monaten um die Jahreswende 1989/90, als der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden zusammenkrachte und vom Kapitalismus zurückerobert wurde.

Mit so viel Wut und Bitterkeit, mit einer solchen Verachtung für die Sieger und mit dieser poetischen Kraft ist wohl noch nie um die untergegangene DDR getrauert worden. „Also, das muss ein wichtiger Staat gewesen sein“, bemerkt Hannes Stütz im kurzen Einleitungstext zu seinen Gedichten, die er am 7. September 2018 in die Videokamera gesprochen hat.

Die „Festansprachen“ erinnern an diesen Staat DDR, der nie einen Krieg führte, in dem die Gleichberechtigung von Männern und Frauen weit vorangeschritten, das Bildungsprivileg der höheren Schichten gebrochen, das Gesundheitssystem vorbildlich, die Preise für Mieten, Urlaub und die Güter des täglichen Bedarfs niedrig und Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit unbekannt waren. Es war – unter schwierigen Bedingungen – gelungen, ein gesellschaftliches System zu errichten, welches das Individuum von der Angst um seine materielle Existenz hat befreien können. Die DDR war bei weitem nicht perfekt; die Reisefreiheit und so manche politischen Freiheiten waren begrenzt. Und in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit konnte die DDR trotz großer Anstrengungen im Konkurrenzkampf mit dem damals prosperierenden Kapitalismus nicht mithalten.

Sönke Hundt

verkuerzte festansprachen - Verkürzte Festansprachen - Hannes Stütz, Kultur - Kultur

( Harm Michaelis_pixelio.de)

Nicht nur die materielle Basis, auch die kulturelle Grundlage wurde plattgemacht

Nicht nur die materielle Basis, auch die kulturelle Grundlage wurde plattgemacht

( Karl-Heinz Laube_pixelio.de)

 

An die Zeit

Ach Liebste, wer zu spät kommt, was mit dem

passiert, das weiß ich ja inzwischen, aber

sag mir, wie verfährst Du mit dem Praecox –

den bestraft der Tod? – Ja, ich weiß doch,

es geht weiter, nichts steht still, jawoll,

bin ja auch schon wieder heiter voll im

Zukunfts-Soll – herrjeh, was wird das alles

nochmals kosten an Leben, Leib und Lieben –

und bleibt noch Zeit, es überhaupt zu tun?

Und wer, verdammt nochmal, wird diese Nummer

schieben? Ist Dir egal? Du bist ein Vieh –

ein herrliches, ich geb es zu, von Deiner

Etsch bis an die Memel – doch sag mir, Herz,

wie Du bestrafst den Luftficker im Kreml?

•••

Merle. August 1989

Merle, Du bist nicht gekommen,

mit den roten Haaren,

bist nicht durch den Sumpf geschwommen,

hast den Rückfahrtschein genommen

dahin, wo wir waren.

Weiß nicht, ob ich würde bleiben

unter Deinem Himmel,

will Dich nicht ins Elend treiben,

dafür viele Briefe schreiben,

elend im Getümmel.

Werden Dich zu Tanze bitten

tausend fromme Kerle,

hau Dein Knie in ihre Fritten

bis zum Anschlag, schöne,

mit den roten Haaren, Merle.

•••

Uff. Erloschen der Totalitarismus.

Zisch. Einfach ausgepinkelt Satans Feuersbrunst.

Päng. Der Rest ist Freiheit.

Was steht da mitten im Linsengericht

und regelt den Verkehr?

Das Kronzeug. Das Kronzeug.

Wer kennt kein Schließfach mehr?

Und schlottert durch die Datenbahn?

Der Schleim. Der Schleim. Der gute alte Schleim.

Von woher grinsen die grinsenden Münder?

Aus Eingeweiden noch stülpen sich

Lippen: Kiss me, Kate.

Der Zirkel ist weg, Madame,

aber unterm Hammer

sind Sie. Jetzt treibt Methan

die Fahn und Packeis den Steiß,

es steht im Ammoniak

des Pissens:

In Staub

mit allen Feinden

Illertissens.

Verzeih’, Amalie, die Fäkalie.

