Zu den Ursachen der „Nazihochburg“ Dortmund

Vor der Borussenfront gab es die Nazis in den Ämtern

Von Ulrich Sander

Oft wird Erstaunen über den Nazieinfluss in der traditionell antifaschistischen Stadt Dortmund geäußert. Die „Neonazihochburg im Revier“ nahm ihren Anfang nicht allein mit der Borussenfront in den 80er Jahren. Seite Jahrzehnten gab es starken Nazieinfluss auf die Polizei und die Justiz. Ende der 60er Jahre erfolgte dann ein Übergang vom Einfluss der Altnazis in den Institutionen – sie gingen nach und nach in Pension – zum Einfluss der Neonazis auf die Gesellschaft.

Zum typischen Personal der Dortmunder Nachkriegspolizei gehörte ein Kriminaloberrat Dr. Josef Menke, ein Mann mit krimineller Nazivergangenheit, ehemals SS-Sturmbannführer. Dann gab es in Dortmunds Polizei den Dr. Rudolf Braschwitz aus dem Reichssicherheitshauptamt und dort im Referat „Bekämpfung des Kommunismus“ tätig. Es gab noch fünf weitere RSHA-Leute in Dortmund, so Dr. Bernhard Wehner, Chefermittler zum 20.-Juli-Attentat, der stellvertretender Chef der Kriminalpolizei der Stadt war. Leiter der Kriminalpolizei wurde in jener Zeit der einstige Polizeioberst Stöwe, dem versuchter Mord an 30 000 Menschen vorgeworfen worden ist, denn Stöwe wollte gemeinsam mit Gauleiter Albert Hoffmann 1945 tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Bergwerken ertränken.

Als die Menkes und Braschwitz weg waren, setzte eine andere Form des Einflusses der Nazis ein. Die 1964 gegründete NPD stand 1969 kurz vor dem Einzug in den Bundestag, nachdem sie bereits in vielen Landtagen saß. Sie betrieb einen aggressiven Wahlkampf – der Widerstand dagegen war jedoch beträchtlich. Nur knapp verfehlte die NPD den Bundestag, aber sie verfehlte ihn. Besonders eine Protestaktion der Demokraten in Dortmund vom 14. September 1969 wird immer wieder als entscheidend für die Niederlage der Nazis genannt. Doch diese war nicht nur ein Erfolg – die öffentliche Stimmung gegen die Nazis wuchs zwar. Es war andererseits auch ein Misserfolg; denn der Polizeipräsident Fritz Riwotzki (seit 1957 auf dem SPD-Ticket als Polizeipräsident tätig) setzte ein großes Polizeiaufgebot und Stacheldrahtverhaue gegen die Demonstranten ein. Er weigerte sich, ein Verbot der NPD-Veranstaltung auszusprechen. Die NPD durfte ihren Auftritt mit ihrem Chef Adolf von Thadden haben, wenn auch eingeschränkt. Riwotzki (1910–1978, selbst Naziverfolgter und KZ-Häftling) berief sich auf Anordnungen der SPD-Landesregierung unter Heinz Kühn. Demonstranten, darunter hohe SPD-Kommunalpolitiker, drohte er Strafverfolgung an, wenn sie nicht vom Protest abließen oder wenn sie gar ihn in seinen Räumen bedrängten.

Bündnis von Polizei und Neonazis

Es setzte die Zeit ein, da der Neonaziszene durch die Polizei viel Hilfe zuteil wurde. Erinnert sei an das Deutschlandtreffen der NPD, das 1979 und 1980 in Frankfurt stattfand und in deren Verlauf sich „Rock gegen Rechts“ gründete. Der Protest führte dazu, dass die NPD aus Frankfurt weichen musste. Nach geheimen Absprachen mit Polizeipräsident Wolfgang Manner erhielten die Neonazis für den 17. Juni 1981 in Dortmund den Nordmarkt zugesprochen.

