Dietmar Dath gelingt es auf 100 Seiten, mit Marx den historischen Materialismus darzustellen

Wut, Utopie und Wissenschaft

Von Lucas Zeise

Dietmar Dath: Karl Marx. 100 Seiten, Reclam-Verlag, Ditzingen, 2018, 100 S., 10, – Euro

Dietmar Dath, FAZ-Redakteur, produktiver Buchautor und Kommunist ohne Parteibuch, hat aus Anlass des 200. Geburtstags von Karl Marx eine Einführung in sein Werk und in den Marxismus geschrieben. Diese Einführung ist rundum gelungen. Sie ist leicht lesbar. Vor allem aber, sie setzt die Akzente richtig. Das Wort „Einführung“ klingt dabei ein wenig zu betulich. Dath selber betitelt das Büchlein „Karl Marx. 100 Seiten“, was mit dem Punkt in der Mitte ein wenig affig und PR-mäßig wirkt. Aber das, was gemeint ist, nämlich „Marx in 100 Seiten“, klänge dann genauso überheblich und oberflächlich wie „Europa in einer Woche“. Dennoch ist genau diese rasante Art, die Kerngedanken des Marxismus verständlich zu machen, der Zweck des Buches. Der Zweck wird erreicht, weil Dath sich auf die wesentlichen Gedanken konzentriert, die im Grunde einfach und deshalb einfach zu verstehen sind.

Dath präsentiert Marx in vier Kapiteln. Das erste handelt von der Motivation, sich wissenschaftlich mit der Welt, hier speziell der Gesellschaft der Menschen, zu befassen. Es heißt demzufolge „Von der Wut zum Wissen“. Dath schildert eigene Erkenntnisschritte, die er als Schüler gegangen ist, um sich gegen die Unterdrückungsmaßnahmen der Lehrer zu wehren. Die generelle Weisheit, dass man nämlich, um etwas bekämpfen zu können, dieses Etwas zuerst verstehen muss, ist Thema dieses Kapitels. Es endet mit einer Passage aus dem „Kommunistischen Manifest“, in der Friedrich Engels und sein Freund Karl Marx über den Kapitalismus und die Bourgeoisie mit größter Hochachtung schreiben. Sie und überhaupt das Manifest sind Ausdruck „kalter Wut“, wie Dath das nennt. Sie als solche verständlich zu machen sei „der Zweck dieses Büchleins“, schreibt er zum Schluss dieses Kapitels.

Das zweite Kapitel „Von den Ideen zur Praxis“ ist der Höhepunkt des kleinen Werkes. Hier berichtet Dath von der Entstehung des „historischen Materialismus“ aus der Aufklärung, dem deutschen Idealismus, insbesondere Hegel, der Religionskritik Feuerbachs, den politischen Vorstellungen der Bourgeoisie in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten vom Gesellschaftsvertrag sowie den amerikanischen Pragmatisten. Mit Letzteren teilen Marx und Engels die erkenntnistheoretische Auffassung, dass das Wahrheitskriterium die Praxis ist. Der Mensch erkennt die Welt als handelnder Mensch und insbesondere begreift er als Handelnder ihren Charakter, weil und wenn sie ihm Widerstand entgegensetzt. Im Gegensatz zu den Pragmatisten und Ludwig Feuerbach, ist diese Praxis nicht die des Menschen schlechthin und damit des Individuums, sondern es geht hier um die Praxis der Gesellschaft. Das Gattungswesen Mensch ist „eben nicht natürlich, sondern muss erst hergestellt werden“, schreibt Dath. (S. 53) Diese Herstellung geschieht durch die gesellschaftliche Arbeit, die die Reproduktion der Gesellschaft sichert, und zugleich in der Art ihrer Organisation „das ‚ensemble‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse“ darstellt. Der historische Materialismus begreift damit die Entstehung der Klassen, den Charakter der menschlichen Geschichte als Kampf der Klassen und – das ist die besondere Stärke von Daths Darstellung – er begreift die ärgerliche Tatsache, dass mit guten Argumenten allein die Gesellschaft nicht zu verändern ist. Dath schließt das Kapitel mit einem langen Zitat aus „Die deutsche Ideologie“, die Marx und Engels 1845/46 geschrieben haben, aber damals nicht veröffentlichen konnten. In diesem Text wird auch formuliert, dass der Kapitalismus die materielle Voraussetzung zur Fortentwicklung zum Kommunismus liefert.

„Vom Kapitalismus zum Kommunismus“ ist der Titel des dritten Kapitels, das sich mit den Produktionsweisen befasst und sich vor allem Marx‘ nicht vollendetem politökonomischen Hauptwerk „Das Kapital“ und seiner Darstellung der Wirkungsweise des Kapitalismus widmet. Auch hier gelingt es Dath, wichtige Eckpunkte darzustellen. Zunächst allerdings schildert er, warum und wie John Locke (1632–1704) das Grundrecht des Eigentums begründet und wie die Politische Ökonomie als eigene Wissenschaft ihren Anfang nahm. Von dort hat Marx die Arbeitswertlehre übernommen. Die Entdeckung des Mehrwerts ist seine besondere Leistung.

Das letzte Kapitel „Von der Vorgeschichte zur Nachwelt“ ist ein wenig kurz geraten. Dath bietet darin keine These an, warum der Sozialismus in der Sowjetunion und im übrigen Osteuropa wieder verloren wurde. Georg Fülberth folgend kommentiert er den heute verbreiteten Glauben, der Verlust sei endgültig, mit der Bemerkung, das sei so, „als habe es in der Geschichte noch nie eine soziale Umwälzung gegeben, die mehrere Anläufe gebraucht hat, um sich Geltung zu verschaffen“. Kurz vor Schluss merkt Dath sarkastisch an, dass die Parole „Eine andere Welt ist möglich!“ darauf hindeuten könnte, dass der von Marx gewiesene Weg von der Utopie zur Wissenschaft auch umkehrbar sein könnte. Das ist er sicher nicht.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Wut, Utopie und Wissenschaft", UZ vom 13. April 2018



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