Ich sag’s für Dich mal so:

Ozon- und Arschloch

sind vereint –

daß nie eine Mutter mehr

ihren Sohn beweint.

Oder so.

•••

89 August ff

Die einen wollen raus;

die andern wollen rein:

irgendwann

müssen die sich treffen.

    September

Hallo Leute,

jenseits des Flusses,

was ist Euer Preis?

    Oktober

Da kommt unser Ölteppich

mit Bananen, bereitet

Eure Strände zum Empfang für das

    November

Lied der Deutschen,

gereinigt von Auschwitz,

wir lagen nur

vor Madagaskar, sagen

    Dezember

ein Dumpfbeutel aus Leipzig

und zwei aus Rosenheim

in der Mette zur Nachgeburt

des Kalbes und dann

im Januar um Mitternacht

am ganz blauen Montag,

Völkerschlacht Anhang B,

verkauft jeder seine Haut

    Februar

so teuer wie möglich, aber

in Leipzig gibt es

Discounter, reale

Fleischbank. Da stehen sie jetzt

    März

am Tresen, Ogellalah

für einen Schluck Fusel,

und holen sich

Begrüßungsgeld.

    April

Hallo Leute,

jenseits des Flusses,

das also war Euer Preis.

•••

Kommt die Sowjetunion durch?

Kommt Hitler durch?

Das Jahrhundert neigt sich.

Vor wem? Den letzten Schluck

auf IG Farben? Und auf Zyklon B

•••

Jetzt, Du einig saudumm Vaterland

könntest Du auf Deine Kriege schauen

mit Entsetzen. Aber

Deutsch ist ein Glücksfall.

Stasi statt Nazi.

Bagdad statt Auschwitz.

Schändet noch

die eigene Schande

und zeugt

Vollkommenheit.

•••

Schaut an den Sieger. Oktober 1990

Schaut an den Sieger, wie er aus verlor’nen

Schlachten steigt, Gebein so blütenweiß

behängt mit rosa Fleisch, und Glocken tretend

Überlebenden zur Gurgel geht,

weil jetzt zusammenwächst, was ihm gehört

und lustvoll aus der Scheiße röhrt der Knochen –

flötensack das Mark und Pfennig über

Brandenburg bis an das Kap erklärt er

sich zum Leben von und zu, das weder

Weg noch Wahrheit braucht, nur seinen kleinen

dürren Finger, mit dem er Speichel schlägt

aus Köpfen und aus Zahngold Schmieröl

für den Gang der Dinge und das Ding als Gang:

Unterm Lärm ist Schweigen

Überm Zelt wird’s laut.

Drei Sterne sollen zeigen,

wer grade wen verdaut

Ein gutbetuchter Luggi

macht sich an Konrad Wolf

und ein Herr Rucki Zucki

packt Christa vor den Golf

von Null auf hundert Wuten –

mein Gott, ein Schöpfungscrash.

Es applaudiert aus Fluten

das nasse Bangladesh

dem noblen Unternehmer,

der sich das Bruststück krallt

vom großen Fritze Cremer

und schleift das Buchenwald,

daß niemals sei gewesen,

was einmal war und auch,

daß man davon gelesen

mit Aug und Hirn und Bauch.

Schaut an den Sieger,

wie er in die Asche schlägt nach Rest

von Glut und Hab und Gut –

   ein Sieger in Asbest

•••

Young urbanPlattfuß

Plötzensee ist weit.

Denkst Du.

Aber der große Gott sitzt wieder am

Schlagzeug, schickt digitalen Himmels-

scholl in analoge Wänste, geschniegelt

riecht es nach Barbaren, ondulierte

Glatzen selektieren im schwarzen

Theatermantel an der Rampe

zum Traumurlaub, immer

die Stimmungspartei in

Kehlkopf und Zirbel-

drüse, deutsch mit

Rotz und Tränen

und einem Kinder-

bein zwischen den

Zähnen bis zur

Kenntlichkeit.

Plötzensee ist weit.

Denkst Du.

Young Urban Plattfuß.

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"Verkürzte Festansprachen", UZ vom 5. Oktober 2018



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