Die Koalitionsvorhaben zum „Arbeitsmarkt“

Bastelei am Unheilbaren

Von Manfred Sohn

Der DGB und mit ihm eine Reihe von Gewerkschaftsfunktionären haben sich nach Abschluss des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD unterm Strich positiv zu seinen Inhalten geäußert. Dies wird vor allem mit Blick auf diejenigen Passagen begründet, die im Kapitel V.1. dieses Vertrages unter den für Gewerkschaftsohren vertrauten Titel „Gute Arbeit“ gestellt worden sind.

Das zentrale Wort dieses Kapitels ist „Arbeitsmarkt“ – es taucht in verschiedenen Kombinationen rund zehnmal auf. „Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt“ sollten eröffnet werden, durch „Qualifizierung“ solle die „Reintegration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt vorangetrieben“ werden, die „Arbeitsmarktinstrumente“ sollen „stärker auf die digitale Weiterbildung“ ausgerichtet werden – es klingt auf den ersten Blick wie eine Aufzählung von Maßnahmen zur sozialeren Ausgestaltung des Arbeitsmarktes.

Gönnen wir uns einen zweiten und dritten Blick.

Auf den zweiten Blick fällt eine interessante Formulierung auf. Unterschieden wird in diesem Papier zwischen dem „ersten Arbeitsmarkt“ und dem „sozialen Arbeitsmarkt“. Das sollte wohl vermeiden, dass der sonst als „zweiter Arbeitsmarkt“ beschriebene Sektor herabgesetzt wird. Die Wort-akrobaten von Berlin haben damit immerhin eines bewirkt: Sie haben vor aller Welt klargestellt, dass der „erste“, also ursprüngliche, das ganze System fundamentierende Arbeitsmarkt kein sozialer ist – sonst ergäbe diese semantische Gegenüberstellung von „erster“ und „sozialer“ überhaupt keinen Sinn. Der sogenannte erste Arbeitsmarkt, auf dem die meisten von uns unsere Arbeitskraft verkaufen, ist also, bescheinigt uns die Regierung, ein asozialer oder mindestens nicht-sozialer.

Gönnen sollten sich Marxisten aber im 200. Geburtsjahr des großen Meisters auch einen dritten Blick – nämlich den auf den Begriff „Arbeitsmarkt“ überhaupt. Er unterstellt – ähnlich übrigens wie die absurde Bezeichnung derer, die Arbeit geben, als „Arbeitnehmer“ und derer, die Arbeit gegen Lohn entgegennehmen, als „Arbeitgeber“ – eine Absurdität als Normalität. Denn einen „Markt“, auf dem vom Menschen hergestellte oder für den Verkauf zugerichtete Dinge entsprechend den Regeln von Angebot und Nachfrage ihren Besitzer wechseln, kann es für die Ware Arbeitskraft der Natur der Sache nach nicht geben. Auf kapitalistischen Märkten werden unverkäufliche Waren auf Halde gelagert oder vernichtet – aber unverkäufliche Ware Arbeitskraft kann nicht „gelagert“ werden, ohne dass die dazugehörigen Menschen weiter existieren und konsumieren, wie der 2012 verstorbene Robert Kurz in seinem „Schwarzbuch Kapitalismus“ schon 2009 anmerkte, um dann sarkastisch hinzuzufügen: „Sie können nicht ‚abgestellt‘ (etwa in eine Nährflüssigkeit gelegt oder tiefgefroren) werden und in Kartons auf Regalen ihrer Verkäuflichkeit harren, sondern müssen weiterleben.“ Letztlich würde „das freie Wirken der Marktgesetze den sozialen Zusammenbruch der Gesellschaft herbeiführen“. Seitdem Margret Thatcher und Ronald Reagan – und in Deutschland etwas später Helmut Kohl – die Lehren von Milton Friedman und anderen in die politische Praxis umgesetzt und den Gewerkschaften als organisierte Gegenmacht gegen die völlig Vermarktwirtschaftlichung der Ware Arbeitskraft den Kampf angesagt haben, sind die kapitalistischen Gesellschaften auf dem Weg in diese 2009 angekündigte soziale Auflösung einen erheblichen Schritt vorangekommen: Das Reallohnniveau großer Teile der lohnabhängig Beschäftigten ist sowohl in den USA als auch Großbritannien und Deutschland gesunken, die soziale Zerklüftung hat zugenommen, der Zugang zum sogenannte „ersten“ Arbeitsmarkt sieht immer deutlicher aus wie ein Joch, unter das sich junge Menschen beugen müssen, um in ihn hineinzugelangen: Lass‘ fahren hin den Anspruch auf unbefristete Beschäftigung, lass‘ fahren hin die Sicherheit eines geregelten Einkommens, lass‘ fahren hin die Zusicherung, wenigstens in der Zeit nach Verlassen des Fabrik- oder Bürotores Herr oder Frau deiner selbst zu sein – beuge dich tief, um ins gelobte Land des „ersten“ Arbeitsmarktes zu gelangen wie jede andere Ware, die das Ziel hat, für die Mehrung des Profits verwertet zu werden!

Der Koalitionsvertrag reiht eine Reihe von hilflosen Maßnahmen aneinander, um dieses Grunddilemma, diese Absurdität kapitalistischer Märkte zu heilen: „Lebensbegleitendes Lernen“ wird dort gefordert, die Weiterbildung solle sich an den „regionalen Arbeitsmärkten“ orientieren – und auf alle Arbeitslosen werden Schwemmen von PC- und sonstigen Digitalisierungszurichtungen einstürmen. Nützen wird das alles wenig, weil die Grundtendenz der Ersetzung lebendiger Arbeitskraft durch tote dem Kapitalismus eigen ist und er weltweit immer mehr Menschen für die Selbstverwertung des Werts überflüssig macht, also immer mehr und (mit Blick auf das Mittelmeer oder den Norden Mexikos) deutlicher Menschen zu unverwertbarem Humanmüll werden lässt, die behandelt werden wie unverkäufliche Tomaten.

Innerhalb dieses Lohnsystems gibt es daraus dauerhaft keinen Ausweg – Koalitionsvertrag hin oder her. Immer deutlicher schält sich so heraus, wie sehr Marx Recht hatte mit seinem in der kleinen Schrift „Lohn, Preis, Profit“ geäußerten Gedanken, nicht „ein gerechter Lohn“ sei die zielführende Forderung der Gewerkschaften, sondern sie sollten „auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ‚ Nieder mit dem Lohnsystem!‘“

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"Bastelei am Unheilbaren", UZ vom 18. Mai 2018



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