Am 23. August 1985 verbündeten sich Nazis und Polizisten. Die nazistische Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) versuchte, in der Schlosserstraße, Nähe Westfalenhütte, mit Hilfe der neonazistischen „Borussenfrontkader“ ein Zentrum in einer Wohnung zu etablieren. Dies schlug aber fehl. Denn Hunderte Arbeiter besetzen die Straße. Am Eingang zur Westfalenhütte wurde am selben Tag eine Gedenktafel für die von den Faschisten ermordeten Belegschaftsmitglieder enthüllt. Die Polizei hatte die Eröffnung des Zentrums gründlich vorbereitet! Offenkundige Sympathie-Äußerungen des Leiters des Schutzbereich Nord, Hartmut Reikow, der das Verhalten der Polizei gegenüber der FAP laut Frankfurter Rundschau rechtfertigte, sind verbürgt: Dass FAP-Anhänger „recht bestrebt sind, der Polizei die Wahrheit zu sagen, weil sie so eingestellt sind, für Recht und Ordnung zu kämpfen“.

Bereits einige Monate vorher war dies geschehen: Am 11. Mai 1985 wollte die FAP eine NRW-weite Wahlkampfkundgebung auf dem Stahlwerkplatz abhalten. Mehrere hundert Antifaschisten konnten dies tatkräftig verhindern. Die Nazis konnten ihr damaliges Zentrum infolge von Protesten nicht verlassen. Daraufhin orderte die Polizei einen Schulbus, mit dem sie die Nazis zum CEAG-Gebäude (Ecke Münsterstr./Ebertstr.) brachten, wo sie dann ihre Veranstaltung abhalten konnten. Die Kosten für den Bus wurden einem Antifaschisten auferlegt. In der Zeitschrift „Klüngelkerl“ vom Oktober 1985 ist das Schreiben in Auszügen wiedergegeben:

„Dortmund, den 23. Aug. 1985

Betr.: Erstattung von Auslagen des Landes Nordrhein-Westfalen

hier: Kosten der Busgestellung durch die Firma OLYMPIA-Busbetriebe anläßlich der Kundgebung der FAP am 11.5.1985 … Zur Vermeidung weiterer Ausschreitungen zwischen Ihrem bewaffneten Personenkreis und den Veranstaltungsteilnehmern, war es notwendig, die Kundgebungsteilnehmer und Sympathisanten der FAP, sofern sie nicht selbst motorisiert waren, mit deren Zustimmung im Wege der Ersatzvornahme mit einem Bus … zu einem anderen Gebäude zu bringen. …Da Sie sich bei den gewalttätigen Ausschreitungen besonders hervortaten, erlasse ich hiermit gem. §§ 1, 4, 8, 28 und 30 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen gegen Sie einen Leistungsbescheid über die Zahlung von 150,- DM Busgestellungskosten, 21,00 DM MWST, insgesamt: 171,00 DM“

Am 21. Oktober und 16. Dezember 2000 kommt es zu Naziaufmärschen in Dortmund. Einem Aufruf folgend, demonstrieren viele Tausend Menschen dagegen. Hunderte Jugendliche werden bei den Protestaktionen von der Polizei eingekesselt und wegen ihres demokratischen Protestes kriminalisiert.

Parallel zur Polizei: Rechtslastiges in der Justiz

Ich habe bisher nur die Polizeiskandale behandelt. Auch die Dortmunder Justiz hat in der Geschichte der Auseinandersetzungen mit Nazis ihre Merkwürdigkeiten aufzuweisen. Nazis überfielen am 25. Mai 2014 das Rathaus, um den Kommunalwahlabend nach der Wahl zu stören. Demokraten stellten sich ihnen entgegen – und wurden dann als die eigentlichen Gesetzesbrecher mit Strafverfahren überzogen. (Urteile stehen noch aus.)

Bereits im Prozess gegen die Täter der Rombergpark- und Bittermarkmorde von 1945 wurde die zweideutige Rolle der Justiz deutlich. In der Urteilsbegründung des Schwurgerichts in Dortmund, die am Freitag, dem 4. April 1952, gegeben wurde, spiegelt sich das entschiedene Plädoyer des Staatsanwalts kaum wider. Im Urteil sind den Angeklagten viele „mildernde“ Umstände für ihren Massenmord zugute gehalten worden.Niemand wurde als Mörder verurteilt. Es gab nur Gefängnisstrafen bis zu 6 Jahren. Und die wurden nicht einmal voll abgesessen. Das höchste Strafmaß galt einem ehemaligen KZler, der wegen angeblicher Denunziationen der Opfer zu zehn Jahren verurteilt wurde, die er voll absaß.

