Das Prinzip der Abschreckung empfiehlt, Russlands Hinweise zum Atomwaffengebrauch ernst zu nehmen

Миротворец

Kolumne

US-amerikanische Interkontinentalraketen trugen bis vor ein paar Jahren den Namen „Peacekeeper“ (dt: Friedenswächter). Man muss nicht sonderlich feinfühlig sein, um zu ahnen, dass westliche Medien den Namen „миротворец“ (sprich: „mirotworjez“) für eine russische Bombe als blanken Zynismus werten würden. Geschenkt – es zynisch zu finden, Massenvernichtungswaffen friedenserhaltend zu nennen, muss man aus pazifistischer und kann man aus humanistischer Haltung heraus auch für russische Atombomben gelten lassen. Verständlich ist das schon deshalb, weil der Menschheit seit der Aufklärung, die sich vor zweihundertfünfzig Jahren neben der Verbreitung der Vernunft auch den Friedensgedanken als menschheitsgrundlegend zum Ziel gesetzt hatte, andere Mittel zur Verfügung stehen: Dialog und die Bereitschaft, sich in Motive des Gegenübers hineinzuversetzen – auch Diplomatie genannt.

Aber der Sieg der Aufklärung gegen den Feudalismus verhinderte nicht den Siegeszug des Kapitalismus und mit diesem des Imperialismus, dessen Wesen und Lebensbedingung die räuberische Einverleibung fremder Ressourcen ist. Und weil es die Vernunft ist, die gebietet, dem ein Ende zu setzen, ist die imperialistische Kriegsmaschinerie auch ein Krieg gegen die Vernunft. Das Menschenrecht auf friedliches Zusammenleben der Völker gab der So-wjetunion das Recht, sich gegen die von US-Militärs in den 50er Jahren gegen sie erwogene totale atomare Vernichtung mit dem Aufbau eines Atomwaffenarsenals zu wehren. Genau hier verläuft die hauchfeine Übergangszone von (friedliebender) Vernunft zu (friedenserhaltender) Rationalität. Solcherart Friedenserhalt muss man nicht mögen, und sich damit zufrieden zu geben ist keine Option. Aber gibt es Alternativen, solange privates Kapital am Ruder ist?

Der Erste Weltkrieg, der Kolonialismus, der Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, Hiroshima, Korea und etwas später Vietnam haben den Charakter imperialistischer Machtausübung verdeutlicht; allein auf das unbeteiligte und wehrlose Laos fielen mit drei Millionen Tonnen mehr Bomben als auf Deutschland und Japan während des Zweiten Weltkriegs – nur weil durch das Land der Ho-Chi-Minh-Pfad verlief. Erinnert sei daran, dass Staaten wie Libyen oder der Irak von NATO-Staaten nicht etwa überfallen wurden, weil sie Massenvernichtungswaffen gehabt hätten, sondern weil sie keine (mehr) hatten. Was denen passieren kann, die nicht über ernste Abschreckungspotentiale verfügen, hat sich in der Welt herumgesprochen.

Wenn in freier Interpretation von Aussagen Emmanuel Macrons auf der Münchner Sicherheitskonferenz der „FAZ“-Herausgeber Berthold Kohler darauf drängt, Deutschland solle sich unter Frankreichs Atomschirm stellen (gemeint ist der seit Jahren von Kohler ersehnte eigene Atomwaffenbesitz der Bundeswehr), dann geht es dabei allerdings nicht um verteidigende, friedenserhaltende Abschreckung, sondern um Deutschlands Zugriff auf die Bombe. Denn mit Atomwaffen bestehen andere Optionen der Erpressung unbotmäßiger Staaten – ganz abgesehen von der feinen Möglichkeit der Weiterverbreitung, um neue Konfliktherde zu schaffen. Die Idee, dass Atomwaffen friedenserhaltend sein können, basierte im Gegenteil allein auf der Abschreckung vor dem Imperialismus. Dieser hat immer zu einem Gleichgewicht des Schreckens genötigt, weil er mit atomarer Vernichtung droht und deshalb den Abschaffungsauftrag in Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags kaltschnäuzig ignoriert.

Weder die UdSSR noch die VR China haben je Atomwaffen weitergegeben – wie es mit Israel und Südafrika geschah – noch haben sie wie die USA je ein Erstschlagsszenario beschlossen. Als das mit Ruinierung und Zerstückelung drohende Bündnis vom Kriegsgegner Russland zu erwarten, es würde seine Atomwaffen auch unter Preisgabe seiner staatlichen Integrität nicht einsetzen, heißt mit der Menschheit noch zynischer umzugehen als seine Waffen „Friedenswächter“ zu nennen.

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"Миротворец", UZ vom 24. Februar 2023



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