Von Autoschraubern und tollen Worten

10 Millimeter

Ich kaufe neue Allwetterreifen, Schluss mit dem Wechselunsinn. Schnee ist heutzutage eh Schnee von gestern. Jedenfalls bringe ich die meiner Werkstatt mit einer Woche Vorlauf, die Mäntel sollen auf die Sommerfelgen und alles später an meinen Porsche für Arme. Komme nach einer Woche zur Werkstatt – nichts ist passiert. Warum? „Die Reifen sind 175er, die Felgen 185er“. Aha. „Aber in den Papieren stand doch 175er?“. „Joa, aber die Felgen sind 185er“. „Und jetzt?“ „Fehlen halt 10 Millimeter.“ Aha. „Und macht das was?“ „Nö.“ Aha. Schweigen. Alles raucht, niemand bewegt sich. Schrauberhumor eben. Ich fange noch einmal an: „Also, kann mir jetzt was passieren auf der Autobahn? Fallen die Reifen ab oder eher nicht?“ „Also … eher nicht.“ Puh. Ich gebe auf und den Auftrag frei. Wenn dies also meine letzte Kolumne sein sollte: Fehlten halt … 10 Millimeter.

Schönes Wort gelesen: „Topflappigkeit“. Was fang ich damit jetzt an? Ich pack es erst einmal in meinen Ordner der prima Wörter: Einfaltspinsel, hanebüchen, Totalteutone, Kummerspeck, Religiot, Schnapsdrossel, Dämmerungsfalter, grimmbebend, revolutionsrelevant, klötenlahm, absichtliches Versehen, Doppelhaushälfte, Bagatellgastronomie, Fußpilzsammler, linksversiffter Gutmensch, Minuswachstum, Trinkgeldfälscher, Gondelkopfplatzierung, Leibesertüchtigung, mutterseelenalleinerziehend … Hach. Und eines Tages erbt das alles meine Tochter. Toll.

Abends im „missing link“ verliere ich glatt mit 1:5 im Billard. Gartenbro A. spielt eher schlecht, trifft aber ab und zu die Kugeln und locht reihenhausweise (ha, in den Ordner damit!) ein. Ich brauche schon lange eine neue Brille; Kugeln, die sich weiter als ein Meter fünfzig befinden, liegen im Nebel des Grauens. Immer knapp vorbei ist eben auch daneben. Meistens so circa: 10 Millimeter.

Nachrichten: Polizisten verschicken Morddrohungen und versehen sie mit „NSU 2.0“. Philipp Amthor, der pickelige CDU-Junge mit den Kuhaugen, will nach seiner aufgeflogenen Lobbyarbeit „gewohnt leidenschaftlich“ weitermachen. Karl-Theodor zu Guttenberg beriet Wirecard, um „die Möglichkeiten wohlwollender Begleitung … zu eruieren“. Toll. Als durch den Corona-Ausbruch die Aktienkurse einbrechen, schlagen superreiche Kunden der Großbank UBS zu, sie kaufen Aktien. Aus 50 Millionen wird so schnell eine Milliarde. In Dortmund leben 30 Prozent aller Kinder unter der Hartz-IV-Fuchtel. In ganz Deutschland sind es 4,4 Millionen. Fleischfabrikant Tönnies lässt wieder schlachten. Und will die Lohnkosten während der Corona-Quarantäne vom Staat erstattet bekommen. Ich bin kurz davor, bei all diesen „Nachrichten“ laut, sehr laut zu schreien. Fehlen echt nur noch sehr viel weniger als: 10 Millimeter.

Ab Dienstag liege ich dann – so ich lebend mit den neuen Reifen ankomme – an der Spree und schaue den ganzen Tag dem Gras beim Wachsen zu. Konsumiere vielleicht ein kleines Berliner Kindl und in meinem Kopf ist keine Arbeit und kein Problem, kein Corona und kein nationalstolzer Facebook-Kommentar. Nur diese einzige Frage: Wie hoch wächst wohl so Gras an einem Tag? Vielleicht so … 10 Millimeter?

PS: Eine UZ-Abonnentin beschenkte mich mit dem Wortschatz „leseminutenlang kichern“. Toll. zack, einkassiert und in den Ordner. Viel fehlt nicht, dann ist er voll. Nur noch ungefähr 10 …

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"10 Millimeter", UZ vom 24. Juli 2020



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