Verfall der Zentralmacht liefert die Begründung für westliche Einmischung in Haiti

Vor einer neuen Militärinvasion?

Die Zerstörung der Ukraine, der Massenmord in Gaza, die Kriegsvorbereitung in Taiwan, all das reicht noch nicht, nun soll auch das arme Haiti mit einer Militärinvasion beglückt werden. Wieder einmal. Jedenfalls wenn es nach dem „Trio infernale“ der imperialistischen Haiti-Politik aus Kanada, USA und Frankreich geht. Haiti sei ein „gescheiterter Staat“, es herrsche „Anarchie“, das Land stehe „vor dem Zusammenbruch“. Das Einzige, was noch helfe, sei die berühmte „R2P“, die Responsibility to Protect“, oder auf Deutsch die „Verantwortung zum Schutz“. Diesmal der Haitianer.

Auch auf die Gefahr, Bekanntes zu wiederholen, lohnt ein Blick in die Geschichte. Als am 26. August 1789 die französische Nationalversammlung ihre berühmte „Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“ erließ, deren vielleicht bekanntester Artikel 1 lautet: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein“, dachten die Sklaven auf Saint-Domingue/Haiti, es gelte auch für sie. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellte.

Keine zwei Jahrzehnte später hatte sich der französische Menschenrechtsuniversalismus der Jakobiner in den militanten Expansionismus der Bonapartisten gewandelt: „Alle Menschen sind frei geboren“ – außer es sind Sklaven oder Schwarze.

Die im großen Stil aus Afrika verschleppten und versklavten Menschen, etwa 40.000 pro Jahr, organisierten ab 1790 unter der Führung von Haitis Nationalheld François-Dominique Toussaint Louverture einen erfolgreichen Aufstand gegen Haitis extrem brutale Sklaverei. Einige Kriege und Tausende von Toten später musste Frankreich den Verlust seiner profitabelsten Kolonie letztlich akzeptieren. Allerdings nicht ohne den Aufständischen 1825 die Zahlung von 150 Millionen Franc für das Land inklusive der Sklaven abzupressen. Die Forderung, später auf 90 Millionen Franc reduziert, bedeutete noch immer eine untragbare, verzinsliche Schuld von umgerechnet 32,6 Milliarden aktuellen US-Dollar. Frankreich legte damit die Blaupause für die globale neokoloniale Schuldknechtschaft der 1970er/80er Jahre vor. Haiti bezahlte weit über 100 Jahre. Das bedeutete dauerhafte Armut, Elend und Unterentwicklung. Bis heute.

1915 intervenierten die USA – auf Betreiben der New-Yorker National City Bank – militärisch in Haiti. Die US-Marines blieben bis 1934, schlugen die Aufstände der kämpferischen Haitianer nieder und machten aus der Insel eine US-Militärkolonie mit Kriegsrecht, Folter und brutaler Zwangsarbeit und aus seiner Wirtschaft einen Selbstbedienungsladen. Der höchstdekorierte Soldat der US-Militärgeschichte, Generalmajor Smedley Butler, hat 1935 die US-Kriege dieser Zeit, darunter auch die Haiti-Intervention, in seinem Essay „War is a Racket“ (Krieg ist eine Gaunerei) mit drastischen Worten beschrieben: „Ich verbrachte 33 Jahre und vier Monate im aktiven Militärdienst und während dieser Periode war ich den größten Teil meiner Zeit ein hochklassiger Muskelmann für Big Business, für Wall Street und die Banker. Kurz gesagt, ich war ein Halsabschneider, ein Gangster für den Kapitalismus …“ Die 20-jährige US-Herrschaft hinterließ politisches und ökonomisches Chaos und bescherte den Haitianern die 30-jährige Duvalier-Diktatur (1957 – 1986).

Im September 2004 hatte das oben erwähnte Trio infernale eine Regime-Change-Operation gegen Haitis gewählten Präsidenten organisiert, den aus dem imperialistischen Ruder gelaufenen katholischen Befreiungstheologen Jean-Bertrand Aristide. Die als UN-„Peacekeeping-Mission“ MINUSTAH getarnte Operation brachte, nachdem sie das Land mit der EU durch Sanktionen destabilisiert hatte, Haiti wieder unter direkte US-Kontrolle. Zu allem Überfluss wurde das geschundene Land 2010 und 2021 von starken Erdbeben (7,0 bzw. 7,2 Punkte auf der Richterskala) heimgesucht. Sie forderten etwa 300.000 Todesopfer und verwandelten die Hauptstadt Port-au-Prince in eine Trümmerlandschaft.

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Dank der permanenten Einmischung von Frankreich und USA verhungern auch heute noch Kinder in Haiti. (Foto: Prensa Latina)

Das neokoloniale Ausbeutungs- und Besatzungsregime raubte Haiti jede Möglichkeit, den gravierenden sozialökonomischen und politischen Herausforderungen, die noch dazu durch zwei Naturkatastrophen verschärft wurden, in adäquater Weise zu begegnen. Dem Zerfall der von Washington gesteuerten korrupten Zentralmacht folgte der Aufschwung des Bandenunwesens. Durchsetzt mit Paramilitärs wie den „Tonton Macoute“, dem Machtapparat der Duvaliers, ausgerüstet mit US-Kriegswaffen, plündern Gruppen wie die G9 und ein Dutzend weiterer nach Art von Warlords das, was noch an Werten im Land vorhanden ist.

Nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021 brach die Krise des Landes offen aus. Der Bandenkrieg beherrscht das Geschehen. Der derzeitig als Präsident fungierende und Ende Februar 2024 in Kenia um Hilfe ersuchende Ariel Henry wird an der Rückkehr in sein Land gehindert. Inzwischen hat er sich nach einem Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken zum Rücktritt bereiterklärt. Bewaffnete Gangs haben zwei Gefängnisse gestürmt und 4.700 Gefangene befreit. Die Gangs sollen nun den weitaus größten Teil der Hauptstadt kontrollieren. Der in der Tat dramatische Zerfall Haitis ist das Produkt der jahrhundertelangen Einmischung und Ausplünderung. Eine weitere Intervention würde das nicht bessern. Nicht Haiti ist gescheitert, gescheitert ist die imperiale Politik Frankreichs und der USA.

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"Vor einer neuen Militärinvasion?", UZ vom 22. März 2024



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