Ein weiteres Beispiel: Im Arbeitserziehungslager Hunswinkel/Sauerland haben Gestapo-Leute am 4. Februar 1945 14 kriegsgefangene Russen erschossen. Die Russen wurden in eine Grube geführt und durch Genickschuss getötet. Das Schwurgericht sprach die Angeklagten frei, die zwar eine Beihilfe zum Mord begangen hätten, aber ihnen sei nicht nachzuweisen, „dass sie die Unrechtmäßigkeit auch voll erkannt hätten“.

Der Vorsitzende Richter in Dortmund, Landgerichtsdirektor Anton Rheinländer, schreibt am 25. Juni 1953 an die VVN Dortmund und droht ihr ein Strafverfahren an. Was war geschehen? Rheinländer war 1947 Mitbegründer der VVN Dortmund und führte nun politische Prozesse gegen VVN-Mitglieder, wogegen die VVN Dortmund protestiert hatte. Den Protestbrief, in dem Rheinländer mit antifaschistischen Äußerungen von früher konfrontiert wurde, empfindet er nun als beleidigend.

Keine kriminellen Vereinigungen auf der Rechten

Im Februar 1994 nahm die VVN-BdA Dortmund Stellung zu einem Prozess, in dem gegen Neonazis nach Paragraph 129 (Bildung einer kriminellen Vereinigung) verhandelt werden soll. Die Staatsanwaltschaft hatte den Prozess beantragt, der nur nach Intervention höherer Gerichte dann vor einem unwilligen Gericht in Dortmund verhandelt wird. Die VVN-BdA forderte die Durchführung des Prozesses. Erfolglos.

Eng verbunden mit den Naziskandalen um die Justiz von Dortmund ist der Fall Priebke. SS-Hauptsturmführer Erich Priebke war am 24.3.1944 in Rom beteiligt am Massaker an 335 Geiseln. 1946 floh er aus alliierter Haft, und zwar mit Hilfe des katholischen Bischofs Alois Hudal, nach Argentinien. Am 7.3.1998 wurde er in Rom zu lebenslanger Haft verurteilt, er war zurückgekehrt, weil er nicht wusste, dass seine Akte wieder aufgetaucht war. Diese hatte die VVN-BdA-NRW in einer umfangreichen Regierungsdokumentensammlung aufgefunden. In der „Westfälischen Rundschau“ berichteten wir, dass die für die Strafverfolgung Priebkes in den 60er Jahren verantwortliche Staatsanwaltschaft Dortmund bis in die 70er Jahre hinein von früheren Nationalsozialisten geleitet wurde. Das Verfahren gegen Priebke war 1971 eingestellt worden. Die Zeitung schrieb unter Berufung auf eine Antwort des früheren NRW-Justizministers Rolf Krumsiek (SPD) von 1995 auf eine Große Anfrage der Grünen-Landtagsfraktion, auch die Generalstaatsanwälte dieser Jahre in Hamm und Köln, bei denen die Dienstaufsicht über die beiden Zentralstellen lag, hätten vor 1945 sämtlich der NSDAP und anderer NS-Organisationen wie SA und Nationalsozialistischem Richterbund (NSRB) angehört (lt. TAZ 26. August 1996).

Im Dezember 2006: Ein dreiundeinhalbes Jahr zuvor gestellter Strafantrag der VVN-BdA gegen die Nazibands Oidoxie und Weiße Wölfe kommt nach Absprachen zwischen Nazianwälten und Gericht nicht zustande. Der Prozess droht zu platzen, nachdem der Innenminister einem V-Mann Aussageverbot erteilte. Das V-Mann-System zum Nutzen der Nazis!

Persönlichkeiten aus Kirchen und Gewerkschaften sind verbittert

Jutta Reiter (DGB) und Friedrich Stiller (Ev. Kirchenkreis) haben in einer Dokumentation über die Ereignisse des 25. Mai 2014 am Dortmunder Rathaus die höchst bedenkliche Entwicklung so bewertet:

„Dieser Vorgang macht deutlich, dass Provokationen der Nazis, Reaktionen der Bürgerschaft und das Verhalten der Polizei sowie die strafrechtliche Bewertung durch die Justiz nicht mehr zueinander passen. Die Wahlnacht wird aus der Distanz heraus zu einem besonders eindrucksvollen Beispiel dafür, dass eine politisch scheinbar neutrale Justiz den eigentlichen Punkt der Bedrohung gar nicht mehr versteht; dass eine politisch scheinbar neutrale Polizei – ob in gutem Glauben oder nicht – zu weltfremden Bewertungen auch konkreter Situationen kommt. (…) Das Ganze ist ein bedenklicher Vorgang. Zeigt er doch die Entfremdung, die seitens Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber den zivilgesellschaftlichen Akteuren eingetreten ist. Eine Entfremdung, die schwer wiegt. Denn die ‚Kunst‘ der Dortmunder Neonazis liegt genau darin, sich einerseits scheinbar regelkonform zu verhalten, andererseits immer deutlich zu machen, dass sie sich in direkter Linie mit dem NS-Staat sehen und immer wieder zur Gewaltanwendung bereit sind.“

