H24–24 Frauen, 24 Geschichten auf Arte

Wie ein ekelhafter Adventskalender

Um sieben Uhr morgens beginnt die erste Geschichte in einem Bus. Eine Frau, gespielt von Diane Kruger, kommt aus einem Club zurück und wird angemacht. Aufs Fieseste, und der Typ lässt nicht locker. Er wollte sie doch nur lecken. Ist ja fast so was wie ein Gefallen, oder? Um acht Uhr verliert eine Frau ihren Job, weil sie den Tag nicht in hohen Schuhen verbringen möchte, um 10 Uhr kommt eine Musikschülerin nicht über die Anmache des deutlich älteren Cellolehrers weg. Bei vielen der 24 Storys kommt unweigerlich der Gedanke auf: Ja, kennen wir. Sollten wir aber nicht kennen.

Teilweise sind die jeweils zwischen drei und fünf Minuten langen Folgen der Serie so erzählt, dass die Inszenierung der Geschichte dazu reizt, sich die bedauerlicherweise alltäglichen Situationen genauer anzuschauen: Diane Kruger spielt im Bus nicht nur das Opfer, sondern auch den Täter und wechselt höchstens kurz den Sitzplatz. Um die Erzählerin, die ihre Arbeit verlor, weil sie sich nicht Rücken und Füße ruinieren wollte, um einem männlichen Schönheitsideal zu entsprechen, stehen Frauen in verschiedenen Kleidungsstücken von Rock bis BH wie ein Ensemble aus Schaufensterpuppen. Und bei der Celloschülerin sitzt der Lehrer mit am Küchentisch, steht mit ihr im Bad und hängt ihr sogar wie ein Cellokasten auf dem Rücken. Als Nachhall seiner Tat bleibt er präsent, auch gerade wegen der Reaktionen, weil die Gewalterfahrung nicht physisch wurde: „Es ist Nichts. Sie sagen es, um mich zum Nichts zu machen. Alles Lügner.“ Die Protagonistin, die um 13 Uhr von einem Kerl im Auto verfolgt wird, der doch „nur ein Lächeln will“, und die versucht, das Jäger-Beute-Schema umzudrehen, fasst das Gefühl zusammen: „Du musst nicht angegrapscht werden, um dich angegrapscht zu fühlen.“

Neben der psychischen sexualisierten Gewalt geht es in „H24“ auch um die physische. So erzählt eine Frau vom Räumungsbescheid für ihre Wohnung, den sie wegen zu viel Lärm bekommen hat. Gegen den Lärm haben die Nachbarinnen und Nachbarn etwas unternommen, gegen die Schläge, die hinter dem Lärm stecken, nicht. Auch bei der physischen Gewalt bleibt „H24“ bei eindringlichen Bildern, die nicht das tatsächliche Geschehen zeigen. Aber wenn eine Köchin davon erzählt, was ihr mit Hilfe einer Daterape-Droge angetan wurde und sie ihre Hand immer wieder in einen Tintenfisch zwängt, um ihn auszunehmen, und dabei immer wieder die Worte „Er hat meinen Körper benutzt“ wiederholt, ist das kaum zu ertragen. Die Frau, die allein in einer Disco tanzend davon berichtet, wie sie von ihrem Partner bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, kann im entscheidenden Moment nicht mehr schreien und stellt fest: „Der Schrei hat ein Jahr gedauert. Niemand hat ihn gehört.“

„H24“ erzählt von den vielen Formen sexualisierter Demütigung und Gewalt, die Frauen in ihrem Leben erfahren. Die einen sehr wahrscheinlich, einige nur im Extremfall. Dabei machen die Macherinnen der Serie einen Fehler: Sie blenden den gesellschaftlichen Aspekt an den falschen Stellen aus. Wenn zum Beispiel die Mitarbeiterin einer Fast-food-Kette nach draußen rennt, um einen Mann zu konfrontieren, der gerade seine Frau verprügelt hat, kommt sie zu dem Schluss, dass Frauen sich gemeinsam wehren müssen: „Wenn eine Frau schreit, geht es darum, unsere Spezies zu retten, Transgender oder Cis.“ Dabei wird nicht nur die gesamtgesellschaftliche Solidarität gegen Unterdrückung von Frauen nicht einmal in den Blick genommen, geschweige denn eingefordert, sondern der Mann an und für sich direkt mal zu einer anderen Spezies erklärt. Sind ja eh alle gleich und potentielle Vergewaltiger.

Und davon, dass es neben Mut auch Frauenhäuser, bezahlbare Wohnungen und ein Gehalt braucht, von dem man leben kann, um sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen, weiß die Serie leider nichts.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Wie ein ekelhafter Adventskalender", UZ vom 17. Dezember 2021



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