Beschäftigte der Berliner AWO verdienen deutlich weniger als ihre Kollegen im öffentlichen Dienst. Mit einem achttägigen Warnstreik kämpfen sie um finanzielle Anerkennung

102 Jahre Ungleichheit

Rund 2.000 Beschäftigte der Arbeiterwohlfahrt Berlin streiken seit Mittwoch, 10. November, für angemessene Bezahlung. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) fordert, die Gehälter für Angestellte der Bildungseinrichtungen und Kindertagesstätten schrittweise auf das Niveau des Tarifvertrags der Länder (TV-L) anzuheben. Die Berliner AWO zahlt ihren Erziehern monatlich 150 bis 400 Euro weniger als im öffentlichen Dienst üblich. In manchen Berufsgruppen liegt die Differenz zum TV-L gar bei bis zu 700 Euro. Der Warnstreik soll bis Freitag, 19. November, laufen, wird aber für Nachtdienste sowie am Wochenende ausgesetzt.

„Die zwei Warnstreiktage im August und die vier Streiktage im September haben anscheinend noch nicht ausgereicht, um unsere Forderung deutlich genug zu machen“, begründet ver.di die verdoppelten Streiktage im aktuellen Streikaufruf. Das letzte Angebot der AWO bedeute angesichts der aktuellen Inflationsrate einen Reallohnverlust, schreibt der Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen von ver.di Berlin in einem Flugblatt. Aktuell belaste hohe Fluktuation in den Teams die Beschäftigten. Viele offene Stellen könnten nicht besetzt werden. Interessenten sagten der niedrigen Bezahlung wegen ab. Die Streikbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen sei deshalb unvermindert hoch.

Bei einer Streikaktion vor dem Rathaus Spandau am 15. November übermittelte Dennis Simon die Solidarität der DKP Berlin. Er erinnerte daran, dass die AWO sich in ihrem Leitbild zu Werten wie Solidarität, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit bekenne. „Wie gerecht ist es, dass bei der AWO in Berlin für dieselbe Arbeit zwischen sieben und zehn Prozent weniger (…) gezahlt wird im Vergleich zum öffentlichen Dienst?“

Dass die Beschäftigten der AWO 102 Jahre nach deren Gründung immer noch weniger als 90 Prozent des TV-L verdienten, sei ein Trauerspiel, attestiert ver.di in einem Flugblatt.

Manche Eltern hatten am Nachmittag des 4. Novembers vor der Kindertagesstätte Löwenzahn in Kreuzberg für eine schnelle Beendigung des Arbeitskampfes demonstriert. „Die Verhandlungen werden auf unseren Schultern ausgetragen – und zwar von allen Seiten“, zitierte der „Tagesspiegel“ eine betroffene Mutter. Natürlich sei es für Eltern schmerzhaft, wenn die Kita ihrer Kinder nur eine Notbetreuung anbiete oder schließen müsse, räumte Dennis Simon in seiner Rede ein. Das dürfe aber nicht als Argument gegen Streiks instrumentalisiert werden. „Für abhängig Beschäftigte ist ein Streik oft die einzige Möglichkeit, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.“ Nun müsse die AWO-Geschäftsführung den Beschäftigten ein faires und vernünftiges Angebot machen. „Es liegt selbstverständlich auch im Interesse der Eltern, dass die Betreuerinnen und Betreuer ihrer Kinder gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne haben.“

Die Geschäftsführung der AWO behauptet, nicht genügend Geld vom Berliner Senat zu bekommen, um ihre Beschäftigten nach TV-L bezahlen zu können. Die zuständige Landesfachbereichsleiterin und Verhandlungsführerin von ver.di, Meike Jäger, kritisiert diese Erklärung. „Es ist nicht unser Job, das Geld zu besorgen, das ist der Job des Arbeitgebers. Wenn das Land Berlin nicht genügend Geld zur Verfügung stellt, muss eben mehr gefordert werden. Wo ist denn der Punkt, an dem Arbeitgeber aufhören, Forderungen zu stellen?“ sagte sie der „taz“. Dennis Simon kritisierte, der rot-rot-grüne Senat Berlins schreibe sich zwar soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen, betreibe aber eine Politik gegen die Interessen Beschäftigter und „sozial Schwacher“.

Konkret fordert ver.di von der Berliner AWO, das Entgelt in zwei Schritten auf das jeweils aktuelle Niveau des TV-L anzuheben. Ab dem 1. Januar 2021 sollen 98 Prozent, ab dem 1. Januar 2022 dann 100 Prozent des TV-L bezahlt werden. Auch Zulagen sollen analog zum TV-L bezahlt werden. Der Nachtzuschlag soll auf 20 Prozent angehoben werden. Die Gewerkschaft kritisiert, dass die AWO zwar politisch fordere, sachgrundlose Befristungen von Arbeitsverträgen zu verbieten, sich selbst aber weigere, mit gutem Beispiel voranzugehen.

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"102 Jahre Ungleichheit", UZ vom 19. November 2021



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