Ein Grundsatzbeschluss, der nicht ernst genommen wird

Würde die Justiz den Grundsatzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen, dann dürfte es das Zusammenspiel der Behörden mit den Nazis nicht geben. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 4. November 2009 erklärt: „Angesichts des einzigartigen Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“, sind das Grundgesetz und die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland „geradezu als Gegenentwurf“ zum nationalsozialistischen Regime zu verstehen.“ „Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte.“ (Aus den Leitsätzen zum Beschluss des Ersten Senats vom 04.11.2009–1 BvR 2150/08).

Die Gegnerschaft zur Naziherrschaft ist demnach Verfassungsgebot und Staatsdoktrin. Die Gegnerschaft zum Nazismus wird von demselben Bundesverfassungsgericht jedoch immer wieder ausgeblendet, wenn es um die Bewilligung von Naziaufmärschen in den Städten unseres Landes geht. So kam es zur ausdrücklichen Genehmigung von Nazi-Propaganda, die seit dem Potsdamer Abkommen von 1945 völkerrechtlich verboten ist. Laut Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gilt ab März 2015 dies: „Auch das öffentliche Auftreten neonazistischer Gruppen und die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts in öffentlichen Versammlungen – ‚soweit sie die Strafbarkeitsschwelle nicht überschreiten‘ – sei durch die Versammlungsfreiheit geschützt.“ (zitiert nach dpa, Wortlaut des Gerichts unter Az. 14 L 474/15) Somit durften Dortmunds Neonazis den zehnten Jahrestag eines Nazimords an einen Punk öffentlich feiern.

Schon seit 1984 ist den Rassisten genehmigt, ihrer Ausländerfeindlichkeit freien Lauf zu lassen. Mir wurde auf meine Anzeige gegen die Neonazis Borchardt und Scholz vom 10. Mai 1988 von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass „die Parole ‚Ausländer raus‘ nicht den Tatbestand der Volksverhetzung“ erfüllt, „so dass trotz des ausländerfeindlichen Inhalts des Flugblattes eine Straftat nicht festgestellt werden kann.“ Dies hätte der Bundesgerichtshof am 14. 03. 1984 so entschieden.

Ungesühnte politische Morde

Solche Morde, wie den an dem Punk Thomas Schulz im März 2005, gab es mehrere Male in Dortmund.

Im Jahre 2000 erschoss ein Dortmunder Neonazi drei Polizistinnen und Polizisten und sich selbst. „Er war einer von uns“, schrieben Neonazis später in anonymen Flugblättern. Trotz dieses Bekenntnisses wurden die Morde des Berger nie zu Ende recherchiert. Der Mord an Thomas Schulz 2005 wurde zur unpolitischen Tat eines Einzeltäters erklärt. Dass dieser fest in der Naziszene verankert war, spielte keine Rolle.

Einer der NSU-Morde von 2006 stand offenbar mit der Dortmunder Szene im Zusammenhang, was nie aufgeklärt wurde.

Und was nun andernorts für Entsetzen sorgte, die bedrohlichen Aufmärsche vor Wohnhäusern ihrer Opfer, ist in Dortmund gang und gäbe. Fast täglich findet vor einer Flüchtlingsunterkunft derzeit ein Naziaufmarsch statt.

Lang ist es her, dass höchste Gerichte in NRW so entschieden: „Rechte Aufmärsche, die von einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, müssen nach Ansicht des Präsidenten des NRW-Oberverwaltungsgerichtes, Michael Bertrams, verboten werden. Eine rechtsextremistische Ideologie sei von Grundgesetz von vornherein ausgeschlossen und lasse sich auch mit Mitteln des Demonstrationsrechtes nicht legitimieren.“ (DPA am 26. März 2001

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"Vor der Borussenfront gab es die Nazis in den Ämtern", UZ vom 17. Juli 2015



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